H. Wolter: "Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd"

Cover
Titel
"Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd". Die Geschichte des Tourismus in der DDR


Autor(en)
Wolter, Heike
Reihe
Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung des Deutschen Museums 10
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
547 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Andrea Müller, Centre for Tourism and Cultural Change, Leeds Metropolitan University Email:

Heike Wolter legt mir ihrer Dissertation zum Tourismus in der DDR die erste ausführliche wissenschaftliche Arbeit zu einem Gebiet vor, über das bisher nur kleinere Aufsätze informierten. Die Bedeutung des Themas für die DDR-Geschichte hebt Wolter in der Ausgangsfrage hervor, die gleichzeitig Ihre Hauptthese ist: Sie befasst sich mit der politischen Sprengkraft, die die „heimlichen Geografien der Eingesperrten“, also der (potenziellen) ostdeutschen Touristen entfalteten, und argumentiert, dass das zur Systemstabilisierung erdachte Reiseverbot schließlich zum politischen Kollaps der DDR beitrug. Entsprechend beschäftigt sie die Frage, wie Tourismus „ein wichtiger Legitimitätsfaktor des politischen und der Kohäsion des sozialen Systems werden“ konnte (S. 15).

Es geht Wolter also um die politischen und gesellschaftlichen Funktionen, die der Fremdenverkehr in der DDR erfüllte. Sie nähert sich dieser Frage zunächst mit einer Analyse der Möglichkeiten, als ostdeutscher Bürger in den Urlaub zu fahren. Eine besondere Rolle spielt dabei die staatliche Organisation und Reglementierung von Urlaub. Wolter widmet sich nacheinander Reiseformen, Reisezielen, Reiseveranstaltern und Reiseverkehrsmitteln, also den Strukturen, die Urlaube von DDR-Bürgern bestimmten. Die Form der Darstellung wirkt stellenweise enzyklopädisch, was aber keinesfalls ihren inhaltlichen Wert verringert. Die breite Quellenbasis der Studie hebt Wolter zurecht in einem Übergangskapitel hervor, das zu weiterer Forschung ermutigt. Dazu kann auch die Vorstellung von DDR-Medien anregen, in denen Tourismus thematisiert wurde. Diese reichen von wissenschaftlichen Studien der Bedarfsforschung über Literatur und bildende Kunst bis hin zu privaten Tagebüchern; Wolter analysiert diese unterschiedlichen Medien an dieser Stelle jedoch nicht selbst.

In einem zweiten Teil der Arbeit stellt Wolter dann Theorien aus der DDR- und der Tourismusforschung vor und klopft die vorhandenen Modelle auf ihre Brauchbarkeit ab. Hier bietet sie dem Leser interessante Ansätze an, die sie selbst allerdings nur teilweise durchdenkt. Einen produktiven Analyseansatz findet sie zum Beispiel in der Totalitarismustheorie, unterstreicht aber die Macht der Bürger als Konsumenten, die „dem Staat immer wieder Zugeständnisse abgerungen“ haben (S. 402). Hier wird im Kontext von Tourismus eine Entwicklung der DDR-Bürger hin zu Konsumenten angedeutet; diese wichen auf „individuelle ‚Überlebensstrategien‘ aus, die kaum gesellschaftlich produktives Potenzial bilden konnten“ (ebd.). Diese Idee ist es wert, weiter verfolgt zu werden. Nach weiteren Angeboten aus unterschiedlichsten Theorien zu Modernisierung, Herrschaft und Tourismus mündet dieses Kapitel in Überlegungen zu einer Theorie des Reisens von DDR-Bürgern, die zusammenfasst, dass keines der vorhandenen Modelle in der Lage ist, Tourismus in der DDR zur Gänze zu erklären.

Auch wenn einzelne Analysemöglichkeiten nur angedeutet sind, nimmt die Arbeit wichtige Debatten zur DDR-Geschichte auf. So problematisiert die Einleitung die Tendenz der DDR-Geschichtsschreibung, teleologisch auf die „Wende“ von 1989 hin zu argumentieren. Wolters eigene Vermischung von These und Forschungsfrage weist dann jedoch eine ähnliche Tendenz auf: Die Frage nach den Ursachen der politischen Sprengkraft des touristischen Reisens enthält die Annahme, dass schon der Wunsch in den Urlaub zu fahren eben dieses Potenzial enthielt. Es gelingt jedoch nicht, diese These überzeugend zu belegen. Eher implizit setzt Wolter die spezielle Art des touristischen Reisens mit dem Wunsch nach allgemeiner Reisefreiheit gleich. Während die Forschungsfrage sich mit Tourismus beschäftigt, bezieht sich zum Beispiel der Titel „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“ auf ein Gedicht. In diesem Gedicht geht es darum, Grenzen zu überschreiten, aber nicht zwangsläufig um Tourismus. In einem späteren Kapitel bezieht Wolter ohne weitere Erklärung Ausreiseanträge in ihre Darstellung ein (S. 382f.). Diese potenzielle Beziehung zwischen einem Recht auf Reisen und einem Recht auf Tourismus in der Wahrnehmung verschiedener Akteure scheint es wert, weiter ausgelotet zu werden. Eine nähere Beschäftigung damit würde weitere Einsichten in die politische Bedeutung von Tourismus in der DDR – auch im Hinblick auf deren Ende – liefern: War es nur das Recht auf Reisen, für das DDR-Bürger 1989 protestierten, oder auch das Recht auf Urlaubsreisen?

Insgesamt ist „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“ reich an Informationen über den Tourismus in der DDR und bietet vor allem durch die besondere Betonung der Quellenlage eine solide Grundlage für weitere Forschung. An mancher Stelle wäre der Autorin mehr Mut zu wünschen gewesen, Details wegzulassen und stattdessen Überlegungen auszuführen. Gern hätte ich etwa mehr zum Verhältnis von Totalitarismustheorien und Tourismus gelesen oder eben zum Verhältnis von Recht auf Reisen und Recht auf Urlaub. Solche Vertiefungen hätten dazu beigetragen, einzelne Argumente überzeugender zu präsentieren.

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