R. Köster u.a. (Hrsg.): Das Ideal des schönen Lebens im George-Kreis

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Titel
Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis


Herausgeber
Köster, Roman u.a.
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
XL, 244 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Pohle, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Krise hat immer noch Konjunktur – zumindest soweit dies die Forschung zur Weimarer Republik betrifft. Denn trotz der unlängst vorgebrachten Kritik am allgegenwärtigen Krisennarrativ 1 waren die Desintegrationstendenzen nach Krieg und geistiger wie politischer Revolution in allen gesellschaftlichen Bereichen Weimars doch zu massiv und die intellektuellen und politischen Integrationsangebote wiederum zu vielfältig, als dass daran – gerade in der neuerlichen Krise – vorbeizukommen wäre. Vor diesem Hintergrund, allerdings noch ein Jahr vor der Pleite von Lehmann Brothers, fand 2007 eine Konferenz statt, die nach der spezifischen Antwort des George-Kreises auf die Krisen-Diagnose in der Weimarer Zeit fragte, nämlich nach den am Ideal des „schönen Lebens“ orientierten Staats- und Gemeinschaftsvorstellungen und deren möglicher Bewährung. Schließlich, so die Veranstalter, zeichne sich der George-Kreis gerade dadurch aus, dass diese Konzepte guter Ordnung „nicht nur im Bereich des Utopischen belassen, sondern in der Lebens- und Forschungspraxis der Kreismitglieder zu verwirklichen versucht“ wurden (S. VIII).

Nun liegt der Tagungsband vor und er ist dem Anspruch, der Bewährung dieser Ideale nachzugehen, zumindest in Teilen auch gerecht geworden. In der Einleitung stellt Bertram Schefold weniger die Verbindung der Beiträge her, vielmehr umreißt er ein Panorama des George-Kreises und versucht dabei, auch den Kontroversen um die „Ahnherrschaft“ des Nationalsozialismus oder das von Thomas Karlauf 2 wieder aufgeworfene „böse Wort von Georges ‚Päderastie‘“ (S. XXVII) zu begegnen. Danach werden zunächst in vier eher kontextualisierenden Beiträgen die „Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft in der Weimarer Republik“ beleuchtet. Die kurzen Beiträge von Gangolf Hübinger und Klaus Lichtblau stellen in großen Zügen die Auseinandersetzung der vielfach als „Krisenwissenschaft“ aufgefassten und noch jungen Soziologie mit der „doppelten Kulturrevolution“ (S. 3) um 1900 dar, also der sozialwissenschaftlichen Grundlagenrevision und der gleichzeitigen „aktiven Massendemokratisierung“ (Max Weber). Harald Hagemann und Roman Köster widmen sich den Krisendebatten innerhalb der Nationalökonomie. Die beiden Beiträge unterscheiden sich dabei nicht nur im Stil, sondern widersprechen sich auch in der grundsätzlichen These, nämlich in der Beurteilung der Frage nach der Einheit der Sozialwissenschaften. Erscheint diese in Hagemanns Abriss der Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre schon durch das institutionelle Nachleben der Historischen Schule Gustav Schmollers gewährleistet, so argumentiert Köster in seinem sehr überzeugenden Beitrag dafür, diese gerade nicht als gegeben, sondern vielmehr als das zu lösende Problem zu betrachten, ohne das universalistische Konzepte wie die Othmar Spanns, Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds und anderer so kaum denkbar gewesen wären.

Diese vier Beiträge umreißen insgesamt das soziale und theoretische Feld und deuten dabei auch schon den Schwerpunkt des Bandes an, nämlich die Auseinandersetzung mit im engeren Sinne soziologischen und nationalökonomischen Fragen und Autoren. Im Anschluss werden dann die unterschiedlichen Ideale und Konzepte der Vermittlung des „schönen Lebens“ mit Staat und Gemeinschaft jeweils aus philosophischer, ästhetischer oder biographischer Sicht behandelt. Während hier die Zuordnung der Beiträge zu einzelnen Sektionen bisweilen etwas verwirrend ist, liegt die Stärke des Bandes eher dort, wo in den einzelnen Untersuchungen die Konfrontation der Ideale mit der Wirklichkeit des Kreises und der Weimarer Republik gelingt und wo zugleich die mitunter schwer verständlichen staatstheoretischen Konzepte im engeren Sinne eher zurücktreten.

Dies wird bereits deutlich am instruktiven Aufsatz Werner Plumpes, der einige der kunsttheoretischen Voraussetzungen der Idee des „schönen Lebens“ erörtert und sich dazu mit dem „strenge[n] Photoregime“ (S. 66) auseinandersetzt, das George in seinem Kreis errichtete. Dass dieser nämlich das Lichtbild geradezu als Korrelat „gelebter Gedichte“ betrachtete (Max Kommerell) und es nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, wegen seiner perfekten Realitätswiedergabe als ästhetisch bedeutungslos ablehnte, liege, so Plumpe, gerade an dessen zunächst unkünstlerischen Modus der Abbildung. Dieser erlaube es, das „schöne Leben“ selbst zu zeigen. Damit war nun nicht weniger gemeint, als die Ausdifferenzierung der Kunst aus den Künsten, also aus den technai im weiteren Sinne, zurückzunehmen und mit Friedrich Nietzsche der alten „Lebenskunst“ wieder den Primat vor der „Werkkunst“ einzuräumen. Dadurch wäre die Brücke von der Ästhetik zur Ethik, von der Dichtung zur Haltung und zur „Tat“ geschlagen. Die Verschränkung beider Sphären zur technê tou biou, gegen deren zuletzt antiliberale Konsequenzen Robert E. Norton in seinem Beitrag eindringlich Stellung bezieht und die eben von George im Begriff des „schönen Lebens“ eingefangen wurde, wäre dann aber auch in Haltung und „Gestalt“ des Dichters abzulesen und zumindest für den Augenblick auch photographisch abzubilden. Der Anspruch schließlich, mit Dichtung zur „Tat“ zu führen und neue Haltungen des Denkens wie des Körpers hervorzubringen, lässt dieses Konzept (wie auch andere zeitgenössische Avantgarden) geradezu zu einer „kulturrevolutionären“ Manifestation werden. Wird hier doch eine Re-Integration der als chaotisch erfahrenen Moderne unter dem Ideal der Schönheit versprochen. Da allerdings die Zeit der Avantgarden um 1930 in ganz Europa schon wieder vorbei war, weil die moderne Gesellschaft deren Angriffe selbst wieder als „Kunst“ sich einverleiben konnte, erscheinen uns, so resümiert Plumpe, ihre Attacken nur mehr „museal“ und die sorgfältig komponierten Photographien Georges so eigenartig starr und posenhaft.

Eine andere Theorie und Praxis „schönen Lebens“ illustriert Carola Groppe in ihrem Beitrag zum Bildungskonzept des Kreises. Ihre zunächst überraschende, aber überzeugende These ist, dass der George-Kreis, verstanden als Projekt der Rekonstitution der Bildung unter den Bedingungen der Industriegesellschaft, nicht auf die Auflösung der „bürgerlichen Lebensführung“ ziele, sondern umgekehrt gerade auf deren Neubegründung oder Reintegration im Zeichen der Balance. Denn das Bildungsziel des Kreises, durch Unterwerfung unter ordnende „Gestalten“ (wie der griechischen Antike, den großen Dichtern, zuletzt unter George) dem chaotischen Werden Einhalt zu gebieten und „große Menschen“ zu formen, intendiere eben nicht deren Aufgehen in der Gemeinschaft, sondern habe vielmehr die „souveräne Individualität“ (S. 146) zum Ziel, der es gelingt, eine Balance herzustellen zwischen beruflichem Alltag und der gehegten Gegenwelt des „schönen Lebens“. Die Normen und Praktiken der Kreisexistenz und die Ausrichtung an ihrer sinnstiftenden Mitte „befreiten“ hier geradezu von den Divergenz sozialer Rollenanforderungen und hielten gleichzeitig dazu an, bürgerliche Verhaltensnormen wie Selbständigkeit, Arbeitsaskese oder emotionale Balance einzuüben.

Unter dieser Perspektive erscheint dann der George-Kreis als ein intellektueller Raum, in dem tatsächlich sehr verschiedene bürgerliche Existenzen Platz hatten: von der unbedingten Ausrichtung des Lebens auf George bei Friedrich Wolters bis hin zur Segmentierung der Lebenspraxis beim Kammergerichtsrat Ernst Morwitz oder auch bei Berthold Graf Stauffenberg, dem „geheimen Stauffenberg“ (S. 213), dem der Beitrag Wolfgang Graf Vitztums ein Denkmal setzt. Zwar bleibt hierbei die Ambivalenz solcher „Freiheit zur Bindung“ (S. 150) etwas unterbelichtet und auch die Zuspitzung der These, dass „Praxis und Ziele des George-Kreises zutiefst bürgerlich waren“ (ebd.), unterschlägt zu schnell die Vieldeutigkeit des Bürgerbegriffes selbst – für die „Erdung“ und nüchterne Betrachtung des George-Kreises bleibt dies trotzdem wichtig.

In eine ähnliche Richtung argumentiert auch der Beitrag von Korinna Schönhärl, die am Beispiel von Edgar Salin und Arthur Salz die Wirtschafts-und Staatsvorstellungen der zahlreichen Nationalökonomen im Kreis untersucht. Die vertretenen Positionen reichen hier von illiberalem „Antikapitalismus“ bei Salin – der sich allerdings in Kontakt mit der Schweizer Realität zumindest von allen antidemokratischen Elementen befreien sollte – bis zu einer (allerdings mehr an Weber denn an George geschulten) Verteidigung des Kapitalismus und der liberalen Demokratie bei Salz. Von einer „georgeanischen Ökonomie“, so Schönhärl, könne hier nicht die Rede sein. Allein in den Semantiken, der Hochschätzung bildungsaristokratischer Gedanken und dem Versuch, gestalttheoretische Überlegungen (die „anschauliche Theorie“ bei Salin) mit einzubeziehen, ließen sich Gemeinsamkeiten ausmachen. Der „anschaulichen Theorie“ Salins und ihrer Fundierung in der Erkenntnistheorie Edith Landmans widmen sich dann auch noch die Beiträge von Gesine Leonore Schiewer und Tetsushi Harada.

Während der Rezensent den Beitrag von Bruno Pieger über die Rolle der Sphärenmodelle Hölderlins und Georges ob seines esoterischen Stils einfach nicht verstehen konnte, sei abschließend noch auf die Untersuchung Wolfgang Christian Schneiders hingewiesen, der sehr überzeugend auf die neuplatonischen Grundlagen des George-Kreises aufmerksam macht, die Friedrich Wolters in „Herrschaft und Dienst“ gelegt hat. Bis in die Illustrationen Melchior Lechters hinein spiegeln diese nämlich die (Engels-)Hierarchien des Proklos und (Ps.) Dionysios Areopagita und haben so dazu beigetragen, die Idee der vom Dichter vermittelten „geisterfüllten Gesamtordnung“ (S. 114) auch im Selbstbild von Wolters‘ vermeintlich liberalem Antipoden Robert Boehringer zu verankern.

Insgesamt ist zu sagen, dass dieser (übrigens in bester ‚Kreistradition‘ sorgfältig lektorierte) Band das Spannungsfeld zwischen „schönem Leben“ und der Wirkung und Bewährung in Staat und Gesellschaft zwar angerissen, aber sicher noch nicht erschöpfend ausgeleuchtet hat. Vor allem dem bei Roman Köster und Korinna Schönhärl in Ansätzen thematisierten Zusammenhang von Epistemologie und konkreten Ordnungsvorstellungen lohnt es sich hier weiter nachzugehen, genauso wie der immer wieder durchscheinenden Rolle Platons in den (nicht nur) georgeanischen Antworten auf die Krise.

Anmerkungen:
1 Vgl. Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005.
2 Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2007.

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