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Titel
Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung


Herausgeber
Hoffmann, Christoph
Reihe
Wissen im Entwurf 1
Erschienen
Zürich 2008: diaphanes
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Kahlert, Humboldt-Universität zu Berlin

Dass sich Wissenschaftsgeschichte nicht mehr nur auf Institutionen- und Disziplinengeschichte beschränkt oder eine Geschichte des naturwissenschaftlichen Fortschritts beschreibt, ist mittlerweile allgemein bekannt. Der Titel des hier zu besprechenden Sammelbandes „Daten sichern“ könnte jedoch zunächst den Eindruck hervorrufen, es handele sich statt um eine wissenschaftshistorische Arbeit, um Fragen und Methoden der Erstellung von Sicherungskopien von Festplattendaten. Anders als diese Assoziation suggeriert, steht die große Frage nach der Erzeugung und Sicherung von Wissen im Mittelpunkt.

Der Frage geht seit 2006 ein gemeinsames Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Berlin und des ebenfalls zur MPG gehörenden Kunsthistorischen Instituts in Florenz unter dem Titel „Wissen im Entwurf“ nach.1 Mit dem von Christoph Hoffmann herausgegebenen Sammelband „Daten sichern“ wurde 2008 innerhalb einer auf vier Bände angelegten Reihe „Wissen im Entwurf“ eine erste Bestandsaufnahme vorgelegt.2

Die Autoren wenden sich einem bisher nur wenig beachteten Bereich des Forschungsablaufs zu, und zwar dem erstmaligen Schreiben und Zeichnen einer Beobachtung, der ersten Spur eines Gedankens auf Papier. „Datum“ verstanden als Einzahl von Daten, meine dabei zunächst alles, was aufgeschrieben oder aufgezeichnet wird. Für den wissenschaftlichen Kontext sei die Frage, welche Bedeutung diesem primären Schreiben und Zeichnen für den Prozess und die Produktion von Wissen zukommt, alles andere als trivial. In seiner sehr instruktiven Einleitung erläutert Christoph Hoffmann, dass die Fragestellung nicht auf das Gesicherte als Produkt in seinem wie immer gearteten Gehalt, sondern auf das Sichern als Prozess, in seinen Handlungen und Akten, Operationen, Techniken, Regeln und Praktiken abziele. Um all diese Begriffe und Vorgehensweisen unter einer Perspektive untersuchen zu können, wird von Hoffmann der Begriff des Verfahrens stark gemacht und die These aufgestellt, „dass sich in jedem Schreiben und Zeichnen ein Verfahren geltend macht“ (S. 13).

Verfahren ist dabei weder Modell, Theorie noch Begriff, sondern „wesentlich Ausführung“ (S. 15). Nur hier lässt sich die Leistung von Schreiben und Zeichnen untersuchen und sichtbar machen. Insofern ist es folgerichtig, dass allein Materialstudien für die Analyse in Frage kommen. Damit ist aber zugleich eine Grenze des Ansatzes angedeutet. Die Schreibszenen selbst können oft nicht (mehr) beobachtet werden. Nur das, was als Spur einer primären Aufzeichnung noch vorliegt, kann analysiert werden. Alles das, was im Laufe der Forschung weiterverarbeitet oder gar vernichtet wurde, lässt sich entweder nur in Ansätzen oder gar nicht mehr erfassen.

Zwei der insgesamt sechs enthaltenen Studien beschäftigen sich primär mit dem Schreiben. Zwei Fallstudien stellen Zeichnen in den Fokus der empirischen Untersuchung. Bei den verbleibenden zwei Beiträgen stehen Mischungen von Schreiben und Zeichnen im Mittelpunkt. Um einen Eindruck der disziplinübergreifenden Reichweite und des Potenzials des Ansatzes zu erhalten, erscheint es im Folgenden sinnvoll, statt einzelne Beiträge herauszuheben, einen Überblick über die Ansätze der Autoren zu geben. Dadurch soll – getragen von der Frage nach den Verfahren – das offene aber durchaus stimmige Ganze des Sammelbandes deutlich werden.

Omar W. Nasim untersucht Skizzen von stellaren Nebelformationen aus dem viktorianischen Zeitalter. Am Beispiel der Beobachtungsjournale des irischen Astronomen Lord Rosse, der mit seinem 1845 fertig gestellten und damals größtem Teleskop der Welt Nebel am Sternenhimmel beobachtete, kann Nasim überzeugend aufzeigen, wie diesen oftmals nur sehr kleinen und zunächst nur als unbedeutend oder vorläufig angesehenen Skizzen nach und nach die Rolle einer Hauptquelle für Erkenntnisse über die Nebel und damit auch ein Großteil der Beweislast hinsichtlich Identifizierung, Veränderung, Entfernung etc. zufiel.

Barbara Wittmann wendet sich in ihrem Beitrag der heutigen wissenschaftlichen Zeichenpraxis am Beispiel der Erstellung eines Typusexemplars einer neu gefundenen Spezies – in ihrem Fall der australischen Seezunge bzw. Aseraggodes corymbus – zu. Wittmann verschafft sich hierdurch die vorteilhafte Lage, die Akteure am Berliner Museum für Naturkunde bei ihrer Arbeit direkt beobachten und befragen zu können. Dadurch entsteht ein sehr plastisches Bild der Komplexität einer Typuszeichnung, das aus aufeinander aufbauenden Schichten in mehreren Arbeitsphasen zusammengesetzt wird, so dass das Produkt weit über eine Zeichnung im herkömmlichen Sinn hinaus geht. Sowohl handwerkliche als auch apparatgestützte Verfahren kommen dabei zum Zuge und fließen so in die Anfertigung des Typusexemplars ein.

Die Reisenotizbücher von Wilhelm Bode und Carl Justi, zwei der wichtigsten Kunsthistoriker der Gründerzeit, vergleicht Johannes Rössler hinsichtlich der Frage, welche Praktiken und Verfahren beide in diesen Aufzeichnungen ausbildeten. Reisenotizbücher sind „Dokumente des Transitorischen“ (S. 74). Sie bilden nicht das alleinige, aber das entscheidende Werkzeug der Kunsthistoriker im Prozess von autoptischer Aneignung der Originale bis zur Verschriftlichung der Kunstwerke. Rössler arbeitet an Bode und Justi zwei verschiedene Typen von Aufzeichnungsverfahren heraus. Bei Bode dominiere flächenhafte Geschlossenheit und Totaleindruck, bei Justi hingegen bildfragmentierte Gegenstandserfassung und strukturelle Offenheit (S. 101). Im Ergebnis finden sich diese zwei Typen in den kunsthistorischen Werken beider Autoren wieder. Den Notizbüchern und den darin ausgebildeten Praktiken kommt dadurch die Rolle der Grundlegung und Vorstrukturierung der späteren Werke zu. Bodes epistemologischer Entwurf einer diachronen Entwicklungsgeschichte einerseits und Justis synchrone Kontextanalyse andererseits seien, so Rössler, schon in den in den Schwerpunktsetzungen der Aufzeichnungsverfahren in den Notizbüchern angelegt.

Eine ähnliche Stoßrichtung findet sich im Beitrag von Arno Schubbach, der ebenfalls die Genese eines Werkes im Blick hat. Schubbach sucht nach den Anfängen von Ernst Cassirers Hauptwerk der „Philosophie der symbolischen Formen“ und stellt der Analyse der Entstehungsgeschichte des Werkes anhand von Briefen und biografischen Zeugnissen, eine Untersuchung von Cassirers Entwürfen, Notizen, Exzerpten und Gliederungen gegenüber. Er rekonstruiert dafür eine heute im Nachlass verstreute, aber ursprünglich zusammenhängende Blattsammlung, die Teil der sogenannten „research notes“ von Cassirers Nachlass sind. Diese Rekonstruktion ermöglicht es Schubbach, entlang der Analyse einzelner Begriffe zu zeigen, wie sich Cassirers Werk und damit sein kulturphilosophischer Ansatz allmählich herausbildete.

Auch bei Cornelia Ortliebs Beitrag steht die Werkgenese im Mittelpunkt. Sie geht in ihrem Beitrag unter dem Titel „Die wilde Ordnung des Schreibens“ der Arbeitsweise des Schriftstellers Hubert Fichte nach. An mehreren Beispielen, wie überdimensionalen Roman-Plänen, Notizzetteln und Karteikarten stellt sie dessen eigenwilligen Umgang mit diesen Papieren dar. Fichte hätte beispielsweise großformatige Pläne zu riesigen Notizzetteln umfunktioniert oder nutzte Notizzettel umgekehrt wie Pläne. Die Pläne, die Fichte, wie auch schon früher seine Zettel, an die Wand nagelte und die eine Mischung aus Geschriebenem und Gezeichnetem darstellen, hätten sowohl Grundlage für Entwürfe als auch letztlich Teil seiner Schreibprojekte gebildet. „Entwurf und Ausführung oder Vorarbeit und Text“ werden „in mehrfacher Hinsicht umgekehrt und aufgehoben“ (S. 131). Dafür spräche nicht zuletzt, dass Fichte seine Pläne selbst publizierte.

Christoph Hoffmanns Beitrag über das Sektionsprotokoll in der Pathologie um 1900 beschließt den Band. Ausgangspunkt bildet eine Erörterung der Bedeutung der Sektion für die Professionalisierung der Medizin und deren Verwandlung in eine „echte“ Wissenschaft. Hoffmann liefert hierbei nicht nur eine Erörterung der Regulierung und Praxis der Protokollierung um 1900, sondern bettet seine überzeugende Argumentation in einem weitem Bogen in die Herkunft der klinischen Sektion aus der gerichtsmedizinischen Leichenschau sowie den Veränderungen, die mit der Einführung von Vordrucken Anfang des 20. Jahrhunderts einher gingen bis hin zum Bedeutungsverlust der Sektion im Laufe des 20. Jahrhunderts durch Einführung von chemischen und molekularbiologischen Testverfahren, ein. Letztere benötigten als Grundlage nicht mehr tote Körper, sondern Gewebe und Substanzen des lebenden Körpers. Die Praxis der Protokollierung sieht Hoffmann durch die teilweise widerstreitenden Ansprüche nach Vollständigkeit und Genauigkeit spezifiziert. Als gesicherte Daten oder auch papiernes Gedächtnis (S. 161) komme dem Protokoll nicht zuletzt große Bedeutung für wissenschaftliche Ergebnisse zu. Denn alles, was nicht im Protokoll auftauche, sei jeder weiteren Berücksichtigung entzogen, da nur das Protokoll nicht aber die Leiche bleibt. Nicht ohne Charme ist hierzu Hoffmanns zugespitzte Formulierung, dass die „Papierleiche“ letztlich die Leiche ersetze (S. 194).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Band sowohl in seinen Beiträgen als auch als Gesamtwerk eine spannende und inspirierende Lektüre bereitstellt. Er ist, das sei an dieser Stelle auch erwähnt, durchgehend mit aufschlussreichen Abbildungen versehen. Es ist das Verdienst der Arbeiten, den Blick für die Bedeutung der primären Aufzeichnungen und den darin ausgebildeten Verfahren des Schreibens und Zeichnens für die Schaffung von Wissen geschärft zu haben. Dies gilt auch trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass einige Aufsätze noch work in progress sind, manche Thesen noch einer Zuspitzung bedürfen und der detailreichen Beschreibung zuweilen die klare Strukturierung geopfert wird. Aber das sind Kleinigkeiten, die das positive Gesamturteil keineswegs schmälern. Vielmehr dürfen wir auf weitere Ergebnisse des Forschungsprojekts gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Internetauftritt unter <http://knowledge-in-the-making.mpiwg-berlin.mpg.de/> (01.03.2010).
2 Band 2 ist 2009 erschienen und beschäftigt sich mit Verfahren der Aufzeichnung von psychischen und physiologischen Befindlichkeiten in der psychischen Diagnostik und Therapie und in der Bildenden Kunst: Barbara Wittmann (Hrsg.), Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Zürich 2009.

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