K. Rieder: Netzwerke des Konservatismus

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Titel
Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Rieder, Katrin
Erschienen
Zürich 2008: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
736 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Kerstin Brunner, Bern

Die umfangreiche Dissertation, welche öffentlich breit und kontrovers diskutiert wurde, behandelt drei zentrale Themen: die Institution der stadtbernischen Burgergemeinde, die diese dominierenden Akteure und die politisch konservative Wertehaltung des Berner Patriziats.

Die Berner Burgergemeinde ist die reichste und eine der bedeutendsten der Schweiz. Außer der Basler Bürgergemeinde verfügt keine weitere dieser dem Ancien Régime entwachsenen heute öffentlich-rechtlichen Körperschaften über ein eigenes Parlament. Seit der Helvetik bestehen in der Schweiz neben Burgergemeinden auch Einwohnergemeinden – dieser Gemeindedualismus besteht bis heute weiter. Die Stellung und Daseinsberechtigung der Burgergemeinde Bern im Umfeld einer liberalen Demokratie wurde nicht nur diskutiert sondern auch durch politische Vorstöße – etwa in Form von verschiedenen Anträgen an den Berner Gemeinderat, beispielsweise im Zuge der Verfassungsrevision von 1993 – in Frage gestellt.

Innerhalb von neun Kapiteln behandelt Katrin Rieder ihre erkenntnisleitende Fragestellung, mittels welcher Strategien die Stadtberner Burger ihre politische und gesellschaftliche Vormachtstellung über das Ende des Ancien Régime hinaus im 19. und 20. Jahrhundert beibehalten konnten. Dieses zentrale Thema wird unter verschiedenen Gesichtspunkten bearbeitet, etwa inwiefern „ [...] Eckpunkte adeliger Standesordnung – [...] – für die gesellschaftliche Rangordnung ausschlaggebend“ (S. 16) waren, worin die Autorin auch soziokulturelle Unterscheidungsmerkmale wie Lebensweisen, Sprache, Wertehaltung, Habitus oder Lebensstil mit einbezieht. Als rahmengebende Theorie dient der Studie Pierre Bourdieus Kapital- und Habituskonzept.

Nicht nur die politische Einstellung der Berner Burger, wie der Titel der Publikation impliziert, sieht Katrin Rieder im Konservatismus verankert, sondern auch die werteorientierte. Die diversen Themenstränge, Gesichtspunkte und die Reichhaltigkeit der Ansätze der vorliegenden Untersuchung werden in der Folge, sich am Aufbau der Arbeit orientierend, höchstens zusammenfassend angetönt, jedoch keineswegs dem seiten- und themenmäßigen Umfang der Publikation gerecht behandelt werden können.

Im einführenden ersten Kapitel werden Fragestellung und Forschungsstand kurz vorgestellt. Als prominentes einleitendes Beispiel der Berner Burgerschaft dient die bekannte Madame de Meuron. Neuere wissenschaftliche Literatur zur Berner Burgergemeinde existiert neben der vorliegenden Dissertation kaum: Zwei Lizentiatsarbeiten1 – wobei eine von Katrin Rieder selbst stammt – zum Thema wurden beispielsweise verfasst, sind jedoch schwer greifbar. Ebenso erwähnenswert ist die Dissertation Daniel Schläppis2 zur Zunft zur Schmieden in diesem Themenkreis. Daher bleibt als wichtige Gesamtleistung der Verfasserin hervorzuheben, dass keine vergleichbare neuere Publikation vorliegt, welche die Geschichte der Burgergemeinde Bern in dieser zeitlichen und thematischen Breite aufarbeitet.

Im Zentrum des zweiten Kapitels steht die Gründung der Burgergemeinde Bern, deren Aufbau und Ordnung und die Entstehung des Gemeindedualismus. Das enorme Burgergut und die nicht nur daraus resultierende ökonomische Macht werden thematisiert, wie auch verschiedene damit zusammenhängende Konflikte in der Stadt Bern. Das dritte Kapitel beschlägt wie das zweite die Zeitspanne des 19. Jahrhunderts. Anhand der Lebensgeschichte des Konservativen Alexander von Tavel (1827–1900), der im Kanton Bern weit herum bekannt war und auch als stadtbernischer Burgerratsschreiber fungierte, werden zum Teil dieselben Konflikte wie in Kapitel 2, jedoch unter anderem Blickwinkel, erneut behandelt. Diese Vorgehensweise bringt zwar einige inhaltliche Wiederholungen mit sich, zeigt dieselbe Geschichte jedoch durch den erweiterten Blickwinkel auch differenzierter auf.

Kapitel 4 richtet den Fokus weg vom ökonomischen hin zum symbolischen Kapital, das die Berner Burger auf mannigfache Weise pflegten. Katrin Rieder stellt anhand verschiedener Vereinigungen, wie etwa der Bogenschützengesellschaft, oder anhand von Rollenmustern, Wertehaltungen, rituellen Anlässen oder – breiter formuliert – Merkmalen symbolischer Herrschaft die Innenwelt der Burgergemeinde vor. Mit Kapitel 5 ruht der Blick weiterhin auf dem Innenleben der Burgergemeinde Bern. Organisation der Burgergemeinde, Hierarchien, Geschlechterunterschiede und Aufnahmen neuer Mitglieder in die Burgergemeinde sind die zentralen Themenkreise. Den einzigen Wermutstropfen in diesem Kapitel bildet die Tatsache, dass gewisse Gesichtspunkte, die bereits in Kapitel 4 zur Sprache kamen, erneut diskutiert werden.

Mit Kapitel 6, das sich ausschließlich den Verwicklungen der Berner Burgerschaft in der Frontenbewegung der 1930er-Jahre in der Schweiz widmet, ist der Schritt ins 20. Jahrhundert endgültig getan. Besonders der Berner Burger Georges Thormann wird hervorgehoben, da der ehemalige Gauführer der Nationalen Front trotz seiner Vergangenheit, welche in burgerlichen Kreisen damals nicht thematisiert wurde, 1968 zum Burgerratspräsidenten gewählt wurde. Doch nicht nur dieser Aspekt, der Inhalt des gesamten Kapitels erweckte Aufsehen in der Öffentlichkeit. Im Kleinen Burgerrat der Burgergemeinde Bern wurde ein Quellenbericht über die Zeit zwischen 1930 und 1945 in Auftrag gegeben und via Homepage veröffentlicht. Darin wurde anhand verschiedener Quellen der Frage nachgegangen, ob Mitglieder der Burgergemeinde Bern während dieser Zeit sich stärker als Andere rechtsradikalen Kreisen verschrieben.

Kapitel 7 widmet sich burgerlicher Macht und deren kaum wörtlich kundgetaner Legitimation nach innen und außen, etwa durch ein neues Leitbild oder durch verschiedene Dienste an der Öffentlichkeit, vor allem möglich durch den enormen Reichtum an Finanzen und Boden der Burgergemeinde Bern. Die Wurzeln dieser Vormachtstellung reichen zurück zur Güterausscheidung mit der Einwohnergemeinde Bern im Jahr 1852. Besonders thematisiert die Autorin in diesem Kapitel den auf diesem finanziellen, sozialen und kulturellen Reichtum gründenden Einfluss auf die bernische Stadtentwicklung durch die Burgergemeinde, sei es durch die Quartierplanung des Kirchenfelds oder des Villettequartiers. Katrin Rieder zeigt die unterschiedlichen Interessen der Burgergemeinde beispielsweise anhand der Felsenburg, die erhalten wurde, gegenüber dem Abriss der Kocherhäuser auf.

Auch soziales Kapital wird durch Netzwerke innerhalb der Burgergemeinde sowie etwa durch Neuaufnahmen in die Burgergemeinde thematisiert. So konstatiert die Verfasserin: „Die burgerlichen Akteure scheuten sich auch nicht, durch planmässiges Einsetzen burgerlicher Vertreter (oder Vertreterinnen) in nützlichen Gremien oder Behörden das Netzwerk zu stabilisieren und gewinnorientiert zu verdichten, [...]“ (S. 429).

Kapitel 8 thematisiert die Burgerschaft zu Ende des 20. Jahrhunderts. Die Themen Sozialisation, Riten, Traditionen sowie etwa ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital werden erneut aufgegriffen. Einen neuen und interessanten Impuls bezüglich dieser Themenkreise bergen die Interviews mit Angehörigen der Burgergemeinde Bern, da sie aktuelle und differierende Sicht- und Lebensweisen von Angehörigen der Burgerschaft aufzeigen.

Wie bereits eingangs erwähnt ist die Studie Rieders zeitlich wie inhaltlich sehr weitreichend, was die Lektüre spannend macht, jedoch auch zu Lücken führen muss. Die diversen Untersuchungsstränge bieten einen breiten Einblick in die eingangs erwähnte Fragestellung und leisten einen Beitrag zum weiteren Feld der Forschung über aristokratische und bürgerliche Kreise in der Schweiz. Wermutstropfen bilden einerseits die erwähnten thematischen und auch theoriebezogenen Redundanzen, andererseits die anhand der Fußnoten / Bibliographie teils beschwerlich aufzufindenden Titel oder Quellen.

Rieder hat mit ihrer Dissertation ein zeitweilen emotionsgeladenes Thema aufgegriffen. Der wertvolle und inhaltlich vielfältige Überblick über die 200-jährige Geschichte der Burgergemeinde Bern bringt viele Erkenntnisse und zeigt neue Forschungsfelder auf.

Anmerkungen:
1 Karoline Arn, „Mehr Sein als Scheinen“. Die Burgerschaft der Stadt Bern im 19. und 20. Jahrhundert – eine städtische Elite in ständischer Exklusivität. Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit am Historischen Institut der Universität Bern 1999; Katrin Rieder, „Hüterin der bernischen Tradition“. Burgergemeinde der Stadt Bern: eine Institutionenanalyse aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit am Historischen Institut der Universität Bern 1998.
2 Daniel Schläppi, Die Zunftgesellschaft zu Schmieden in Bern zwischen Tradition und Moderne. Sozial-, struktur- und kulturgeschichtliche Aspekte von der Helvetik bis ins ausgehende 20. Jahrhundert, Bern 2001.

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