G. Ensslin u.a.: "Notstandsgesetze von Deiner Hand"

Cover
Titel
"Notstandsgesetze von Deiner Hand". Briefe 1968/1969. Herausgegeben von Harmsen, Caroline / Seyer, Ulrike / Ullmaier, Johannes. Mit einer Nachbemerkung von Ensslin, Felix


Autor(en)
Ensslin, Gudrun; Vesper, Bernward
Reihe
edition suhrkamp 2586
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Vowinckel, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Bei den Recherchen für sein Buch „Vesper Ensslin Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus“1 stieß Gerd Koenen auf eine Mappe mit der Korrespondenz zwischen Bernward Vesper und Gudrun Ensslin aus den Jahren 1968/69. Die Mappe hatte Ensslin, die zu dieser Zeit wegen vorsätzlicher Brandstiftung in Untersuchungshaft saß, mit dem Begriff „Notstandsgesetz“ etikettiert, woraus Vesper später handschriftlich „Notstandsgesetze von Deiner Hand“ machte – ein wahrlich passender Titel für die nun vorliegende Korrespondenz.

Anders als Koenens Buch über das Dreiergespann Vesper – Ensslin – Baader (das als ergänzende Lektüre unbedingt zu empfehlen ist) gibt dieser sorgfältig edierte und mit hilfreichen Anmerkungen versehene Briefwechsel wenig Aufschluss über die Frühgeschichte der Roten Armee Fraktion (RAF). Der einzige Text, der sich eingehend mit dem Prozess gegen Ensslin befasst, wurde ergänzend in die Korrespondenz integriert. Dabei handelt es sich um Vespers Nachwort zu dem in der Reihe „Voltaire Flugschriften“ veröffentlichten Schlusswort der Angeklagten mit dem Titel „Vor einer solchen Justiz verteidigen wir uns nicht“.

In den Briefen selbst geht es um politische Fragen nur am Rande – nicht zuletzt deshalb, weil das Wissen um die Zensur das freie Schreiben behinderte (aus diesem Grund wurden einige Briefe nicht per Post, sondern durch Anwälte oder Besucher überbracht). Einmal berichtet Vesper, er sei in Bonn beim „großen Frustrationssternmarsch“ gegen die Notstandsgesetzgebung gewesen, und setzt in Klammern hinzu: „Liberale Scheißer aller Länder vereinigt Euch/lasst keinen ran/der was verändern kann!“ (S. 86) Positiv hingegen äußert er sich über die Ereignisse in Frankreich, von denen Ensslin – so seine Annahme – aus der Zeitung erfahre. Positiv spricht er auch von Ulrike Meinhof, die er in Berlin kennenlernt – einer „wunderbaren Frau, die jetzt, nach ihrer Scheidung von Röhl, mit ihren Kindern, sechsjährigen Zwillingen, noch einmal ganz von vorn anfängt; schon alt-gealtert, aber, so in ihrer Biografie, von einer unerbittlichen Konsequenz“ (S. 121). Und als der Prozess gegen die Kaufhausbrandstifter naht, mahnt er Gudrun, nicht die Aussage zu verweigern: „Wenn [...] Du schweigst, fällt alles zurück auf eine privatistische Aktion, deren Beweggründe niemand kennt.“ (S. 154)

Im Zentrum der Briefe steht der gemeinsame Sohn Felix, der, geboren 1967, zum Zeitpunkt der Inhaftierung Ensslins knapp elf Monate alt war. Nachdem es anfangs Uneinigkeit darüber gab, wer sich um das Kind kümmern solle, entschied Vesper, Felix bei sich zu behalten, um ihm die „reaktionäre Verbotserziehung“ (S. 53) zu ersparen, die er selbst als Kind erfahren hatte. Während für ihn Fragen der Betreuung und der rechtlichen Absicherung im Vordergrund stehen (Vesper und Ensslin waren nicht verheiratet, so dass Ensslin das alleinige Sorgerecht hatte und dies nur über eine so genannte Ehelichkeitserklärung auf Vesper übertragen konnte), erkundigt sich Ensslin beharrlich nach Felix’ Entwicklungsschritten und Charaktereigenschaften. Immer wieder beteuert sie, wie sehr ihr der Sohn fehle, und bittet gar um die Zusendung von Wolle, aus der sie Pullis für Felix und seinen Teddy strickt. Und obwohl sie die Kritik ihrer Generation an der autoritären Erziehung teilt, fürchtet sie doch auch das antiautoritäre Gegenprinzip und bittet Bernward, er solle „kein Spielzeug, keinen Hippie und so“ aus Felix machen (S. 81).

Nur wenige emotionale Ausbrüche auf Vespers Seite zeugen davon, dass die Beziehung zwischen Ensslin und Vesper (die als solche beendet worden war, als Ensslin im Sommer 1967 Andreas Baader kennengelernt hatte) eine ständige Zerreißprobe war. Im September 1968 schreibt Vesper: „Ich bin zerstört; das hast Du getan. Aber ich bin auch reifer, überlegener, fester geworden.“ (S. 146) Wenige Wochen später zeichnet sich bei ihm eine Verzweiflung ab, die – im Rückblick zumindest – Licht auf seinen Freitod im Mai 1971 wirft: „’Mich’ gibt es immer weniger; es gibt jemand, der den Verlag macht, jemand, der für Felixchen sorgt, jemand, der für Dich sorgt, aber ein ‚ich’, auf das es ankommt, das eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, gibt es nicht mehr.“ (S. 159) Ensslin hingegen hält sich mit Gefühlsäußerungen sehr zurück, was wohl daran liegt, dass ihr Gefühlshaushalt längst von Baader dominiert wurde (darüber gibt ein Brief Aufschluss, den sie ihm im August 1968 schrieb und der im Anhang des Buches abgedruckt ist).

So bleibt die Sorge um den Sohn Felix das bestimmende Thema. Als heikel erweist sich dabei die Frage, wie es nach Ensslins Entlassung weitergehen solle. Einerseits erwartet Vesper, sie werde ihn bei der Kindeserziehung entlasten, fürchtet aber auch, sie könne ihm, zusammen mit Baader, den Sohn wegnehmen. Der Übertragung des Sorgerechts auf den Vater stimmt Ensslin im Prinzip zu, verweigert sie schließlich aber doch mit dem Kommentar: „[…] mir sind bürgerl. Papiere scheißegal, wahrhaftig schon lange, und wahrhaftig könntest Du das wissen.“ (S. 243) Es folgen wüste Beschimpfungen. Wenn Ensslin beteuert, sie werde sich nach Haftende natürlich um Felix kümmern („Schreib’ nie wieder: ‚daß Du ihn viell. nicht haben magst’ – bist Du verrückt!“, S. 107), kann der Leser kaum anders als stumm dagegenhalten, dass sie nach ihrer Entlassung zunächst mit Baader nach Frankfurt und dann in den Untergrund ging.

Historiker, Soziologen, Terrorismusforscher mögen sich von der Veröffentlichung dieser Briefe Aufschluss über die Entstehung der RAF erhoffen – oder wenigstens eine Antwort auf die Frage, was eine Frau dazu brachte, ihr Kind zu verlassen, um sich ganz dem politischen Aktivismus zu widmen (eine Frage, die nicht nur die Biographie Ensslins, sondern auch diejenige Ulrike Meinhofs aufwirft, die sich aber bezeichnender Weise selten an Männer wie Baader richtet, der 1968 ebenfalls bereits Vater einer Tochter war). Antworten auf solche Fragen geben die Briefe indes kaum.

Besonders aufschlussreich ist die Nachbemerkung von Felix Ensslin, der ab 1969 bei einer Pflegefamilie aufwuchs. Er sieht sich konfrontiert mit der Unmöglichkeit, sich „den vielen Wegen der Identifikation anzuschließen, der Lust auf das Außergewöhnliche dieser Biographien“, mit denen seine eigene Existenz anhebt. Auch ihn treibt die Frage um, warum beide Eltern ihn verließen, und nimmt dabei den Vater gegen die Mutter in Schutz, der zwar in der Vaterrolle überfordert war; aber: „[…] ist es nicht umgekehrt auch so, daß der Mangel an Anerkennung seiner Rolle diesen Zustand zementierte?“ (S. 283)

Die Hauptfigur des Buches ist letztlich Felix, dem es (wie vielen anderen Töchtern und Söhnen auch) schwerfällt, das Tun und Lassen der Eltern zu verstehen – seiner Eltern, die ohne Rücksicht auf ihn historische Figuren wurden. Für den verlassenen Sohn sind die Briefe heilsam durch ihre „schiere Existenz, durch das Papier, auf dem sie geschrieben sind, die Farben und Flecken, durch ihre Faßbarkeit“ (S. 288). Gerade weil der Briefwechsel keine Botschaft und kein Programm hat, vermag er für Irritation zu sorgen, wo vermeintlich schon Klarheit geherrscht hatte. Vor allem aber erweist er sich als ein privates Dokument, das für die Terrorismusforschung zu „verwerten“ ein einseitiges, wenn nicht fragwürdiges Unterfangen wäre.

Anmerkung:
1 Gerd Koenen, Vesper Ensslin Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003. Vgl. die Rezension von Martin Steinseifer, in: H-Soz-u-Kult, 10.02.2004, URL: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-076>. Koenen zitiert einige Briefe, die in die Edition (die sich offenbar auf die in der Mappe „Notstandsgesetz“ enthaltenen Briefe beschränkt) nicht aufgenommen wurden, z.B. Vesper an Ensslin, undatiert (Oktober 1969?, S. 244f.).

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