Cover
Titel
The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814–840


Autor(en)
de Jong, Mayke
Erschienen
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 69,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Suchan, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Ludwig der Fromme hat in den Galerien populärer wie wissenschaftlicher Bilder der Karolingerzeit in der Regel keinen vorteilhaften Platz erhalten. Denn obwohl er scheinbar unangefochten und wohlvorbereitet das Frankenreich von seinem Vater Karl dem Großen übernehmen konnte, wurde er wiederholt mit Aufständen, besonders seiner Söhne, konfrontiert. Sie mündeten nach seinem Tod in einer Reichsteilung, die sich als unumkehrbar erwies. Neben strukturellen Ursachen, vor allem der seit der Merowingerzeit üblichen Verteilung von Machtpositionen auf die direkten, männlichen, möglichst erwachsenen Nachkommen, wurden im Fall Ludwigs in der Persönlichkeit und Regierungsführung des Königs begründete Ursachen ausgemacht. Bereits von seinen Zeitgenossen als ‚fromm‘ tituliert und gelobt, hielt man doch die daraus für die politische Praxis gezogenen Konsequenzen in der Regel für falsch. Denn Demut als königlichen Habitus zu etablieren, gegenüber Widersachern Milde walten zu lassen und als Gesalbter des Herrn wie ein herkömmlicher, normaler Sünder die Kirchenbuße auf sich zu nehmen, hätte die Widerstände gegen seine Reformen in der Kirche und seine konzeptionellen Vorstellungen von der Wahrung der Einheit des Reiches eher befördert denn gemindert.1

Mayke de Jongs Monographie über die Verflechtung von Politik und Religiosität während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen offenbart, dass diese Urteile an einer für die Moderne typischen, für das frühere Mittelalter jedoch anachronistischen und insofern falschen Voraussetzung kranken: Sie projizieren einen grundlegenden Widerspruch zwischen religiösen und säkularen Ordnungs- und Wertvorstellungen in die Karolingerzeit. Unterstellt wird damit den Zeitgenossen Ludwigs einschließlich des Königs selbst, dass zwischen der religiösen und der politischen Ebene keine inhaltliche Kohärenz, sondern lediglich ein praktisches Nebeneinander bestanden hätte, dass im Zweifelsfall – etwa in der Entscheidung über einen Feldzug oder die Besetzung einer Schlüsselposition am Hof – das jeweilige, ausschließlich profan gedeutete machtpolitische Gewicht der Beteiligten den Ausschlag gegeben hätte. In diesem Sinn ist etwa das synodale Bußverfahren über den bereits von den eigenen Söhnen verlassenen und militärisch geschlagenen Ludwig in Soissons 833 als kaltblütige Skrupellosigkeit der Sieger gegenüber dem nachgiebigen und frömmelnden, alternden Kaiser ausgelegt worden.

De Jong argumentiert, dass es für die Akteure keinen Sinn ergeben hätte, Ludwig einem langwierigen, aufwendigen und scheinbar nebensächlichen, weil religiösen Ritual zu unterziehen, wenn man es lediglich als zynische Machtdemonstration zu erklären versuchte. Denn die Söhne hatten doch bereits Monate zuvor ihr vermeintlich eigentliches Ziel erreicht, dem Vater die Krone zu entreißen und die Nachfolge nach ihrem Willen zu regeln. Durch eine akribische und quellennahe Analyse der Regierungszeit Ludwigs des Frommen zeigt de Jong, dass dieses religiöse Verfahren während des Aufstandes von 833 unter den in den Jahrzehnten zuvor entwickelten politischen Rahmenbedingungen vielmehr unumgänglich notwendig war. Die Autorin bringt diese auf die Formel eines „Penitential State“, der einem doppelten Verständnis von zeitgenössischer Politik als kommunikativer und staatlicher Qualität Ausdruck verleiht. Ihrer Ansicht nach waren es Persönlichkeiten, Personengruppen und Amtsträger, deren Kommunikation in sozialen Netzwerken ein übergeordnetes Ganzes, eine politische Ordnung, ein ‚Reich‘ oder einen ‚Staat‘ ergaben. Als inneres, inhaltliches Band bedurfte es dazu einer ‚Ideologie‘, einer politischen ‚Idee‘, die in der frühmittelalterlichen Welt aufgrund der Traditionen der Spätantike und der Ausbreitung des Christentums religiöser Natur war. Für die Zeitgenossen war ‚ihre‘ dominant christliche Welt- und Werteordnung daher eine ganz- und einheitliche, in der religiöse und säkulare Vorstellungen und Handlungspraktiken selbstverständlich miteinander verwoben und zueinander komplementär waren.

Der Aufbau des Buches spiegelt die Schwerpunkte de Jongs wider: Die ersten beiden Kapitel führen zunächst in die Zeit Ludwigs des Frommen sowie die einschlägigen Quellen ein, in erster Linie die erzählenden Texte. Die folgenden Kapitel 3 und 4 behandeln die politischen Diskurse, jeweils mit unterschiedlichen inhaltlichen und zeitlichen Schwerpunkten: Zunächst werden die Schlüsselbegriffe admonitio, correctio und increpatio hergeleitet und gezeigt, wie sie sich politisch bewährten. Während die freiwillige Buße des Königs in Attigny 822 für den König noch zu einem deutlichen Gewinn an Ansehen und Geltung führte, mündeten die vielfältigen Probleme, die sich seit der Mitte der 820er-Jahre abzeichneten, in einer Überforderung des „Penitential State“. Davon zeugen die schon erwähnte Gefangennahme Ludwigs sowie die dem König durch ein Synodalverfahren auferlegte Buße. Die zwei abschließenden Kapitel 5 und 6 diskutieren akribisch anhand der Quellen, wie die Zeitgenossen, zum Teil vielfach selbst Betroffene und Beteiligte, diese Krise wahrnahmen und mit den Texten Position bezogen.

De Jong vollzieht insofern nach, dass gerade Konflikte und Krisen religiös, als Gefahr für das Seelenheil gedeutet wurden, und zwar von allen Beteiligten. Es galt, ihnen mit entsprechenden, angemessenen Mitteln zu begegnen. Die Krisen der Regierung Ludwigs betrafen insofern alle und forderten sie gleichermaßen zum Handeln heraus: die Söhne etwa oder die adligen Gefolgschaften, deren Seelenheil gefährdet erschien, wenn sie dem ‚falschen‘ König angehörten; den König und die Bischöfe, die gemäß den geltenden Vorstellungen auf unterschiedlichen Positionen innerhalb der ecclesia ein ‚Amt‘ führten; sie waren dabei dem Vorbild des Hirten verpflichtet, der in erster Linie mahnt und korrigiert, sowohl das Fehlverhalten der ihm anvertrauten Schafe als auch das eigene. De Jong knüpft dabei an die einschlägigen Arbeiten von Gerhart Ladner und Giles Brown über die ‚karolingischen Reformen‘ an, als deren Kern sie die pastorale Verpflichtung zur correctio begreift.2 Ihr Vorhaben ist es zu zeigen, wie während der Regierung Ludwigs die Grundideen von Mahnung und Korrektur getestet und in praktische Politik umgesetzt wurden. Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei zum einen den politischen Akteuren. Sie begreift sie als „political community“ (S. 6), die, geprägt durch den allen gemeinsamen christlichen Welt- und Wertehorizont, am Hof gemeinsame Aufgaben und Erfahrungen teilte, zumal sie sich zum Teil über Generationen hinweg den Karolingern verpflichtet fühlte. Zum anderen will de Jong die dabei ausgebildeten politischen Debatten herausarbeiten, allerdings nicht als ‚reine‘ Diskurse, sondern jeweils zurückgebunden an eine so weit wie möglich zu rekonstruierende Ereignisebene.

Den erzählenden Quellen der Zeit kommt eine herausragende Bedeutung zu. De Jong greift dabei auf eigene Arbeiten in verschiedenen Forschungszusammenhängen zurück, in denen spätantike und mittelalterliche Texte als Spiegel zeitgenössischer Wahrnehmungen und Identitäten interpretiert worden sind. Die Grundannahme dieser vor allem im angloamerikanischen Sprachbereich betriebenen Forschungen lautet, dass Texte Wahrnehmungen und Verhalten verändern können und als solche von den Zeitgenossen auch bewusst eingesetzt worden sind.3 Exemplarisch genannt seien hier lediglich Janet Nelson sowie Rosamond McKitterick, die in ihrer neueren Biographie Karls des Großen übrigens ganz ähnliche Fragen verfolgt und deren Anliegen die Positionen de Jongs ergänzen.4 Die inhaltlichen und methodischen Unterschiede zur deutschsprachigen Forschung liegen auf der Hand. Hier konzentrierte man sich über Generationen hinweg auf Probleme von Staatlichkeit und staatlicher Einheit. Insofern konnte Ludwig – wie eingangs skizziert – als weltfremdes Opfer eigensüchtiger Söhne und ihrer hochadligen Verbündeten aufgefasst werden, denen es lediglich um den Ausbau eigener Herrschaftspositionen gegangen sei. Und die zeitgenössischen Quellen mit dem Fokus auf Fragen der Kirche sowie der christlichen Lebensführung wurden vor allem in paläographische oder kirchenrechtliche Traditionsstränge sortiert und damit von anderen lebensweltlichen Bereichen separiert.
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Mayke de Jong gelingt es, das Frankenreich unter Ludwig dem Frommen mit dem Label des „Penitential State“ in eine sprachlich vielleicht sperrige, aber inhaltlich treffende Form zu fassen. Sie leistet einen Beitrag dazu, die Kirchen- wieder in die politische Geschichte zu integrieren und deren religiösen Kern zu begreifen. Ihre Positionen und Argumentationen überzeugen, weil sie auf einer profunden Kenntnis der Quellen beruhen und diese überzeugend als Produkte der Zeit und der Zeitgenossen deuten. De Jongs Fragen und Interessen mögen in der deutschen Forschungslandschaft noch gewöhnungsbedürftig sein. Umso mehr ist dem Buch dort eine intensive Rezeption zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die bereits sehr um Revision dieser Urteile über Ludwig bemühte und darin überzeugende, bislang jedoch einzige moderne Biographie des Karolingers von Egon Boshof, Ludwig der Fromme, Darmstadt 1996.
2 Gerhart B. Ladner, The Idea of Reform. Its Impact on Christian Life and Action in the Age of the Fathers, Cambridge, Mass. 1959; Giles Brown, Introduction: the Carolingian Renaissance, in: Rosamond McKitterick (Hrsg.), Carolingian Culture. Emulation and Innovation, Cambridge 1994, S. 1-51.
3 Richard Corradini u.a. (Hrsg.), Texts and Identities in the Early Middle Ages, Wien 2006.
4 Rosamond McKitterick, Charlemagne. The formation of a European Identity, Cambridge 2008; dt.: Karl der Große, Darmstadt 2008.
5 Anders neuerdings Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts, Ostfildern 2008, vgl. dazu Monika Suchan: Rezension zu: Patzold, Steffen: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts. Ostfildern 2009, in: H-Soz-u-Kult, 27.07.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-077>.