S. Satjukow: "Die Russen" in Deutschland 1945-1994

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Titel
Besatzer. "Die Russen" in Deutschland 1945-1994


Autor(en)
Satjukow, Silke
Erschienen
Göttingen 2008: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Scherstjanoi, Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin

„Das Buch stellt sich die Aufgabe, die realen Gegebenheiten [der] sowjetisch-deutschen Besatzungsgeschichte über einen langen Zeitraum, nämlich von 1945 bis 1994, zu verfolgen. Die Perspektive über nahezu ein halbes Jahrhundert offenbart sowohl Konjunkturen, Kontingenzen wie auch überraschende Kontinuitäten. [... Die Untersuchung] freilich muss sich Beschränkungen gefallen lassen: Während die Rahmenbedingungen der Besatzung, ihre Gesetze, Strukturen und Fakten [...] für die DDR als Ganzes behandelt werden, sollen 'dichte Beschreibungen' anhand von drei ausgewählten Orten detailliert über den Besatzungsalltag Aufschluss geben. Am Beispiel der Elbmetropole Dresden, der mittleren Kulturprovinz Weimar und der an einem Truppenübungsplatz gelegenen thüringischen Siedlung Nohra werden spezifische Kristallisationsorte von Nahkontakten ausgemacht und auf ihre Geschichte und ihre Geschichten hin befragt.“ (S. 27) Es sollen „die alltäglichen Besatzungspraxen und deren Implikationen nachgezeichnet werden“ (S. 30), und es sei notwendig, „die oktroyierten und die freiwilligen Annäherungen der Akteure in ihre vielen Ausprägungen […] aufzuzeigen“, wobei drei Paradigmen „zusammengedacht“ werden sollen: „das räumliche, das soziale und das generationelle“ (S. 29). Satjukow sieht die Annäherungen auf einem „ambivalenten Feld“ und will gruppentheoretische Ansätze zur Erklärung heranziehen. Sie geht davon aus, dass man es mit „ganz unterschiedlichen Formen von materialen und symbolischen Grenzverletzungen“ zu tun hat (S. 28). Soweit die „Fragehorizonte“ (S. 27) der Verfasserin.

Eingeleitet wird das Buch mit Beobachtungen zum Truppenabzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland 1991 bis 1994. Teil zwei wird „Die Zeit der Besetzung“ betitelt und umfasst die Jahre 1945 bis 1961, während Teil drei „Die Zeit der 'Besatzung'“ heißt und die Jahre ab 1961 behandelt. Phase eins wird als „Zeit politischer und territorialer Definitionen“ präsentiert, Phase zwei als „Jahre der Ausformung und Ausprägung pragmatischer und praktikabler Besatzungs-Usancen“ (S. 30). Doch erschließt sich die Zäsur 1961 (die mehrmals durchbrochen wird) ebenso wenig durch die Darstellung wie die Apostrophierung von „Besatzung“ im Unterschied zur nicht apostrophierten „Besetzung“. Überhaupt ist es keine leichte Lektüre, die Zitate ausgenommen. Damit ist zum einen gemeint, dass selbst der kundige Leser nicht ohne Fremdwörterbuch auskommt und dass, zum anderen, ein Umgang mit Begriffen gepflegt wird, der zwar spielerisch daherkommt aber ungut verunsichert („Perestrojka 1947“, „Heiratsgeschäfte der Geheimdienste“, „Aufbaugeneration als Formatierer“ usw.).

Das Hauptproblem besteht darin, dass nicht so recht klar wird, was die Verfasserin eigentlich behandelt: eine politikgeschichtlich unterfütterte Strukturgeschichte der sowjetischen Armee, in Sonderheit eines völkerrechtlich-spezifisch agierenden Teils, nämlich die Truppen der sowjetischen Militärpräsenz in Ostdeutschland; oder beispielhaftes Verhalten im Alltag diverser Besatzer-Individuen und diverser Besetzter-Individuen, das sich hypothetisch zu Gruppenporträts verdichten, auf Konflikte hin befragen und sozialgeschichtlich wie kulturwissenschaftlich kommentieren ließe; oder wechselseitige Bilder („innere Bilder“), „Modi der Wahrnehmung“, Erinnerungstopoi, Vorurteile und Klischees, die vor dem Raster Fremdes – Eigenes und im Wandel als ein Ausdruck schwieriger kultureller Annäherung angesehen werden könnten. Natürlich darf man sich das ganze Kaleidoskop aufbürden, denn die Mischung hat fraglos ihre Reize. Doch geht das schwerlich im Durchmarsch durch 40 Jahre wechselvoller Geschichte. Auch Besatzungs-Usancen verlangen einen historisierenden Blick.

Die Zeit der größten Spannungen bis Mitte der 1950er-Jahre wird auf lediglich 30 Seiten abgetan, weshalb vieles verkürzt erscheint: So ist in der Rubrik „Kasernenalltag“ ausschließlich von Saufgelagen die Rede, die Arbeitsverhältnisse Deutscher mit Instituten der Besatzungsmacht werden allein als erzwungene, schlecht entlohnte, mit sexuellen Übergriffen verbundene Demütigung dargestellt. Unter „Stalins Tod“ wird das Faszinosum des Partei- und Staatsführers nur leicht tangiert, der gut erforschte 17. Juni 1953 erscheint in Kontexten aus selektiv rezipierter Fachliteratur. Und erstaunlich: Das alles kommt ohne das Wort „Friedensvertrag“ aus. Dass 1954 „der Kreml den Kriegszustand mit ‚Deutschland‘ für beendet“ (S. 76) erklärte, lässt erneut nach der Apostrophierung fragen. Mit wem sonst hatte sich die UdSSR denn im Kriegszustand befunden?

Dem gegenüber sind die vielschichtig angesprochenen 1970er- und 1980er-Jahre wohl das eigentliche Forschungsfeld der Verfasserin. Hier betritt Silke Satjukow, 2002-2006 im DFG -Forschungsprojekt "Sowjetische Streitkräfte und DDR-Bevölkerung. Eine Beziehungsgeschichte" angestellt, höchst verdienstvoll Neuland und präsentiert eine Unmenge von Daten und Sachverhalten, Befunde aus Quellen sowjetischer und ostdeutscher Behörden, Aussagen sowjetischer und ostdeutscher Zeitzeugen. Das alles wird die wissenschaftliche Debatte beleben. Wir erfahren viele Interna und bekommen viele Fakten im statistischen Vergleich dargeboten: die Hauptstandorte der Streitkräfte, rechtliche Regelungen zur Nutzung von Arealen und zur Zusammenarbeit mit DDR-Behörden; die Kosten des Unterhalts und Belastungen für den DDR-Haushalt; Statistiken zu Fahnenflucht und Todesfällen; Begleiterscheinungen von Manövern, „Netzwerke gemeinsamen Wirtschaftens“ und „obskure Wirtschaftsweisen“. Nicht spezifisch für die in der DDR stationierten Truppen, aber hier mitzubedenken: die Verfahren der Rekrutierung, Dienstgradstaffelungen, Eigenarten einer halblegalen, gewaltvollen Mannschaften-Hierarchie und das Verhältnis zu den sowjetischen Geheimdiensten. Detailliert und mit zahlreichen Beispielen beschreibt die Verfasserin verschiedene Straftaten durch Angehörige der sowjetischen Truppen und Strafverfolgungen, wofür Akten des DDR-Innenministeriums hilfreich waren. Schließlich geht sie auf Bestimmungen und bürokratische Realitäten ein, die private Beziehungen behinderten. Die Darstellungen zu den „sowjetisch-deutschen Eheschließungen“ und Übersiedlungen in die DDR unterscheidet allerdings nicht zwischen Bindungen, die sich aus Bekanntschaften mit Besatzungssoldaten ergaben (das waren eher die wenigsten) und solchen, die Ergebnis anderer Kontakte einer sich zunehmend nach Osten öffnenden DDR-Gesellschaft waren. Die Beschreibungen sind wirklich schön dicht, wenngleich die versprochenen drei Paradigmen nicht durchscheinen. Sehr vieles ist an-, zu wenig ist ausgeleuchtet. Die Verfasserin nutzt sehr unterschiedliche Quellen, die sie alle gleich behandelt. Insbesondere ihr Umgang mit Zeitzeugen ist zu unkritisch. „In aller Öffentlichkeit Zeugnis abzulegen ist die vornehmste Aufgabe des Zeugen“ 1, annonciert sie eine Lehrveranstaltung an der von Lutz Niethammer geprägten Universität Jena. Was würde der wohl dazu sagen?

Methodische Fragen wirft das Buch dort auf, wo aus einzelnen Quellen heraus verallgemeinert wird. Etwa hier: „Aus der Perspektive der Besatzer stellte die eroberte Zone in den ersten Jahren eine terra nullius dar: Sie handelten in dem archaischen Verständnis, dass alle Räume, Stadt und Land, Haus und Stall, ohne weiteres frei verfügbar seien. Sämtliche Rechte daran waren durch die Kriegsschuld der Deutschen obsolet geworden.“ (S. 63) Die Verfasserin liebt verschrobene Kommentare. So entwickelten sich beim „ambulanten Kleintausch in semiöffentlichen Räumen“ Schiebereien „netzartig um bestimmte menschliche Nuklei [Embryonen?], was sich „makroökonomisch gesehen […] als fragwürdiger circulus vitiosus“ erwies. „Insofern entpuppten sich zahlreiche Siege der deutsch-sowjetischen Bundesgenossen über die Mangelwirtschaft ökonomisch als Pyrrhussiege.“ (S. 227) Solche Semiforschheit sollte sich in der Fachwelt nicht durchsetzen.
Und wird es wirklich üblich, Relativierungen vor allem als Stilmittel einzusetzen? Sowjetische Kasernen „die bis zuletzt [Ja, Teufel auch!] nach einer Gemengelage aus Schweiß und Schmieröl, Kohl, Knoblauch, billiger Seife und beißend süßlichen Papirossi rochen, und deren leuchtendes Grün und Blau `deutschem` Farb- und Geschmacksempfinden scheinbar widersprach“ (S. 96), machen stutzig. Wieso scheinbar? Sie widersprachen. Und sichtbar auch dem Gout der Verfasserin (um mal ein anderes Fremdwort vorzuschlagen).

Das Kapitel „Besatzer und Besetzte – theoretische Erklärungsansätze“ täuscht vor zu resümieren. Tatsächlich gehört dieser hintere Teil zu den Ausgangsüberlegungen. Am Ende erfahren wir dann zu den „chiastischen Beziehungen“ zwischen Siegern und Besiegten: „Es bleibt zu fragen, welche Wandlungen diese aufgebürdeten Lasten in der jahrzehntelangen tagtäglichen Konfrontation mit den Anderen erfuhren.“ (S. 330). Genau, das bleibt zu fragen. Das Buch wird den öffentlichen Diskurs dennoch prägen. Mal sehen, wie.

Anmerkung:
1 <http://www.nng.uni-jena.de/lehrveranstaltungen_lehrstuhl_nng.html> (08.03.2010).

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