J. Skriebeleit: Erinnerungsort Flossenbürg

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Titel
Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder


Autor(en)
Skriebeleit, Jörg
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
389 S., 21 Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Siebeck, Ruhr-Universität Bochum

2010 wird der 65. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager begangen. Ebenso lange währt die Nachgeschichte der Orte, an denen sich diese Lager einst befunden haben. Was heute als ‚selbstverständlich’ erscheint, nämlich die Existenz institutionalisierter Gedenkstätten an einigen (!) dieser Orte, ist allerdings ein erklärungsbedürftiges Phänomen. In der Bundesrepublik setzte eine anhaltende öffentliche Thematisierung der ‚Nach-Orte’ erst in den frühen 1980er-Jahren ein, als eine ‚neue Geschichtsbewegung’ deren systematische ‚Verdrängung’ beklagte und sich ihrer politisch-pädagogisch bemächtigte.1

Das abrupte Ende der bipolaren Weltordnung und ihrer ideologischen Gewissheiten stellte bisherige Formen des öffentlichen Gedächtnisses an das NS-Regime in den 1990er-Jahren infrage und beförderte ein neues gedächtniskulturelles Reflexionsniveau. Dadurch wurde ein zunehmend historisierender Blick auf die ‚Nach-Orte’ ehemaliger Konzentrationslager möglich.2 In den Fokus gerieten dabei vor allem die vor Ort zwischenzeitlich installierten oder deinstallierten Repräsentationen der Lagervergangenheit sowie damit verbundene Modi der Sinnstiftung.3

Daran anknüpfend entstehen seit einigen Jahren ausführliche Forschungsarbeiten zur Nachgeschichte einzelner Lager bis in die Gegenwart.4 Jörg Skriebeleit, der seit 1999 die Gedenkstätte Flossenbürg leitet, hat nun eine auf langjähriger Forschungsarbeit basierende Dissertation zum ‚Erinnerungsort Flossenbürg’ zwischen 1945 und 1995 vorgelegt. Es geht ihm um eine „mikroanalytische“ Untersuchung der „sozialen Praxis der Vergangenheitsbildung am konkreten Beispiel des KZ Flossenbürg“ (S. 14).

Damit ist das besondere Potenzial solcher Studien benannt: Gedächtnisgeschichte wird hier nicht als normativ grundierte Zeitdiagnose geschrieben, in der ‚symptomatische’ gedächtniskulturelle Phänomene nur zur Illustration jeweiliger Thesen herangezogen werden. Vielmehr wird versucht, Gedächtnisgeschichte(n) anhand konkreter Orte empirisch zu rekonstruieren. Allzu schlichte Narrative über ‚die’ Geschichte ‚des’ Umgangs mit ‚der’ NS-Vergangenheit geraten dabei schnell ins Wanken. Stattdessen tritt der prinzipiell mehrdimensionale und dabei genuin politische Charakter öffentlicher Gedächtniskultur zutage. Denn gefragt wird nicht nur nach jeweiligen historischen Kontextbedingungen und realisierten Vergangenheitsrepräsentationen, sondern auch danach, was nicht realisiert wurde. Ein solcher Blick hinter die Kulissen macht allerart eigensinnige Akteure und deren komplexe Interessenkonflikte sichtbar, die auf verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Ebenen gleichzeitig ausgehandelt werden können. Nicht zuletzt wird im Umgang mit den ‚Nach-Orten’ auch manches Triviale und Pragmatische erkennbar, ebenso wie ortsspezifische Eigendynamiken und Kontingenzen.

Skriebeleit skizziert einleitend zwei Phänomene, denen er auf den Grund gehen will (S. 9ff.): Einerseits verweist er auf den relativ geringen Bekanntheitsgrad des Lagers Flossenbürg, bei dem es sich um einen der großen Lagerkomplexe handelte.5 Andererseits fragt er nach einem offensichtlichen Bedeutungswandel des ‚Erinnerungsorts’ vom ‚Stigma’ zum ‚Standortfaktor’ der Gemeinde Flossenbürg.

Die gedächtniskulturelle Marginalisierung des Konzentrationslagers Flossenbürg erklärt Skriebeleit zunächst mit der vergleichsweise wenig ‚spektakulären’ Szenerie, die die US-Armee bei der Befreiung des bereits weitgehend geräumten Lagers vorfand (S. 52ff., S. 75). Später habe sich die Abwesenheit einer organisierten Lagergemeinschaft bemerkbar gemacht (S. 352). Letzteres sei unter anderem darauf zurückzuführen, „dass Flossenbürg unter den ehemaligen deutschen politischen Gefangenen als ein wenig symbol- und prestigeträchtiges Konzentrationslager galt“ (S. 273): Flossenbürg erschien als ‚grünes Lager’, in dem nicht ‚Politische’, sondern ‚Kriminelle’ die einflussreichen Häftlingsfunktionen innehatten (S. 41).

Dass in Flossenbürg 1947 mit einem katholisch geprägten Gedenkhain (S. 97ff.) dennoch eine der „europaweit [...] ersten Gedenkstätten am Ort eines ehemaligen Konzentrationslagers“ entstand (S. 152), verdankt sich einer zufälligen Konstellation: In einem zwischenzeitlich vor Ort installierten Displaced-Persons-Camp war auch eine Gruppe ehemaliger polnischer KZ-Häftlinge untergebracht. Diese waren zwar selbst nicht in Flossenbürg inhaftiert gewesen, engagierten sich aber erfolgreich für eine kommemorative Gestaltung des Krematoriumsbereichs und eines ‚Ehrenfriedhofs’, der 1945 auf Geheiß der US-Armee im Zentrum der Gemeinde Flossenbürg eingerichtet worden war (S. 97ff.). Beide Ensembles wurden 1949 unter staatlichen Schutz gestellt.

Laut Skriebeleit wurde damit allerdings eine folgenreiche ‚Einhegung’ des Flossenbürg-Gedächtnisses festgeschrieben, das nun auf Jahrzehnte als unkonkretes Totengedenken gepflegt wurde. Umso freizügiger konnte die Gemeinde Flossenbürg – die sich ohnehin als entschädigungsberechtigtes ‚Opfer’ des Konzentrationslagers imaginierte (S. 209ff.) – nun über den Rest des historischen Geländes verfügen: Das Areal des Häftlingslagers wurde mit Wohnhäusern bebaut, weitere Flächen und Immobilien wurden an Unternehmen verpachtet (S. 229ff.).

Während die Gemeinde ihr Verhältnis zum ehemaligen Lager auf diese Weise ideell und ökonomisch konsolidieren konnte, begann in den späten 1950er-Jahren ein „evangelischer Gedenktourismus“ (S. 259) zu Ehren des in Flossenbürg ermordeten Theologen Dietrich Bonhoeffer. Rund um den 20. Jahrestag der Befreiung wurde auch des ebenfalls im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 hingerichteten Admiral Canaris gedacht; zudem fanden antifaschistische Veranstaltungen und traditionelle Pilgerfahrten westeuropäischer Überlebender statt (S. 264ff.). Überregionale Beachtung fand indes nur das Gedenken an die Protagonisten des 20. Juli (S. 268ff.), das bald auf massive Kritik aus dem linken Spektrum stieß (S. 305).

Parallel zu den sich etablierenden partikularen Gedenkpraktiken begann die Gemeinde Flossenbürg – gewissermaßen pionierhaft – ihre notgedrungene Auseinandersetzung mit der „Schmach, die auf unserem Volk lastet“, als ‚vorbildlich’ im Sinne der „Völkerverständigung“ zu kommunizieren (zit. auf S. 290). All das fand bemerkenswerterweise ohne genauere Kenntnis der Lagervergangenheit statt: Eine historiographische Studie zu Flossenbürg, in der auch ein breiteres Spektrum von Opfern thematisiert wurde, erschien erst 1979. Auf die nun wachsende Kritik am ‚verharmlosenden’ Zustand des Lagergeländes reagierte die sonst wenig innovationsfreudige bayerische ‚Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen’, in deren Zuständigkeit die Gedenkstätte seit 1952 fiel, mit einer historischen Ausstellung, die 1985 eröffnet wurde (S. 303ff.).

‚Holocaust’-Serie und ‚Geschichte von unten’, die Kontroversen um Kohl’sche Geschichtspolitik und der gedächtnispolitische Institutionalisierungstrend der 1990er-Jahre prägten seither auch Flossenbürg (S. 317ff.); es kam zu einer „nachholende[n] Institutionalisierung“ des Gedenkens (S. 354). Der 50. Jahrestag der Befreiung wurde erstmals als Staatsakt begangen, an dem zahlreiche Überlebende teilnahmen (S. 347f.). Seither ist eine „arbeitende Gedenkstätte“ entstanden, die einen „europäischen Erinnerungsort“ (S. 354) professionalisiert und topographisch erweitert hat.

Detailliert beschreibt Skriebeleit Diskurse, Praktiken, Interessen und Entscheidungen bezüglich der (Nicht-)Gestaltung des ‚Erinnerungsorts Flossenbürg’. Dabei bleibt er konsequent ‚vor Ort’ und verzichtet weitgehend auf Kontextualisierungen und Interpretationen, die sich nicht schlüssig aus seinem umfangreichen Quellenmaterial ergeben. Diese Engführung auf Flossenbürg ist sicher nicht für jeden Leser in allen Details von Interesse. Aber wer sich darauf einlässt, lernt eine Geschichte kennen, die sich weder reibungslos in vorherrschende Narrative (west)deutscher ‚Vergangenheitsbewältigung’ noch in gängige kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien fügt.

Entsprechend isoliert erscheint daher ein einleitendes Theoriekapitel über „Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung“ (S. 15ff.). Hier werden zahlreiche analytische Kategorien und theoretische Fragen eingeführt, die in der anschließenden Darstellung – wenn überhaupt – nur kursorisch wieder aufgenommen werden. Das ist umso bedauerlicher, weil sich einige dieser Begrifflichkeiten mit Blick auf den konkreten Forschungsgegenstand als unbrauchbar, irrelevant oder revisionsbedürftig erweisen. Andere Kategorien hätte man fruchtbar machen können, etwa ein (nicht nur) von Rolf Lindner vorgeschlagenes dialektisches Modell des ehemaligen Lagers als eines zugleich ‚definierten’ und ‚definierenden’ Raums (S. 27). Während aber Gedächtnisgeschichte offensichtlich auch ohne kohärente Theorieentwürfe rekonstruiert werden kann, muss eine sinnvolle Theoriebildung öffentlicher Gedächtniskultur beginnen, sich an empirischen Detailstudien wie dieser zu orientieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. Detlef Garbe (Hrsg.), Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983.
2 Allerdings gab es durchaus ‚Vorboten’; vgl. Jochen Gerz’ gedenkstättenreflexives ‚Dachau-Projekt’ von 1974 sowie eine Dokumentation von Harold Marcuse u.a., Steine des Anstoßes. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Denkmalen 1945–1985, hrsg. vom Museum für Hamburgische Geschichte, Hamburg 1985.
3 Vgl. bes. Detlef Hoffmann (Hrsg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945–1995, Frankfurt am Main 1998; James E. Young, Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997.
4 Vgl. Herbert Marcuse, Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp, 1933–2001, Cambridge 2001; Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006 (rezensiert von Jörg Skriebeleit, in: H-Soz-u-Kult, 14.11.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-119> (23.02.2010)).
5 Zwischen 1938 und 1945 waren in Flossenbürg und seinen Nebenlagern über 100.000 Menschen inhaftiert, von denen etwa 30.000 nicht überlebten (S. 49).

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