H. Bruland: Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit

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Titel
Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Geschichten von der Natur des Menschen


Autor(en)
Bruland, Hansjörg
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
509 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Jarzebowski, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

In seiner Dissertation bietet Hansjörg Bruland einen breitgefächerten Einstieg in das Thema Wilde Kinder. Das Phänomen ist seit dem 13. Jahrhundert dokumentiert, wie in einem Einführungskapitel ausführlich gezeigt wird. Hier referiert der Autor die Quellen des 15.-18. Jahrhunderts, in denen Geschichten von Wilden Kindern erzählt werden. In diesen Geschichten werden einige Mädchen, vor allem aber Jungen geborgen, die zuvor verwildert im Wald lebten, sich auf Händen und Füßen fortbewegten, rohes Fleisch aßen, nicht sprechen konnten und meistens mit übermäßiger Behaarung ausgestattet waren. Dass es sich trotz aller behaupteten Augenzeugenschaft dennoch nie um Kinder handelte, die wirklich längere Zeit im Wald gelebt hatten, wird relativ schnell deutlich; ebenso der Umstand, dass die Autoren voneinander abgeschrieben und die jeweilige Vorlage kontextspezifisch modelliert haben. Folgerichtig befasst sich Bruland mit der Rezeptionsgeschichte vorwiegend des 18. Jahrhunderts und bettet diese in zahlreiche wissenschaftliche Diskurse und Kontexte ein.

Im zweiten Kapitel befasst sich Bruland mit Forschungen zur Kindheit, zum Wald, zu tierischen ‚Zieheltern’ (Wölfen und Bären) sowie mit der Denk- und Diskursfigur vom Wilden Mann, vor und während der europäischen Expansion. Die Ausführungen zur Kindheitsgeschichte stützen sich auf vorwiegend ältere Studien zur Kindsaussetzung, die häufig mit anthropologisch-psychologischen Konstanten arbeiten, vor allem in Bezug auf die mutmaßlichen Folgen der frühen Trennung von den Eltern. Im Abschnitt zum Wald „als ‚Realität’ und Imagination“ (S. 79-101) gelingt es Bruland dann, einen wichtigen Kontext für die Wilden Kinder facettenreich darzustellen. Eindrücklich zeigt der Autor, dass der Wald sehr differenziert wahrgenommen wurde, in Zonen (hell, dunkel, bewirtschaftet, urbar, Dickicht etc.) aufgeteilt war und längst nicht nur als undurchdringliche Grenze zur Zivilisation fungierte, wie man es sich heute vielleicht denken mag. Wenn auch als streckenweise bedrohlicher und ambivalenter Bereich, bot der Wald mit seinen Lichtungen, Weideflächen und der oftmals unmittelbaren Nähe zu einer Ansiedlung Ausreißern oder aus der Gesellschaft „heraus gefallenen“ Menschen durchaus die Möglichkeit, eine Weile zu überleben oder von Ort zu Ort zu gelangen, ohne unmittelbar aufzufallen. Ebenso wichtig wie für das reale Überleben war der Wald auch für die Imagination der Dorfbewohner und -bewohnerinnen. Hier übernahm er wichtige Funktionen als Projektionsfläche, als mutmaßlicher Aufenthaltsort für Fabeltiere und mystische Wesen, als Gefahrenbereich. Er hatte somit auch eine disziplinierende Funktion. Im Vergleich etwa mit England kann der Autor zeigen, dass die Vorstellungen von Wilden Kindern unmittelbar mit großen, zusammenhängenden Waldflächen zu tun hatte, die in England fehlten. Brulands Ausführungen zu den tierischen ‚Zieheltern’ untermauern die Vermutung, dass es die Wilden Kinder (ebenso wie den Wilden Mann), so wie sie beschrieben wurden, nicht gegeben hat, da es zum Beispiel im deutschen Raum nach 1800 kaum noch Wölfe und keine Bären mehr gab, diese aber regelmäßig als überlebenssichernde Fürsorger für Wilde Kinder auch des 18. Jahrhunderts auftauchen. Die Allgegenwärtigkeit der fürsorglichen Tiere sei eher als Diskurselement in der Debatte um die Menschlichkeit der Wilden Kinder zu verstehen.

Im dritten Kapitel verlegt sich Bruland auf die Rezeptionsgeschichte im 18. Jahrhundert und fokussiert die unterschiedlichen Diskurse und Kontexte, in denen dem Wilden Kind Bedeutung verliehen wurde. Zentrales Beispiel ist hier Peter von Hameln, der vermutlich 1724 aus einem Hamelner Wald geborgen wurde und erst die Aufmerksamkeit auf sich zog, als sich der König von England, Georg I., während eines Aufenthaltes in seiner Heimatstadt Hannover für den Jungen zu interessieren begann. Es gelingt Bruland, eine über den Kurs der Zeit – Peter von Hameln starb mit über 75 Jahren in England – veränderte Wahrnehmung des bis zum Lebensende wild boy genannten Mannes nachzuzeichnen. Zugleich beleuchtet Bruland das sich verstärkende wissenschaftliche Interesse der noch jungen Disziplinen der Medizin, der Anthropologie und der in den Kinderschuhen steckenden Psychologie. Ohne dieses wachsende Interesse, so vermutet der Autor, wäre Peter von Hameln evtl. als unbekannter Alter gestorben. Festzustellen ist aber, dass das Interesse an seiner Person vielleicht nachließ, nicht aber an dem Grenzphänomen, das er verkörperte und das sich je nach Kontext und Perspektive unterschiedlich darstellte.

Um dieses zu veranschaulichen, begibt sich Bruland im vierten Kapitel auf das tendenziell unübersehbare Terrain aufklärerischer Vorstellungen zu Natur/Kultur, Zivilisation/Wildheit, Leib/Seele und vieles mehr. Bruland wirft Schlaglichter auf die Diskussionen und Standpunkte, wie sie hauptsächlich im französisch-, englisch- und deutschsprachigen Raum vertreten wurden. Er zeichnet Konflikte und konvergente Ansichten nach und kondensiert diese konsequent zu einer aufklärerischen Linie, die einen grundlegenden Wandel in der Wahrnehmung von und den Umgang mit Wilden Kindern oder Wilden Menschen symbolisiert. Als eine Achse dieses Wandels macht Bruland anhand von Reiseberichten die Erkundung vormals unbekannter Weltgegenden und ihrer Tier- und Menschenwelt aus, exemplarisch illustriert an der Debatte über Menschenaffen/Affenmenschen. Eine weitere Diskussionslinie, die von der Herausbildung naturwissenschaftlicher Disziplinen geprägt war, ist zum Beispiel die Frage nach der ursprünglichen Quadrupedität des Menschen und seiner Verwandtschaft mit dem Tier. Hier kann Bruland zeigen, dass sich die gesamte europäische Geisteselite wie etwa Kant, Herder, Condillac, Moscati und viele mehr an dieser Debatte beteiligten und offenbar philosophische Fragen permanent mitverhandelt wurden. In der wissenschaftlichen Rezeption gegen Ende des 18. Jahrhunderts geraten die Wilden Kinder vergangener Epochen vollends zur Fiktion, der Realitätsgehalt der sie bezeugenden Berichte und Überlieferungen wird stark bezweifelt, ihr Auftauchen wird als Phänomen für die Wissenschaft allenfalls den „Sophisten“ zugewiesen, wie sich Johann Friedrich Blumenbach 1811 ausdrückte (S. 391). Schließlich erlangte die Auffassung Überzeugungskraft, bei den Aufgefundenen habe es sich im Wesentlichen um geistig zurückgebliebene Menschen gehandelt. Dieses wurde gegebenenfalls mit aufwändigen Schädelzeichnungen, die im Buch auch abgebildet sind, untermauert.

Für das 19. Jahrhundert beschreibt Bruland im kurzen fünften Kapitel die staatstheoretischen und naturwissenschaftlichen Diskurse, die schließlich zu einer Einbindung der Wilden Kinder in ein Modell der abgestuften menschlichen Entwicklung führte. Ihre Existenz wurde nun nicht mehr bezweifelt, sondern einsortiert in eine rassistisch aufgeladene Staats- und Nationenideologie, die „auch die Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus hätte hervorbringen können“ (S. 444). Im abschließenden Kapitel fasst Bruland seine Ausführungen zu verschiedenen konkurrierenden und interagierenden Rezeptionsmustern und ihren diskursiven Kontexten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf äußerst verständliche Art und Weise zusammen und hegt damit die Weitläufigkeit, die weite Strecken des Buches ausmacht, sinnvoll ein.

Indem Bruland sich entscheidet, eine Rezeptionsgeschichte der Wilden Kinder im 18. und 19. Jahrhundert zu schreiben, umgeht er die historiographische Herausforderung, die Wilden Kinder im Kontext ihres Auftauchens aus dem Wald zu situieren, als Imagination oder aber, wie es zwischendurch immer wieder aufscheint, als soziales Problem. Eine ältere sozialgeschichtliche Erklärung, die Bruland perpetuiert, sieht die Wilden Kinder als ausgesetzte Kinder, zu denen sich niemand bekennen möchte. Im späten 18. Jahrhundert konvergiert diese Erklärung mit der Auffassung, die Kinder seien aufgrund geistiger Abnormalitäten ausgesetzt worden und könnten deswegen nicht sprechen etc. Dieses Defizit an sozialhistorischen Erklärungen, die aus dem konkreten historischen Kontext heraus erarbeitet werden, könnten und sollten künftige Studien beheben. Dann wird es eventuell auch möglich sein, die von Bruland gezeichneten Traditionslinien in der wissenschaftlichen Verwertung Wilder Kinder bis ins Mittelalter hinein zu durchbrechen. Überzeugend zeigt Bruland hingegen, dass grundlegende Fragen nach der Natur(haftigkeit) des Menschen am Beispiel der Wilden Kinder durch die Aufklärung hindurch verhandelt werden, was in künftigen Studien auch in geschlechtergeschichtlicher Hinsicht interessant sein dürfte. Etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen die bildhaften Kapitelüberschriften, die sich mit „Schattenwürfe“, „Sprung ins Licht“, „Leuchtfeuer“ einer speziellen Lichtmetaphorik bedienen. Zudem muss angemerkt werden, dass das informative, mit Literaturverweisen und Belegen reich versehene, auf extensiver Literaturarbeit beruhende Buch Kürzungspotentiale aufweist. Die Leistung dieser Dissertation liegt darin, von einem vermeintlichen Randthema aus zu zentralen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts vorzustoßen und so die hohe Funktionalität der Rede von den Wilden Kindern in Aufklärungsdebatten nachzuzeichnen.

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