J. Brophy: Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland

Cover
Titel
Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland, 1800–1850.


Autor(en)
Brophy, James M.
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
£ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Schröder, Berlin

In seinem Buch über Populärkultur und Öffentlichkeit im Rheinland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts möchte James M. Brophy zwei Untersuchungsgegenstände zu einem „analytischen Feld“ (S. 11) vereinen. Brophy betont die Wichtigkeit des Konzepts kommunikativer Öffentlichkeit für die Erklärung moderner Politik im Zeitalter der Massen, auch wenn das klassische Konzept Jürgen Habermas’ einiges an Kritik einstecken musste. An diese schließt er selbst an. Die Untersuchung von „Öffentlichkeit“ habe sich hauptsächlich mit Printmedien und ihren Produzenten sowie Konsumenten beschäftigt, bei denen es sich allerdings mit dem Bürgertum um eine schmale soziale Elite handele. Arbeiter, Handwerker, Bauern sowie andere Angehörige unterbürgerlicher Schichten – immerhin drei Viertel der Gesamtbevölkerung – blieben dabei außen vor. Die genauere Untersuchung der Politisierung dieser Bevölkerungsteile sei aber durchaus wichtig. Sie könne nicht nur zeigen, wie die bürgerliche Elite ihre politischen Vorstellungen auch außerhalb ihrer erlesenen Kreise verbreiten konnte, sondern auch, wie im Gegenzug die Meinungsbildung dort Rückwirkungen auf die elitäre politische Vorstellungswelt hatte. Um dem nachzugehen, bringt Brophy als zweiten Untersuchungsgegenstand die im Titel seiner Studie an erster Stelle genannte Populärkultur ins Spiel. Den Begriff der Öffentlichkeit auf diese auszuweiten ermögliche, auch jenseits fester sozialer Gruppen oder Institutionen der Verbreitung von Ideen und Informationen nachzugehen. So könne ein vollständigeres Bild von der Politisierung der Bevölkerung vor der Revolution von 1848/49 gezeichnet werden.

Konkret verfolgt Brophy dieses Konzept in sechs thematisch gegliederten Kapiteln über die kulturellen Praktiken des Lesens und des Singens, über öffentlichen Raum, Karneval und Tumulte sowie über die Rolle der Religion. Die Anlage der Arbeit überzeugt dabei durchgehend. So kann Brophy vielfältige Verbindungen zwischen der klassischen publizistischen Öffentlichkeit der Zeitungen, Flugschriften und Petitionen und nun von ihm ausführlich analysierten Genres wie Kalendern, Drohbriefen, Gerüchten, auf dem Markt verkauften Waren, Katzenmusik, Liedern, Büttenreden, Karnevalsumzügen oder Predigten aufzeigen. Auch in diesen „Texten“ wurden – teils mehr, teils weniger verdeckt – politische Themen wie verfassungspolitische Überlegungen oder die Pressefreiheit verhandelt. Auf allen Ebenen ihres alltäglichen Lebens waren einfache Rheinländer so von Debatten um die Zukunft von Staat und Gesellschaft umgeben, und nicht selten wurden sie dazu aufgefordert, zuweilen explizit, selbst Position zu beziehen. Die Studie macht sehr deutlich, dass sie damit zur kritischen Reflexion über die Ordnung ihres Gemeinwesens angehalten und als mündige politische Subjekte behandelt wurden.

Was die Wechselwirkungen zwischen bürgerlicher und nichtbürgerlicher Öffentlichkeit angeht, so beschreibt Brophy vor allem einen Top-down-Prozess. Im Kapitel über den öffentlichen Raum argumentiert er zwar für eine auffällige inhaltliche Affinität von Drohbriefen zu den konventionellen Genres, mit denen sich Untersuchungen zur Öffentlichkeit gerne beschäftigen: Petitionen, Zeitungsartikel, Reden. In den Briefen ließen sich sogar Probleme und Themen identifizieren, die erst später von der bürgerlichen Öffentlichkeit aufgenommen wurden. Auf die berühmten Mosel-Artikel von Karl Marx treffe dies etwa zu. In den meisten Fällen verweist Brophy aber darauf, wie bürgerliche Eliten ihre Ideen und Forderungen gewissermaßen durch Übersetzung in die „Umgangssprache“ der Populärkultur zu verbreiten vermochten. Am deutlichsten ist dies in den Untersuchungen der Kalender und des Liedguts nachzuvollziehen. Um ihre Überlegungen einem größeren Publikum zugänglich zu machen, beteiligten sich führende Liberale wie Karl Mathy ganz bewusst an der Gestaltung von Volkskalendern, die selbst die größten politischen Zeitungen von ihrer Verbreitung her weit in den Schatten stellten. Genauso versuchten sie gezielt die Praxis des Singens zu beeinflussen, um ihre politischen Überzeugungen weiter zu popularisieren. Der Gesang, dies zeigen Brohpys Beispiele auch, konnte damit vor allem der Konstitution einer soziale Grenzen verwischenden oppositionellen Identität dienlich sein. Daran, wer in einem rheinischen Gasthaus oder auf dem Markt mitsang und wer nicht, ließ sich erkennen, wer für mehr Freiheit war und wer nicht (oder zumindest gegen die Preußen). Interessant wäre an diesen Stellen manchmal eine genauere Einschätzung gewesen, wo die Grenzen des bürgerlichen Einflusses auf die Populärkultur lagen. Dass es sie gab, darauf deutet etwa Nikolaus Beckers berühmt-berüchtigtes Rheinlied „Sie sollen ihn nicht haben…“ hin, das sich für kurze Zeit in der breiten Bevölkerung einer beispiellosen Beliebtheit erfreute. Dies tat es ganz ungeachtet der Tatsache, dass es von führenden bürgerlichen Liberalen, wie auch Brophy bemerkt (S. 93f.), nicht sehr geschätzt wurde.

Zuweilen gerät in der Studie das Titelthema ein wenig aus dem Fokus, was wohl vor allem den vielen äußerst detailreichen Schilderungen von Hintergründen und einzelnen Ereignissen geschuldet ist. Am deutlichsten zeigt sich dies im fünften Kapitel über Tumulte und Aufruhr. Brophy beschäftigt sich hier mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Zivilisten und Vertretern der Staatsmacht in der preußischen Rheinprovinz, wo es im Vergleich mit anderen Regionen Deutschlands eine auffällig hohe Anzahl solcher Vorkommnisse gab. Die vielen Tumulte waren dabei sicher kein Teil einer politischen Bewegung, doch stellten sie, soweit vermag die Argumentation zu überzeugen, oft die Praxis und damit schlussendlich auch die Legitimität der preußischen Herrschaft in Frage. Bei einigen Anlässen, etwa die Besteuerung betreffend, sei gar eine gewisse Nähe zwischen dem Aufruhr auf der Straße und Protest in der bürgerlichen Öffentlichkeit festzustellen. Für die meisten der von Brophy geschilderten Episoden, so sei angemerkt, gilt dies allerdings nicht. Das Ansinnen der liberalen bürgerlichen Elite war es ja gerade, das Rheinland als loyal gegenüber der preußischen Monarchie darzustellen1, um wirkungsvoller für Fortschritt innerhalb der bestehenden Verhältnisse werben zu können. Wenn betrunkene Bauern Napoleon hochleben ließen oder preußische Soldaten beschimpften und verprügelten, so unterminierten sie geradezu die Strategie der liberalen Publizistik.

Dieser Punkt verweist ganz allgemein auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen bürgerlicher und nichtbürgerlicher Öffentlichkeit. Brophy zeigt hier in seiner Studie vor allem Kohärenzen auf, was natürlich hinreichend ist, um die These von einer Beziehung zwischen beiden Sphären zu stützen und damit für einen erweiterten Öffentlichkeitsbegriff zu werben. Das Verhältnis der Verbreitung von Ideen und Argumenten in den unterschiedlichen Genres dieser erweiterten Öffentlichkeit noch genauer zu verfolgen und zu bestimmen, wäre aber ein lohnenswertes Unterfangen. So finden sich hier möglicherweise gute Erklärungen etwa für die Aufspaltung der liberalen Bewegung in Gemäßigte und Radikale in den 1840er-Jahren oder für die Diskrepanz zwischen der Politik „der Straße“ und der Paulskirchenversammlung in der Märzrevolution.

Brophys Studie ist insgesamt, so gilt es unabhängig von diesen Anmerkungen hervorzuheben, gut zu lesen und vor allem lesenswert. Das Buch überzeugt konzeptionell, was insbesondere die im Zentrum der Arbeit stehende Neujustierung des Begriffs der Öffentlichkeit und ihrer Rolle für partizipatorische politische Systeme betrifft. Inhaltlich zeichnet es zudem ein breites und detailreiches Panorama rheinischer Populärkultur und ihrer politischen Dimension. Was genau unter der oftmals formelhaft angeführten ‚Politisierung der Bevölkerung‘ im Vormärz zu verstehen ist, darauf bietet Brophys Studie quellennahe und aufschlussreiche Antworten.

Anmerkung:
1 Siehe zum Beispiel: David Hansemann, Preußen und Frankreich. Staatswirthschaftlich und politisch, unter vorzüglicher Berücksichtigung der Rheinprovinz, 2. Auflage, Leipzig 1834, S. 284f.; Joseph Hansen (Hrsg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850. Band 1: 1830–1845, Essen 1919, S. 747.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension