H. Düselder u.a. (Hrsg.): Adel und Umwelt

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Titel
Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Düselder, Heike; Weckenbrock, Olga; Westphal, Siegrid
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Hufschmidt, LWL-Freilichtmuseum Hagen, Westfälisches Landesmuseum für Handwerk und Technik

Das produktive Forschungsprojekt „Kultur und Herrschaft des Adels in Nordwestdeutschland in der Frühen Neuzeit“ legt nach einer Publikation zum Adel als sozialer Gruppe1 mit dem vorliegenden Band Tagungsbeiträge vor, die den niederen landsässigen Adel der Frühen Neuzeit in seinen Beziehungen zu seiner Umwelt auf sehr unterschiedliche Weise thematisieren.2

Mit der Umweltgeschichte, die die historische Mensch-Umwelt-Beziehung untersucht und historische Umweltbedingungen und deren Wahrnehmung rekonstruiert, wählen die Herausgeberinnen einen Zugang, der bisher meist mit der Neueren und Neuesten Geschichte verbunden wird. Für die Frühe Neuzeit wurde bislang vor allem die Frage nach der Wahrnehmung von Umwelt gestellt. Dass der Umweltbegriff noch wenig festgelegt ist, wird von den Herausgeberinnen keineswegs als Nachteil begriffen. In ihrer Einführung stellen Heike Düselder und Olga Weckenbrock Ergebnisse der Tagung vor und skizzieren den theoretischen Rahmen, der durch den Begriff „soziale Umwelt“ (Alfred Schütz) geprägt ist, die „von den sozialen und kommunikativen Prozessen der handelnden Personen konstituiert wird“ (S. 4). Erklärtermaßen nutzen die Herausgeberinnen allerdings die theoretischen Ansätze als „Steinbruch“: Der Schützsche Umweltbegriff bietet dabei wegen seiner Differenziertheit und Flexibilität „eine Reihe von Anknüpfungspunkten, um die Mehrdimensionalität adeligen Wirkens und Handelns zu begreifen und zu einem ganzheitlichen Gefüge zu verknüpfen.“ (S. 7)

Die sechzehn Beiträge, von denen hier nicht alle einzeln besprochen werden können, sind in drei Schwerpunkte gegliedert. Die Rubrik „Natürliche Umwelt und Naturgestaltung“ eröffnet Heike Düselder mit ihrer Frage nach Naturaneignung und Herrschaftsverständnis des Adels im Kontext von Kultur, Bildung und Ökonomie. Sie geht davon aus, dass Naturaneignung und der Umgang mit der Natur eng mit dem Herrschaftsverständnis des Adels verbunden waren und zeigt den Wandel auf, der sich mit der Aufnahme aufklärerischer Ideale ergab. Der traditionellen Selbstkultivierung des Adels entsprach die auf den Nutzen ausgerichtete Kultivierung der natürlichen Umwelt, die wiederum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Aufwertung adliger Lebensformen führte.

Einen aufschlussreichen „Redaktionsprozess“ analysiert Martin Knoll unter dem Titel „Ländliche Welt und zentraler Blick“. Er beleuchtet die Entstehung der zwischen 1701 und 1726 erschienenen „Historico Topographica Descriptio“. Im Vorfeld dieser Publikation mussten alle Adligen in Kurbayern Fragen zu ihren Landsitzen beantworten. Überliefert sind sowohl die Rückmeldungen der Adligen als auch redaktionelle Überarbeitungen. Zwischen den verschiedenen Fassungen lassen sich erhellende Unterschiede herausarbeiten. Mitunter ist das, was der Besitzer als Zeichen seiner adligen Herrschaft nennt – etwa das repräsentativ wahrgenommene Jagdrecht – in der gedruckten Fassung weggefallen. Nicht zu Unrecht begegneten deshalb die Landadligen dieser Vermessung des Raumes als Ausdruck moderner Staatlichkeit mit Misstrauen, die unerwünschte Datenerhebung trug zur Intensivierung der zentralen Herrschaft bei. Dabei erlaubt „das adelige Reden und Schweigen über die Natur und ihre Nutzung“ Aussagen über das Verhältnis zwischen Adel und Gesellschaft, aber auch zwischen Gesellschaft und natürlicher Umwelt.

„Herrschaft über Wald und Flur“ und den Einfluss adliger Frauen auf die natürliche Umwelt thematisiert Renate Oldermann am Beispiel des Stiftes Börstel. Sie zeigt dabei, dass die Aneignung der Umwelt, insbesondere des Waldes, aber auch des Gartenlandes, zentrale Bestandteile des Ausbaus adliger Herrschaft bildeten. Wenn die Stiftsdamen Flächen bearbeiten oder kultivieren ließen, demonstrierten sie ihren Herrschafts- und ihren Eigentumsanspruch – notwendiges symbolisches Handeln vor der Einführung einer exakten Kartografie.

Der erste Beitrag der Sektion „Soziale Umwelt und adeliges Selbstverständnis“ beleuchtet die Struktur und Funktionsweise landsässiger Ritterschaften. In ihnen agierte der westfälische Landadel, so Elisabeth Harding, zwischen „regionaler Orientierung und territorialer Integration“. Aus vielfältigen Lehnsbindungen und Verwandtschaftsverhältnissen ergab sich eine Orientierung über territoriale Grenzen hinweg. Gleichwohl machten die Adligen in den Ritterkorporationen Erfahrungen der territorialen Integration.
Bastian Gillner stellt in seinen Ausführungen am Beispiel des Oberstifts Münster die Kirche als architektonisch-artifizielle wie als soziale Umwelt vor, in der der Adel sich bewegte. Deren Ausstattung sowie Patronatsrechte boten unterschiedliche Ansatzpunkte für Repräsentation und Herrschaftsausübung in der konkreten Umwelt – die dörfliche Pfarrkirche war mithin ein multifunktionaler Raum zur Repräsentation der unangefochtenen Führungsrolle des Adels.

Überzeugend gelingt es Uta Hengelhaupt aus dem Selbstverständnis des geistlichen Adels in Franken zwischen 1648 und 1720 die spezifische Art und Weise der Bauwerke in der Region dieser Zeit abzuleiten und damit einen auch für Nichtadlige erkennbaren ‚umweltprägenden’ Faktor zu erklären. Sie sieht dabei Zeugnisse der Kunst und Kultur als Ausdrucksformen einer sozialethischen Normierung, die das Umweltverständnis der Gruppe im Sinne einer Aneignung und (Selbst-)Interpretation an der idealen Projektion des „Guten Regiments“ zusammenfassten. Das angestrebte „Gute Regiment“ ist dabei an der Zweckmäßigkeit der Bauten abzulesen. Damit liefert Hengelhaupt eine neue Deutung einer Architektur, deren Schlichtheit bisher meist einem mangelnden künstlerischen Sachverstand zugeschrieben wurde.

Angela Behrens setzt sich zu Beginn ihres Beitrags über Heinrich Carl Schimmelmann als Ahrensburger Gutsherr mit dem Ansatz von Alfred Schütz zur „sozialen Umwelt“ auseinander und beschreibt den Aufstieg eines Bürgerlichen zum Adligen. Mit einem Fideikommiss sicherte Schimmelmann am Ende seines Lebens sein Lebenswerk. Ausführlich analysiert Behrens das wirtschaftliche Agieren Schimmelmanns auf seinem Gut, auch als Impulse, die eigene Umwelt zu prägen.

Ein exotisches Thema steuert Anne Kuhlmann-Smirknov bei. Sie fragt nach der „Globalität als Prestigemerkmal?“ und stellt die Hofmohren der Cirksena und ihres sozialen Umfeldes, die Höfe in Kopenhagen, Bayreuth, Stuttgart und Aurich, vor. Die Hofmohren verkörperten dabei zwar die Beziehungen zur außereuropäischen (Um-)Welt, bedeutender aber war ihre Funktion (Tausch, Übernahme von Patenschaften) innerhalb der beteiligten Adelsfamilien.

Der dritte Schwerpunkt des Bandes gilt der „Wahrnehmung und Erfahrung der Umwelt in Selbstzeugnissen und publizistischen Quellen“. Olga Weckenbrock untersucht vor dem Hintergrund der Aufklärung die Veränderungen in der individuellen Wahrnehmung der sozialen Umwelt zweier Adliger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ihr gelingt es, Unterschiede in den schulischen Lernprozessen herauszuarbeiten und aus diesen wiederum Differenzen in der Wahrnehmung der Umwelt zu erklären, die zu Identitätskonflikten zwischen Vater und Sohn führten.

Gerd van den Heuvel thematisiert den „Verlust sozialer Sicherheit“ im nordwestdeutschen Adel: „Die Wahrnehmung der sozialen und politischen Umwelt war nach 1789 sowohl aus der Perspektive des Adels als auch in der Beurteilung des Adels durch die übrige Gesellschaft nicht mehr dieselbe, auch wenn das Sozialgefüge der Ständegesellschaft äußerlich unverändert blieb.“ Aus einer veränderten Wahrnehmung erwuchsen zum Teil aus adligen Kreisen Vorschläge für Reformen, um den eigenen Stand der Veränderungen anzupassen.

Inken Schmidt-Voges gelingt über den Aspekt Umweltgeschichte tatsächlich ein neuer Zugang zu der in der Forschung vielfach herangezogenen Hausväterliteratur, hier zu den Werken der adligen Verfasser Wolff Helmhard zu Hohberg und Otto von Münchhausen. Mit Hilfe der analytischen Kategorien der „sozialen Umwelt“ und der „natürlichen Umwelt“ kann sie die Besonderheiten des adeligen Selbstverständnisses herausarbeiten, die bisher nicht in ihrem inneren Zusammenhang gesehen wurden – die enge Verschränkung von Sozial- und Naturbeziehungen mit Herrschaftsaspekten und -rechten. Der Umgang mit der Natur ist erkennbar Teil politischen Handelns. Hohberg bezieht das erfolgreiche Führen der eigenen Wirtschaft auch auf die Zugehörigkeit zu einer politischen Ordnung. Beide Ökonomiken sind als spezifische Herrschaftstheorie des Landadels zu deuten, der zwischen oikos und polis pendelte.

Insgesamt handelt es sich um sehr lesenswerte Beiträge zu verschiedenen Aspekten adligen Lebens. Nur den wenigsten gelingt es aber, den Zugang „Umweltgeschichte“ wirklich für ihre Untersuchungen fruchtbar zu machen – das heißt, mit dieser bisher selten eingenommenen Perspektive auf den Adel neue Erkenntnisse oder wirklich neue Lesarten zu generieren. In vielen Beiträgen dominiert die Binnensicht des Adels, es werden kaum Wechselbeziehungen zwischen Adel und sozialer bzw. natürlicher „Umwelt“ herausgearbeitet. Hier böte sich zukünftig eine Zugangsweise an, die Wahrnehmung, Verhaltensweisen und Handeln des Adels stärker mit denen anderer Bevölkerungsgruppen vergleicht.

Anmerkungen:
1 Heike Düselder (Hrsg.), Adel auf dem Lande. Kultur und Herrschaft des Adels zwischen Weser und Ems 16. bis 18. Jahrhundert, Cloppenburg 2004.
2 Arnke Volker, Tagungsbericht Adel und Umwelt. Horizonte, Erfahrungen und Wahrnehmungen adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit. 08.03.2007-10.03.2007, Börstel, in: H-Soz-u-Kult, 11.06.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1603> (19.02.2010).

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