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Titel
Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa


Herausgeber
Arnold, Jörg; Süß, Dietmar; Thiessen, Malte
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 10
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Wagner-Kyora, Center for Metropolitan Studies, Technische Universität Berlin

Die drei Herausgeber dieses Buches haben ihr erinnerungsgeschichtliches Anliegen der Einleitung mit einem prägnanten Bild resümiert (S. 23): Es zeigt die Präsentation von Ossip Zadkines Rotterdam-Skulptur vor der völlig zerstörten Kasseler Orangerie anlässlich der Documenta II im Jahre 1959. Darin sehen sie den entscheidenden Hinweis auf eine wirkungsvolle paneuropäische Erinnerungskultur des Luftkrieges gegen Städte im Zweiten Weltkrieg, deren Gemeinsamkeiten und Unterschieden sie im interlokalen Vergleich nachspüren. Dieses Vorhaben ist, wie so manches in der im Entstehen begriffenen europäischen Geschichtsschreibung, ein Pioniervorhaben. Leistung und besonderes Verdienst des aus einem Jenaer zeitgeschichtlichen Tagungsschwerpunkts in Zusammenarbeit mit der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte hervorgegangenen Sammelbandes ist es dann auch, die Rahmenbedingungen für künftige Schwerpunktforschungen auf diesem Gebiet mit dem Fokus der Stadtgeschichte aufzuzeigen. Sie können in über-nationalgeschichtliche Paradigmen der Erinnerungsgeschichte integriert werden, - das zumindest wird aus der Präsentation der insgesamt 17 Aufsätze zu den vier Schwerpunkten des Bandes deutlich, die europäische, west- und ostdeutsche sowie medialisierte Erinnerungen an den Bombenkrieg umfassen.

Schon allein die Vermittlung von Basisinformationen, die der Sammelband für eine europäische Kriegserinnerung bereit stellt, ist nützlich. So berichten Connelly/Goebel von der frühen, auf eine dezidiert deutsch-britische Versöhnung ausgerichteten Konsensstrategie der Domprobste aus Coventry, die erst in den 1970er-Jahren ihre international viel beachtete Dimension einbüßte. Sie setzte bereits 1940, noch im Jahr der Zerstörung, ein und sie konterkarierte weniger konsensfähige Erinnerungsstrategien, wie etwa jene, dem viel geschmähten „Bomber-Harris“ mit einem Denkmal und einer großen Feier im Jahre 1992 doch noch zu verspätetem Nachkriegsruhm zu verhelfen, was allerdings kläglich scheiterte.

In der Darlegung dieser weit auseinanderliegenden erinnerungspolitischen Strategien zeigt sich die Breite des Sammelbandes. Seine paradigmatische Leistung besteht darin, die lokale Erinnerung an den Bombenkrieg einerseits im Umfeld der jeweiligen zeitgenössischen Öffentlichkeiten genau zu lokalisieren, sie andererseits aber auch im nationalgeschichtlichen Rahmen vergleichbar zu verankern. Beide Pole belegen ein europäisches Gedenken an diese einschneidenden Kriegserfahrungen in Permanenz. Sie können Gemeinsamkeiten aufzeigen, die unter vergleichbaren identitätspolitischen Erwartungen entstanden. Aber sie betonen auch die sehr unterschiedlichen Narrative und selbstverständlich auch die Unterschiede in der militärischen und vor allem der politischen Situation während des Zweiten Weltkrieges, die zu sehr unterschiedlichen erinnerungskulturellen Strategien der Verarbeitung von Geschichte führen mussten.

Die Beiträger des Sammelbandes grenzen sich entschieden und souverän von Schuld- und Aufrechnungsgeschichten ab, wie sie als publikumsträchtiges Störfeuer die öffentliche Erinnerungskultur an den Bombenkrieg allerdings immer wieder stören. Sie markieren diese Überformung der Erinnerungspolitik als ein kontinuierlich wirkendes politisches Hindernis in der transnationalen Aufarbeitung der Kriegserfahrung als einen Gegenstand der leidvollen lokalen, nationalen und auch der Europageschichte. Dies zeigt in besonderem Maße der Beitrag über Frankreich.

Michael Schmiedel analysiert die in mehrfacher Weise politisch beanspruchte französische Erinnerungskultur zwischen Resistance- und Vichy-Geschichte. Darin hatten die verstreuten Spuren einer lokalen Erinnerung an den Bombenkrieg einen für die Bewohner zentralen Kontrapunkt in einer ansonsten ausgeblendeten Gedächtniskultur gesetzt. Als Pioniere der transnationalen Erinnerungspolitik traten schon 1960 die beiden kriegszerstörten Städte Caen und Würzburg auf. Sie vereinbarten eine jetzt fünf Jahrzehnte währende Städtepartnerschaft. Intentionale Grundlage wurde das gemeinsame Erinnern an die Grauen der Zerstörung des Luftkrieges in den beiden Städten. Es ermöglichte ein kontinuierliches Gedenken an die Toten. Erst diese gemeinsame Erfahrung in der Bewältigung eines kollektiven Traumas erleichterte den Zeitgenossen den vorurteilslosen Umgang mit den Vergleichsparametern der Zerstörung und der Bevölkerungsverluste auf der lokalen Ebene. Er führte zu einer früh antizipierten transnationalen und europäischen Erinnerungslandschaft dieser Städte, die sich quer zu nationalgeschichtlichen Stereotypisierungen entfaltete. Sie blieb allerdings nur auf ihre mental map beschränkt und strahlte nicht oder doch erst mit einem großen Zeitüberhang in die jeweiligen nationalgeschichtlichen Kontexte aus.

Beispielhaft dafür ist der Aufsatz Christioph Strupps über die Rotterdamer Erinnerungslandschaft. Er zeigt die „Aktualisierung, Personalisierung und Europäisierung des Gedenkens“ (S. 39) seit den 1980er-Jahren auf und damit jene Orientierung auf über-nationale Sinnstiftungen in der lokalen Kriegserinnerungskultur, welche die europäische Erinnerungslandschaft heute mehr als früher prägt, ohne in eine gemeinsame Identifikationssuche einzumünden. So wurden die Städte, gerade jene, welche im Zweiten Weltkrieg besonders zerstört worden waren, zu den Zentren einer interlokalen Versöhnungswelle – das ist ein zunächst widersprüchlich erscheinender, aber durch die Aufarbeitung der lokalen Erinnerungskulturen jener kriegszerstörten Städte doch erfreulich weit verbreiteter Befund des Sammelbandes. Er drängt nicht die Tatsache an die Seite, dass die Verursacher des Kriegsgeschehens allein auf deutscher Seite zu finden sind.

Schlägt man den Bogen, so wie es die Herausgeber mit ihrer durchaus mutigen Vergleichsperspektive in die beiden deutschen Teil-Identitäten tun, in das Herz einer zerklüfteten nationalen Erinnerungskultur, entdecken wir als Leser die noch immer kriegsverschütteten Bereiche lokalen Eigensinnes. Sie liegen leider auch und immer wieder in der Bewahrung eines arkanen Erbes von Schuld- und Sühne-Rechthaberei, das in der Negativ-Stereotypisierung wurzelt, die von alten nationalistischen Feindbildern ausgeht. Kennzeichen dieser ideologischen Überformung war seit den 1950er-Jahren der Versuch, spezifische nationalgeschichtliche Überhänge an moralischer Persistenz des Heldenhaften zu schaffen. Solche Fehlleitungen sind aber allesamt im Laufe der Jahrzehnte aus dem Rampenlicht verschwunden, zunächst in Deutschland, aber auch in Frankreich und in Großbritannien (S. 63), in Italien und in den Niederlanden ohnehin. Empirisch lässt sich das etwa an der Institution der Hagener „Heldengedenkbücher“ fassen. Darin sollten Bombenopfer geehrt werden, um probate Aufrechnungen von Gewalt zu legitimieren (Ralf Blank). Aber diese Engführung blieb in Westdeutschland ausschließlich auf die 1950er- und 1960er-Jahre beschränkt und sie war schon damals nicht mehrheitsfähig.

Variantenreich war und ist der eloquente britische „understatement“ als ein Trivialisierungsimpuls (Mark Connelly/ Stefan Goebel, S. 52), der sich zunächst in cineastischen und dann auch haptischen Repräsentationen der Erinnerungskultur manifestiert hat. Beispielsweise unternahm eine irische Brauerei im Jahr 2005 mit einer „Bottle of Britain“ einen Versuch, den Strang des kontinuierlichen Heldengedenkens der „Few“ (gemeint waren die erfolgreichen britischen Jagdflieger des Jahres 1940) als eine identifikatorische Beigabe zum konsumerischen Genuss zu trivialisieren. Letztlich scheiterte er aber an wütenden öffentlichen Protesten. Vorausgegangen war allerdings bereits 2004 die symbolische Verschmelzung des Londoner U-Bahn-Logos mit dem Farbenkranz der Royal Air Force (RAF) zu PR-Zwecken. Die Autoren analysieren diese Propagandastrategie als einen sehr geglückten Versuch, um in der Metropole einen breitenwirksamen, im historischen Bedrohungsgedächtnis verankerten identitätspolitischen Konsens gegen die alltägliche al-Qaeida- Terrorgefahr zu stiften.

In Dresden (Thomas Fache) kulminierte das Gedächtnis zum 60. Jahrestag in einer beinharten Konfrontation mit den dort besonders virulent agierenden Neonazis um die diskursive Verfügung über den öffentlichen Raum über das Medium gezielter geschichtspolitischer Provokationen. Sie überschatteten im Übrigen selbst noch die Ausschreibung eines entsprechenden Panels auf dem letzten Historikertag 2008, sollten also nicht ohne weiteres auf die leichte Schulter genommen werden. Besonders an diesen Beispielen wird ersichtlich, wie stark die Geschichtswissenschaft mit ihrer Grundlagenarbeit die jeweiligen nationalgeschichtlichen Erinnerungspolitiken fundamental prägen kann – und prägen muss. Noch immer agiert die deutsche Geschichtswissenschaft, das zeigen die Beiträge über West- und Ostdeutschland, viel zu defensiv und zudem auf der Basis unterschiedlicher erinnerungskultureller Strömungen.

Die Beiträge des Sammelbandes folgen dem Programm, „Erinnerungen als Standort, Symbol- und Identitätspolitik“ (S. 11) aufzuspüren und damit einer methodisch vielversprechenden Neuausrichtung von Kultur- und Raumgeschichte des Lokalen in ihrer diskursiven Erweiterung auf Sinndeutungen und Erinnerungspolitik. In der Darstellung überwiegen allerdings die eher konventionellen Methoden der narrativen Diskursgeschichte, mit deren Hilfe die „Konjunkturen der Geschichtspolitik“ in einer langfristigen Erinnerungskultur dargestellt werden. Auch die Nachzeichnung transkommunaler Erinnerungsnetzwerke bleibt in ihrem Ertrag eher begrenzt – wie der Sammelband nahe legt einfach deshalb, weil es zu wenige davon gegeben habe.

Immer schon wurde die lokale von einer nationalgeschichtlichen Kriegserinnerung überlagert. Zu klären bliebe also noch, ob gerade in Westdeutschland mit seiner gering ausgeprägten Nationalperspektive ein Überlappen der Lokalität in der Kriegserinnerung neue geschichtspolitische Perspektiven eröffnet hat, während das in der DDR ja eigentlich nicht der Fall gewesen sein konnte. Dann aber betont Klaus Neumann für Halberstadt, dass dort schon 1980 der tonangebende Pfarrer die jüdischen Frauen, die am Morgen des 10. November 1938 den Schutt der SA beräumten, als die „ersten Trümmerfrauen“ bezeichnet hat. Damit waren in der Tat sämtliche gewollten Bezüge der Staatsgeschichtspropaganda über das heroische Opfergedenken der Zivilisten in der DDR-Geschichtspolitik auf den Kopf gestellt worden, indem jüdische Opfer rehabilitiert und in wünschenswerter Weise auch heroisiert wurden. Auf diese Weise trägt der Sammelband dazu bei, die im Vergleich zu den Nachbarländern doch immer noch besonders stark geschichtspolitisch überformte deutsche Erinnerungslandschaft an den Zweiten Weltkrieg und das Bombenkriegstrauma angemessen zu historisieren.

Auch für Nürnberg berichtet Neil Gregor von einem höchst verstörenden, aber auch nicht ganz einfach erklärlichen Befund, nämlich davon, dass für das zentrale Bombenopfermahnmal für die 6.621 Nürnberger Bombentoten Mitte der 1950er-Jahre die Steine der zerstörten Synagoge am Hans Sachs-Platz verwendet wurden. Gregor kann letztlich nicht ganz genau erklären, welche Motivationen sich hier überlagerten, beim „Vergraben der Verbrechen der Vergangenheit“ (S. 137) durch das Opfergedenken an die Bombentoten. In welcher Weise disparate Intentionen der Memorialkultur, verquere Interessenlagen und sogar gut gemeinte, aber auch dezidiert post-rassistische und neofaschistische Überlagerungen eine Rolle spielten, kann wohl nur durch autobiographische und oral history-Quellen zureichend erforscht werden. Auch dieses Themenfeld trägt zunächst einmal Spuren des Unerklärlichen und des Fragmentarischen, welche in der jeweiligen lokalen Erinnerungskultur auch bestehen bleiben müssen, solange sie nicht durch die soziale Praxis verändert oder auch zum Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Analyse wird.

Malte Thiessen zeigt abschließend den „engen Zusammenhang zwischen der Weitergabe des Luftkrieges und familiärer Identität“ (S. 302) auf, ein in der gegenwärtigen erinnerungspolitischen Debatte besonders weiterführender Impuls der Quellenrecherche.

Ihm und den anderen Beiträgerinnen und Beiträgern dieses hervorragenden, konzeptionell und empirisch in überzeugender Weise vergleichend angelegten Sammelbandes gelingt der Spagat, die Lokalität der Erinnerungskultur mittels einer sensiblen Hermeneutik in ihrer Epoche machenden, identitätsprägenden Bedeutung innerhalb ihrer jeweiligen nationalgeschichtlichen Kontexte präzise in europäischer Perspektive zu verorten.

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