Cover
Titel
Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung


Herausgeber
Baumeister, Martin; Föllmer, Moritz; Müller, Philipp
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ariane Leendertz, Amerika-Institut, Ludwig-Maximilians-Universität München

Diese Festschrift für Wolfgang Hardtwig ist nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar – erst im Vorwort gibt sie ihren Anlass preis. Wie Sammelbände können Festschriften heute vieles sein. Am einen Ende des Spektrums steht ein thematisches Sammelsurium, das allein durch den Bezug der Autoren zum Jubilar zusammengehalten wird. Am anderen Ende steht ein inhaltlich kohärentes Buch, dessen Beiträge sich aus verschiedenen Perspektiven und Fragestellungen mit einem Rahmenthema und gemeinsamen Leitfragen auseinandersetzen, die eng mit dem Werk des Gefeierten verbunden sind. Die Summe der Beiträge erlaubt es dann, deren Ergebnisse auf einer abstrakteren Ebene zusammenzufassen und neue Erkenntnisse zum Rahmenthema zu formulieren. Innerhalb dieses Spektrums lässt sich „Die Kunst der Geschichte“ etwa in der Mitte einordnen.

Der Titel erinnert an die Diskussionen der 1990er-Jahre über Geschichte und ihre Erzählungen, über Hayden White und den „cultural“ und „linguistic turn“. Da diese Debatten über ästhetische Prämissen und Narrationen nach einem kurzen Sturm jedoch rasch abgeflaut sind und sich deutsche Historiker in ihrem Schreiben weitaus weniger experimentierfreudig gezeigt haben als etwa amerikanische, ist ein Band mit diesem Titel ohne Zweifel zu begrüßen. Gleichwohl erfüllt das Buch die Suggestionen des Titels nur zum Teil.

Im Vorwort wird das wissenschaftliche Werk Wolfgang Hardtwigs knapp und unprätentiös gewürdigt. In wenigen Worten werden außerdem die inhaltliche Motivation für das Buch und der thematische Zusammenhang der Beiträge skizziert. Es knüpfe „an Anregungen des Jubilars an, die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft, Kunst und Literatur auf produktive Weise zu verflüssigen“ (S. 9). Die 19 Beiträge kreisen demnach um Fragen der Historiographiegeschichte und Geschichtstheorie, um die Repräsentation von Geschichte in „ästhetischen“ Zeugnissen und deren Quellenwert sowie um Selbstverständnisse des Faches.

In einer Reihe von Aufsätzen finden sich explizite Bezüge zu und Fortschreibungen der historiographiegeschichtlichen Arbeiten Hardtwigs. Über dessen Auseinandersetzung mit Hayden Whites „Metahistory“ kommt etwa Tim B. Müller auf die Ursprünge des modernen, professionellen Selbstbildes des Historikers zu sprechen und fragt nach der erkenntnisethischen Fundierung sowohl der historiographischen Praxis als auch der vordergründig ästhetisch argumentierenden Geschichtstheorie Whites und Dominik LaCapras. Philipp Müller knüpft an Hardtwigs Arbeiten zur Geschichtsreligion an und beschäftigt sich mit religiösen Denktraditionen und Erzählstrukturen in Jules Michelets Revolutionsgeschichte. Einen weiteren Beitrag zur Historiographiegeschichte leistet Jost Philipp Klenner, der über Ursprung und Karriere von Ernst Kantorowicz’ Formel der „zwei Körper des Königs“ schreibt. Aus den verschiedenen Lesarten, Verfremdungen und Umdeutungen hebt Klenner besonders aufschlussreich die „Fehllektüre“ (S. 133) von Natalie Zemon Davis heraus. Die historiographische und politische Programmatik von Davis spielt ebenfalls im Aufsatz von Peter Jelavich eine Rolle. Jelavich stellt den Hang zur gottgleichen Logos-Produktion aus der Makroperspektive in Sozialgeschichte und Sozialwissenschaft einer Tendenz zur „Logorrhoe“ in der Alltagsgeschichte und Mikrohistorie gegenüber. Die Lösung verortet er in einer Verbindung von Mikro- und Makroperspektiven. Damit müsse dann aber auch ein Eingeständnis einhergehen: Wer über Individuen schreibe, der könne sich der Macht der Literatur – im Besonderen den Narrationen des modernen Romans und der „non-fiction novel“ – und damit der Frage nach den Grenzziehungen zwischen Fakten und Fiktion nicht entziehen.

Mehrere Autoren befassen sich sodann mit verschiedenen Quellenarten, wobei literarische Texte und Filme den Schwerpunkt bilden. Andreas Daum vergleicht die deutsche und amerikanische Humboldt-Verehrung im 19. Jahrhundert, die Alexander von Humboldt im amerikanischen Fall weitaus „denkmalfähiger“ machte als im deutschen beziehungsweise preußischen. Daum konzentriert sich dabei auf die (erinnerungs)politische Diskussion, doch hätte man, die Programmatik des Sammelbandes im Kopf, gerne mehr über die ästhetische Dimension, die Diskussionen über die Gestaltung der Denkmäler erfahren. Dies lässt mich zu einem zentralen Kritikpunkt kommen: Der Zusammenhang von „Kunst“ und „Geschichte“ bleibt in dem Band mehr als unbestimmt, der Titel wird nirgends aufgeschlüsselt, um „Kunst“ geht es nur am Rande. Und damit wird vor allem ein Aspekt nicht behandelt, den wir doch besonders mit Kunst verbinden und der für den schreibenden und schaffenden Historiker auch des 21. Jahrhunderts bedeutsam ist: der Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Kreativität.

Wie unterschiedlich Historiker mit der gleichen Quellenart umgehen können, offenbaren die Beiträge von Andrea Meissner (über Geschlechterkonstruktionen in der katholischen Belletristik an der Wende zum 20. Jahrhundert) und Moritz Föllmer (über selbige in Weimarer Zeitromanen). Während bei Meissner Quelle und Gegenstand weitestgehend in eins fallen und die Analyse innerhalb der Sphäre der Literatur verbleibt, versteht Föllmer seine Zeitromane als Entwürfe einstiger Gegenwart und damit als Interpretationen mittlerweile historischer Wirklichkeit. Darüber hinaus setzt er sich zum Ziel, literarische Quellen für eine Kulturgeschichte der Ökonomie fruchtbar zu machen (S. 351). Seine Analyse der Geschlechterbeziehungen im Lichte der Gesellschaftsformation des modernen Kapitalismus löst dies ein. Auf faszinierend einfache und eindrückliche Weise zeigt Peter Fritzsche in seinem Aufsatz, wie unterschiedlich sich wiederum ein und dieselbe Person in ihrer autobiographischen Quellenproduktion zu präsentieren vermag. In seinen Tagebüchern, Erinnerungen und Haushaltsbüchern erscheint der einfache Berliner Angestellte Franz Göll jeweils als ein ganz anderer Mensch. Jedes Genre zeuge hier, so Fritzsche, von der Eindimensionalität des anderen (S. 231). Neben Fritzsche befassen sich noch andere Autoren mit der Zwischenkriegszeit, auch dies eine offensichtliche Verbindung zu Hardtwig.

Fast alle Beiträge des Bandes folgen formal und sprachlich den Konventionen wissenschaftlicher Aufsätze, wie wir sie in Sammelbänden und Fachzeitschriften zu lesen gewohnt sind. Drei Texte brechen auf unterschiedliche Weise aus diesen Konventionen aus. Dieter Langewiesche hat einen flüssig lesbaren wissenschaftlichen Essay verfasst und stößt im literarischen Werk von Martin Walser auf eine andere, „sensiblere“ Form von Geschichtsdenken als in dessen öffentlichen Reden und Äußerungen. Weitgehend freihändig, nur mit wenigen Fußnoten und sehr assoziativ philosophiert Karl Heinz Metz über das Verhältnis von Geschichtsschreibung und politischer Philosophie. Per Leo schließlich ist der einzige aller Autoren, der der im Vorwort formulierten Anregung Hardtwigs – „die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft, Kunst und Literatur auf produktive Weise zu verflüssigen“ – unmittelbar und auf zunächst irritierende Weise folgt. Dieser Text, vielleicht als autobiographische Parabel zu charakterisieren, will anders gelesen werden als ein wissenschaftlicher Aufsatz. Historik und Poetik, Fakten und Fiktion, die Trennlinien zerfließen, und das nicht nur produktiv, sondern kreativ.

Insgesamt bilden die Beiträge zwar kein kohärentes Ganzes, aber einige interessante thematische Cluster, und viele zeichnet ein überdurchschnittliches Reflexionsniveau aus. Historiographiegeschichtliche, methodische und erkenntnistheoretische Fragen sowie die sorgfältige Arbeit mit Quellen sind zahlreichen Texten gemeinsam. Ebenso eine vertiefte Reflexion über die Arbeit des Historikers, wenn es auch häufig um vergangene oder fremde Historiker geht. Fragen wie folgende schimmern in der Mehrzahl der Beiträge durch: Wie lässt sich Geschichte schreiben, wie wird, vor allem aber wurde Geschichte dargestellt und darstellbar, wo, überhaupt, finden wir Geschichte? Welche Fragen sollen uns unsere Quellen beantworten, und welche Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft finden wir in den verschiedenen Formen von Geschichtsdarstellung?

Die gern in einer Festschrift-Schelte gepflegte Abneigung von Rezensenten, die sich dem erwähnten Sammelsurium gegenüber sehen, ist sicher nachvollziehbar. Immer wieder kann man aber auch von Professoren vernehmen, dass sie „bloß keine Festschrift“ haben wollen. Das mag mit Koketterie zu tun haben oder mit Zweifeln am wissenschaftlichen Wert des Unternehmens. Weit eher scheint dahinter jedoch die Distanz zu einem antiquiert anmutenden akademischen Ritual zu stehen, das eng mit dem alten Verständnis des Ordinarius zusammenhängt. Als Ordinarien verstehen sich, zumal in der Massenuniversität, immer weniger Professoren, oder wenigstens wollen sie so nicht gefeiert werden. Der Geburtstags-Sammelband „Die Kunst der Geschichte“ ist somit ein gutes Beispiel für eine gewandelte akademische Kultur. Die wissenschaftliche Persönlichkeit rückt in den Hintergrund. Eine Liste von Gratulanten, der Publikationen und eine Berufsvita finden wir in diesem Band nicht, und eigentlich vermissen wir sie auch nicht – zumindest jetzt noch nicht. Aus wissenschaftsgeschichtlicher und wissenschaftssoziologischer Perspektive kommt uns mit den biographischen Genre-Konventionen allerdings vielleicht nach und nach eine wichtige Quelle abhanden. Denn es ist durchaus möglich, dass Homepages und ähnlichen Webseiten eine weitaus kürzere Lebensdauer als Festschriften beschieden sein könnte.

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