A. Biefang: Reichstag und Öffentlichkeit im "System Bismarck" 1871-1890

Titel
Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im "System Bismarck" 1871-1890


Autor(en)
Biefang, Andreas
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 156
Erschienen
Düsseldorf 2009: Droste Verlag
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Frölich, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, Gummersbach

Mit den Fotografien, die Julius Braatz 1889 im Reichstag machte, hat Andreas Biefang vor einigen Jahren eine Aufsehen erregende Quelle zur politischen Ikonographie des Parlamentarismus ediert. 1 Nun legt er gewissermaßen eine Monographie nach, die sich in erweiterter Perspektive generell mit der „symbolischen Macht“ (S. 13) des Reichstags befasst, worunter „jene Macht“ verstanden wird, „die aus der öffentlichen Darstellung institutionellen Handelns herrührt“ (S. 14). Biefang untersucht dabei, wie der Reichstag in den ersten beiden Jahrzehnten mit der Öffentlichkeit, mit den anderen Verfassungsorganen – insbesondere Kaiser und Kanzler – sowie intern kommunizierte. Dabei geht er zu Recht davon aus, dass mit der Reichsgründung aus verschiedenen Gründen – die teils in der Verfassungsstruktur, teils in der veränderten Öffentlichkeit lagen (S. 67) – von den politisch Handelnden ein stärkeres Eingehen auf die Öffentlichkeit verlangt wurde. Davon war nicht nur der Reichstag, sondern etwa auch die „Reichsleitung“ betroffen, das Parlament aber wegen seiner zunächst relativ schwachen Position im Verfassungsgefüge besonders.

Die Untersuchung beschränkt sich auf die Bismarck-Ära, also jene Zeit im „alten Reichstag“ 2, als das deutsche Nationalparlament noch mehr oder minder provisorisch auf dem Gelände der ehemaligen KPM untergebracht war, ehe es 1894 den Wallot-Bau bezog. Die zeitliche Eingrenzung begründet Biefang vor allem mit der besonderen Stellung des ersten Reichskanzlers, an die keiner seiner Nachfolger mehr herankam. Obwohl dann mit dem Kaiser ein anderes Verfassungsorgan zum eigentlichen „öffentlichen“ Gegenspieler des Reichstags wurde, belässt es Biefang mit einem knappen Ausblick auf die Nach-Bismarck-Zeit.

Der Gang der Untersuchung vollzieht sich in drei Schritten: Mit dem „öffentlichen Ort“ Reichstag werden die Beziehungen des Reichstag zur Presse und zur allgemeinen Öffentlichkeit beschrieben, wozu auch die Konstituierung des Reichstags über die Wahlen und sowie die vom Parlament weitgehend selbst beschlossene Architektur im Provisorium an der Leipziger Straße zählen. Während es außerhalb Berlins nur ganz ausnahmsweise zu repräsentativen Begegnungen zwischen Abgeordneten und Öffentlichkeit kam, so 1873 bei einer Marineinspektionsreise nach Bremerhaven, deren Wiederholung die „Reichsleitung“ aus Prestigegründen verhinderte, war die Presse der wichtigste Weg der Außendarstellung für den Reichstag. Dazu dienten nicht nur die gut 60 offiziell akkreditierten Parlamentsberichterstatter, sondern auch die vielen journalistisch tätigen Mitglieder des Reichtages (MdR). Parlamentsberichte waren nicht nur wegen ihrer Schnelligkeit – anders als die Stenographischen Protokolle wurden sich nicht hinterher „geglättet“ – durchaus journalistische Reißer. Dies blieb übrigens auch Bismarck nicht verborgen, der sich dies durchaus zu Nutzen machte, indem er das Reichstagsplenum öfters als publizitätsträchtigen Resonanzboden erkor. Biefang veranschaulicht dies exemplarisch an der berühmten Rede vom 6. Februar 1888 mit den nachher geflügelten Worten „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt …“. (S. 261ff.)

Im Kapitel „Der Reichstag als sozialer Ort“ geht es um die Strukturen und die Lebensformen der „MdR“. Ein schichtenübergreifendes Gemeinschaftsgefühl der Abgeordneten will Biefang schon deshalb nicht konstatieren, weil die sozialdemokratischen Abgeordneten faktisch nicht als gleichberechtigt angesehen wurden. So schieden sich bei der außerparlamentarischen Geselligkeit und der Unterkunft die unterschiedlichen Einkommensklassen der Parlamentarier. Allerdings legten auch die dominierenden konservativen und nationalliberalen Abgeordneten großen Wert auf die Autonomie des Reichstags und der in ihn gewählten Volksvertreter, wodurch zumindest indirekt das Überleben der Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes garantiert wurde. Entschieden widerspricht Biefang der Auffassung, der frühe Reichstag sei vornehmlich ein Honoratioren-Parlament gewesen: Schon die hohe Beanspruchung ließ viele Parlamentarier immer mehr von und für die Politik leben, für immer mehr wurde Berlin zum Lebensmittelpunkt, obwohl der Reichstag nur saisonal tagte. Vor allem aber wurde lokales Honoratiorentum immer weniger zur Voraussetzung für eine erfolgreiche Wahl in den Reichstag, stattdessen brachte der Status als MdR selbst verstärkt öffentliches Ansehen hervor.

Der Abschnitt „Der Reichstag und die Regierung“ ist der sicherlich in politikgeschichtlicher Perspektive spannendste, geht es hier doch um mögliche politische Gewichtsverschiebungen zwischen den verschiedenen Verfassungsorganen des Kaiserreichs. Der eigentlich in der Rangfolge an erster Stelle stehende Bundesrat kann dabei außer Betracht bleiben, da er Biefang zufolge selbst keinerlei „symbolische Macht“ entwickelte. Das war natürlich bei den beiden Verfassungsorganen, die faktisch die Bundesrats-Position übernahmen, anders: Kaiser und Reichskanzler suchten bewusst nach öffentlicher Aufmerksamkeit, wobei sich letzterer – wie bereits erwähnt – dabei auch des Reichstags bediente. Neben den Auftritten im Plenum waren dies vor allem Bismarcks parlamentarische Soireen und Matineen, die durchaus die Funktion von Wasserstandsmeldungen für seine Beziehungen zu den verschiedenen Fraktionen hatten. Obwohl Bismarcks Kontakte zu den Parlamentariern im Laufe der Zeit zweifellos abnehmende Tendenz hatten, blieben seine „Macht und Ansehen vom Reichstag abhängig“ (S. 265). So sieht Biefang die erstmalige Anwesenheit des neuen Kaisers bei einer parlamentarischen Soiree als Anfang vom Ende der bismarckschen Kanzlerschaft.

Das Staatsoberhaupt war weit weniger auf das Parlament als Verstärker seiner symbolischen Macht angewiesen als der Chef der Exekutive. Doch auch hier machte sich eine Veränderung im Beziehungsgeflecht bemerkbar: Während 1871 noch nach allgemeiner Auffassung der Krönungsakt sich in der verfassungsrechtlich irrelevanten Versailler Kaiserproklamation symbolisierte, war es 1888 die feierliche Eröffnung des Reichstags, mit der der neue Monarch äußerlich aktiv sein Amt übernahm. Doch wird man darin eher einen Willensakt des Thronfolgers sehen als einen allmählichen Aufstieg des Parlaments gegenüber dem Kaiser. Unter Wilhelm I. kann Biefang wohl zu Recht keine Positionsverbesserung der Parlamentarier in dieser Hinsicht ausmachen: Bei offiziellen Anlässen wie Kaisers Geburtstag blieben die Parlamentarier nachrangig positioniert, die Reichstagseröffnungen fand meist ohne das Staatsoberhaupt statt und noch die offizielle Grundsteinlegung für das neue Reichstagsgebäude war 1884 eine „bewusste Inszenierung der Militärmonarchie“, wie nicht zuletzt Bilddokumente ausweisen (S. 298f.).

Insofern kann es nicht verwundern, dass Biefang hinsichtlich der Entwicklung, welche die „symbolische Macht“ des Reichstags in der Bismarck-Ära einschlug, eine ambivalente Bilanz zieht: Sie war sicherlich positiv gegenüber dem Reichskanzler, dem es trotz aller Bemühungen nicht nur nicht gelang, den Reichstag zurückzudrängen, sondern der es auch hinnehmen musste, dass im Gegensatz zu 1871, als der Reichstag nur mit Mühe und ohne viel öffentliches Aufsehen seine Beteiligung an der Gründung des Kaiserreichs proklamieren konnte, am Ende seiner Regierungszeit das Parlament auch zu einem „Symbol der politischen Nation“ (S. 307) geworden war. Jedoch ließen sich diese „Zugewinne an symbolischer Macht nicht ohne weiteres in aktiv nutzbare, instrumentelle Macht umwidmen“ (S. 314), wofür Biefang einerseits die neue, in der nationalen Öffentlichkeit weit aktivere Rolle des Kaisertums unter Wilhelm II. und anderseits den seit Ende der Bismarck-Zeit aufsteigenden Interventions-Staat verantwortlich macht. Interessanterweise sieht er durch diese ambivalente Bilanz die altbekannte Auffassung von der verfassungsrechtlichen Sonderform des deutschen Konstitutionalismus in neuerlicher Relevanz: Der Reichstag konnte für ihn seinen 1867/71 angelegten konstitutionellen Spielraum erweitern, aber nicht entscheidend verändern.

In verfassungsrechtlicher Perspektive ist dies bis in die letzten Wochen des Kaiserreichs zweifellos zutreffend. Aber das hier sehr beispielhaft durchdeklinierte Theorem der „symbolischen Macht“ zeigt ja gerade die politischen Verschiebungen jenseits der geschriebenen Verfassung an. Und es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass der Reichstag auch nach 1890 hier Zugewinne verzeichnen konnte, auch auf Kosten des Kaisers, man denke nur an die Daily-Telegraph-Affäre. Zudem eröffnete das Anwachsen des Interventionsstaates dem Reichstag natürlich auch weitere (finanz-)politische Möglichkeiten. Insofern wäre es sicherlich sehr wünschenswert, wenn der Frage, wie sich die symbolische Macht des Reichstags entwickelte, auch für die Zeit Wilhelms II. nachgegangen würde.

Für den „alten Reichstag“ hat Andreas Biefang eine ebenso luzide wie gut lesbare Untersuchung vorgelegt, die nicht zuletzt auch durch die umfangreiche und gut kommentierte Bebilderung herausragt.

Anmerkungen:
1 Andreas Biefang, Bismarcks Reichstag. Das Parlament in der Leipziger Straße. Fotografiert von Julius Braatz. Düsseldorf 2002.
2 Vgl. Eugen Richter, Im alten Reichstag. Erinnerungen. 2 Bde. Berlin 1894/96.

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