K. Schönhärl: Wissen und Visionen

Cover
Titel
Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis


Autor(en)
Schönhärl, Korinna
Reihe
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 35
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
X, 461 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Maurer, Institut für Volkskunde/Kulturgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Dichtung und Wissenschaft – sind das nicht zwei völlig verschiedene Bereiche mit jeweils eigenen Regeln? Um 1900 ergab sich eine Konstellation, in der man einen Augenblick lang zweifeln konnte, ob dem so sei. Der Dichter Stefan George etablierte sich als eigenständige Autorität und zog keineswegs nur Literaten in seinen Bann, sondern auch Wissenschaftler. So konnte man sich seit langem schon fragen, ob solche Wissenschaftler im Banne Georges im Alltag wissenschaftliche Prosa verfassten, um sich sonntags an Lyrik zu erbauen, oder ob man sich dieses Verhältnis komplexer vorstellen muss. Lässt es sich denken, dass der Einfluss Stefan Georges über die von ihm faszinierten Wissenschaftler auch die Wissenschaften selbst betraf?

George stand bekanntlich in einem ambivalenten Verhältnis zu den Wissenschaften. Wenn er sie überhaupt als berechtigte Erkenntnisform zuließ, insistierte er doch jedenfalls auf den höheren Einsichten des Dichters, den er zum Propheten stilisierte. Darüber entwickelte sich schon früh ein Zwist mit Kurt Breysig und dessen Anhängern, die sich teilweise (bei aller Faszination durch George) doch eher als Historiker und insofern als Wissenschaftler verstanden. Mit Friedrich Gundolf kam es bekanntlich zum Bruch, der zwar vordergründig persönliche Ursachen hatte (weil Gundolf Elisabeth Salomon heiratete), hinter dem aber auch noch das grundsätzliche Problem der Geltung eines wissenschaftlichen Weges (in diesem Fall als Germanist) stand. Während man bisher nahe liegender Weise die der Geistesgeschichte verwandten Bereiche Philosophie, Germanistik und Geschichtswissenschaft im Blick hatte, wenn man sich um die Aufhellung des Verhältnisses von Dichtung und Wissenschaft im Zeichen Stefan Georges bemühte, unternimmt Korinna Schönhärl in ihrer Frankfurter Dissertation etwas weniger Naheliegendes und insofern Schwierigeres: eine Untersuchung der Frage, wie weit die Nationalökonomen des George-Kreises sich vom Gedankengut des Dichters beeinflussen ließen und inwiefern die methodologische Entwicklung der Nationalökonomie dadurch betroffen wurde.

Was auf dem Titelblatt noch nicht deutlich wird: Die Darlegung bezieht sich auf vier ausgewählte Persönlichkeiten, nämlich Arthur Salz, Edgar Salin, Julius Landmann und Kurt Singer. Freilich ist eine völlige Herauslösung dieser Einzelpersonen aus dem Geflecht des George-Kreises nicht denkbar, da dieser ja in besonderer Weise von einer komplexen Netzwerkbildung lebte und die Stiftung oder Verhinderung persönlicher Beziehungen unter den "Jüngern" zu einem wichtigen Bestandteil der Politik des Kreises wurde, nachdem George seine Gefolgschaft zunehmend als "Staat" inszenierte und ein "Geheimes Deutschland" organisatorisch aufzubauen unternahm. Insofern überrascht es nicht, dass hier immer wieder von Gundolf als Mittler gesprochen werden muss (er war es, der Salz, Salin und Singer an George heranführte – die aber auch unter dem Bruch zwischen Gundolf und George zu leiden hatten, weil der "Meister" sie offenbar als "Gundolfs Leute" auffasste und auch zu ihnen die Beziehungen abbrach) und dass auch andere Persönlichkeiten wie Edith Landmann, deren Erkenntnistheorie nachweislich von Salin und anderen aufgenommen wurde, besprochen werden müssen. Trotzdem besteht eine Stärke der vorliegenden Arbeit gerade in ihrer Konzentration: Die genannten Vier werden zunächst biografisch vorgestellt und in ihrer Beziehung zu George behandelt, bevor ihre ökonomischen Publikationen genauer untersucht werden. Vorgeschaltet sind perspektivierende Bemerkungen über Fragestellung und Methodik, aber auch über die Denkformen des Kreises (oder, wie sich Korinna Schönhärl luhmannianisch ausdrückt: "georgeanische Semantiken").

Der Aufbau ist insgesamt sehr durchdacht und argumentativ bis ins Kleinste durchgeformt. Daraus folgt, dass man dem Gang der Gedanken mit einer gewissen intellektuellen Spannung folgt, die bei einem Werk dieser Art keineswegs selbstverständlich ist. Handelt es sich doch zum großen Teil um Referate wissenschaftlicher Diskurse, in die nur ab und an die berühmten und berüchtigten Personalia des George-Kreises (der Klatsch, die Eifersüchteleien, die Intrigen und Winkelzüge der Personalpolitik des "Staates") eingestreut sind. (Das in jüngeren Publikationen zum George-Kreis so stark hervorstechende Motiv der Homoerotik und Homosexualität fällt beinahe aus.)

Die genaueren Umstände der Bekanntschaft Stefan Georges mit Arthur Salz, Edgar Salin, Julius Landmann und Kurt Singer können hier ebenso wenig referiert werden wie ihre komplizierten Lebensläufe. Letztendlich hatte jeder von ihnen seine ganz besondere Geschichte, jeweils spezifische Affinitäten. Sie waren auch von ganz unterschiedlichem Takt und hielten in unvergleichlicher Weise Distanz oder unterwarfen sich dem "Meister" bedingungslos – und dies auch noch wechselnd in verschiedenen Phasen eines zumindest in den Fällen von Salz, Salin und Singer langen Lebens. Wichtig und kurz darstellbar sind dagegen zwei Aspekte: die biografische Gemeinsamkeit des Judentums und die wissenschaftliche Herausforderung durch die Methodenkrise der Nationalökonomie um 1900.

Die Frage nach der jüdischen Herkunft aller vier Nationalökonomen behandelt Korinna Schönhärl mit Vorsicht und Takt: Letzten Endes war auch hier jeder einzelne von individuellem Format; beispielsweise steht neben einem Frankfurter Bildungsbürger wie Edgar Salin ein lebenslang gläubiger Jude böhmischer Herkunft wie Arthur Salz. In diesem Kontext kann es nur um das Vergleichbare gehen, und eine gewisse Gemeinsamkeit wird hier insofern plausibel gemacht, als eine Sinnsuche, die sich auf die deutsche Bildung richtete, auf eine gesteigerte, forcierte Eliten-Bildung, wie sie George proklamierte, eine Sehnsucht nach einem "Höheren", nach dem "Schönen Leben", nach "Erlösung durch Bildung", vielleicht in jener Phase um 1900 besonders Juden angezogen haben mag. Wie weit sekundäre Fragen etwa des Ritus (herkömmliche rituelle Lesungen der Juden – Georges Dichtungs-Lese-Rituale), der Verehrung eines Meisters und der "jüdischen Hermeneutik" hier mitspielen, wird einleuchtend diskutiert, kann aber wohl nicht abschließend geklärt werden. Klärung könnte hier letztlich nur ein systematischer Vergleich mit nichtjüdischen Lebensläufen bringen, der außerhalb des Skopus dieser Arbeit liegt.

Die tragende Frage der Studie ist die nach einer Beeinflussung der Nationalökonomie durch georgeanisches Denken. Korinna Schönhärl weist überzeugend nach, dass sich die Wissenschaft der Nationalökonomie in mehreren Phasen in Methodendiskussionen geradezu aufrieb, bevor sie nach 1945 amerikanisiert wurde. Und in diesen Methodenkrisen leisteten die untersuchten Autoren in der Tat jeweils Beiträge, die man in ihrem Gehalt eigentlich nur von den Voraussetzungen her verstehen kann, die durch die Teilhabe am George-Kreis erklärbar sind. Dies wird vor allem an den "georgeanischen Semantiken" kenntlich, die hier einleuchtend in vier Hauptaspekte aufgespalten werden: Holismus (das Ganze und seine Teile), die Metaphorik von Oberfläche und Tiefe, das Insistieren auf Formgebung (im Gegensatz zur allgemein konstatierten Auflösung) und die Denkform "Zentrum – Peripherie". Ein spezielleres Sonderkapitel gilt dem Werk "Die Transcendenz des Erkennens" von Edith Landmann (1923), das nachweislich auf Edgar Salins "Anschauliche Theorie" Einfluss hatte. Überhaupt steht Salin insofern im Zentrum der Darstellung, als er als einziger eine spezifische Methode der Nationalökonomie entwickelt hat und diese eindeutig auf George zu beziehen ist.

Korinna Schönhärls "Wissen und Visionen" hat Züge eines Meisterwerkes. Überdies ist das Werk auffallend fleißig ausgearbeitet (etwa tausend Titel im Literaturverzeichnis, mehrere tausend Anmerkungen, Aufarbeitung entlegener Archivbestände auch im Ausland). Ansätze einer möglichen Kritik sehe ich in der methodisch notwendigen Ausschnitthaftigkeit: Man könnte durchaus fragen, ob nicht eine Konfrontation des Hauptthemas mit der etwas früher liegenden Auseinandersetzung zwischen George und den Historikern um Kurt Breysig zu weiterführenden Gedanken angeregt hätte. Außerdem fehlt mir die Befassung mit den grundlegenden irrationalistischen Einflüssen im Denken der Jahrzehnte nach 1900.1 Schließlich konnte im Rahmen dieser Arbeit ein Weiteres nicht geleistet werden, was untersucht werden müsste: Ich meine die Frage, wie weit nicht George der Anfang aller "georgeanischen Semantiken" ist (etwa bezüglich des Holismus), wie weit hier gleichgerichtete Nebeneinflüsse durch Zeitgenossen zu bedenken wären (im Falle Salins etwa durch Alfred Weber und Eberhard Gothein), welche Position George überhaupt in einer "Deutschen Bewegung" des Denkens zukommt, in welchen Punkten man über George auf ältere geistesgeschichtliche Zusammenhänge zurückgehen muss – insbesondere auf Goethe.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Walter Goetz, Intuition in der Geschichtswissenschaft, München 1935.

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