R. Jordan: Konfrontation mit der Vergangenheit

Cover
Titel
Konfrontation mit der Vergangenheit. Das Medienereignis "Holocaust" und die Politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland - Eine qualitative Inhaltsanalyse der Zuschauerpost an den WDR


Autor(en)
Jordan, Raul
Reihe
Beiträge zur Politikwissenschaft 93
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
179 S.
Preis
€ 41,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schneider, Zentrum für Medien und Interaktivität / Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

In jüngster Zeit ist die Zahl der in Buchform veröffentlichten Studienabschlussarbeiten beträchtlich angeschwollen. Offenkundig wird dieser Trend durch zwei Entwicklungen begünstigt: Einerseits scheint sich der Drang nach Aufmerksamkeit innerhalb eines sich immer stärker ausdifferenzierenden Wissenschaftssystems in Zeiten knapper werdender Ressourcen deutlich zu verschärfen. Andererseits sind in den letzten Jahren zahlreiche Verlage gegründet worden, die auf dieses Bedürfnis reagieren bzw. dieses überhaupt erst hervorbringen, indem sie – ermöglicht durch modernste Drucktechnologien und neue Medienformate wie etwa das E-Book – Absolventen und Absolventinnen die Gelegenheit bieten, ihre Arbeiten kostengünstig oder sogar kostenfrei zu publizieren. In Anbetracht der Tatsache, dass sich das Leistungsspektrum vor allem innerhalb der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten erheblich ausdifferenziert hat und heute mitunter Magister- und Diplomarbeiten (demnächst: Bachelor- und Masterarbeiten) vorgelegt werden, mit denen man in den 1970er- oder 1980er-Jahren noch bequem hätte promovieren können, ist diese Tendenz keinesfalls grundsätzlich zu verurteilen. Schließlich lassen sich einige publizierte Abschlussarbeiten anführen, die den Kenntnisstand der Forschung nennenswert vorangebracht haben.1 Doch ist leider allzu oft das Gegenteil der Fall: Nicht selten mangelt es den Autoren und Autorinnen an Zeit, um den Stoff ausreichend zu durchdringen, und häufig weisen veröffentlichte Magister- oder Diplomarbeiten zahlreiche sprachliche und formale Mängel auf.

Diese Regel wird auch von der hier zu besprechenden Diplomarbeit, die 2005 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg eingereicht wurde, bestätigt. Sie beschäftigt sich mit einer grundsätzlich höchst interessanten, aber bislang nur wenig beachteten Quellengattung, nämlich den Briefen von Fernsehzuschauern und -zuschauerinnen. Schließlich vermag die in der Regel in den Archiven deutscher und ausländischer Rundfunkanstalten lagernde Zuschauerpost zumindest tendenziell Aufschluss darüber geben, in welcher Weise das Fernsehpublikum die televisuellen Deutungsangebote rezipierte. Um diesen „dialogische[n] Anschluss“ (S. 20) zwischen Medium und Publikum exemplarisch in den Blick zu nehmen, untersucht Raul Jordan die schriftlichen Reaktionen des westdeutschen TV-Publikums auf die Ausstrahlung der US-Fernsehserie „Holocaust“ im Januar 1979. Von den etwa 9.000 Zuschauerbriefen, die erhalten geblieben sind und in Folge eines zeitgenössischen Forschungsprojektes2 im Archiv des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin aufbewahrt werden, unterzieht der Autor insgesamt 104 Schriftstücke, die durch ein zweifelhaftes Verfahren ausgewählt wurden3, einer qualitativen Inhaltsanalyse. Durch die Auswertung der Briefe sollen, so Jordans Zielsetzung, Aussagen zur „Politischen Kultur der BRD Ende der siebziger Jahre Anfang der achtziger Jahre“ getroffen werden: „Das zentrale Erkenntnisinteresse richtet sich auf Aussagen, die einen Bezug zu den Einstellungen der Zuschauer zur NS-Vergangenheit und dem Umgang mit ihr in der BRD insgesamt haben“ (S. 13).

Gleichwohl evoziert nicht nur die methodische Herangehensweise, sondern auch die überaus verengte Begriffsbestimmung von Politischer Kultur kaum zu übersehende Probleme: Erstens erfordert die deduktiv verfahrende Methode der Inhaltsanalyse bereits vorab die Festlegung von Analysekategorien (z.B. „Schuld zustimmend“, „ambivalent“ und „Schuld ablehnend“) wie auch einer zu verifizierenden bzw. falsifizierenden Ausgangsthese. Letztere lautet, dass „das ‚Medienereignis Holocaust‘ […] die Erinnerung an den NS verändert und dadurch eine Veränderung der Einstellungen zum NS und dessen Aufarbeitung (mit- ) bewirkt“ habe (S. 92). Da in der vorliegenden Arbeit jedoch auf eine diachrone Perspektive vollständig verzichtet wird, überrascht es kaum, dass der Autor zu einem nur wenig aussagekräftigen Ergebnis gelangt: „Die Ausgangsthese, dass die durch das Medienereignis ,Holocaust‘ bewirkte Veränderung in den Briefen sichtbar wird, lässt sich nur teilweise bestätigen. Die Erschütterung vieler Verfasser wird deutlich, das Aufbrechen eines Vakuums unerzählter Geschichten ebenso wie der Wissensschub und die in Gang gesetzte, verstärkte Auseinandersetzung. Insgesamt sind die Briefe jedoch ein Abbild der vorhandenen Einstellungen, in denen eher Rückstände überholter Politischer Kulturen sichtbar werden, als dass sich die zukünftigen Erinnerungsdiskurse der achtziger Jahre abzeichnen würden“ (S. 161).

Zweitens, dies wird durch das voranstehende Zitat deutlich, operiert der Autor mit einem zutiefst reduktionistischen Verständnis von Politischer Kultur, die er als „Gesamtheit der Orientierungen einer Bevölkerung gegenüber einem politischen System einschließlich seiner Repräsentanten“ (S. 61) verstanden wissen möchte. Problematisch ist nicht allein, dass Jordan mit „Politische Kultur“ lediglich als „rückständig“ oder „fortschrittlich“ zu klassifizierende „Einstellungen“ verbindet und folgerichtig andere Ausprägungen Politischer Kultur (Diskurse, Symboliken, Praktiken etc.) eklatant vernachlässigt.4 Zudem versperrt dieses in der Politikwissenschaft nach wie vor verbreitete Begriffsverständnis die Sicht auf weitere Fragen, die an das Quellenmaterial hätten gestellt werden können. Denkbar wäre beispielsweise gewesen, die Briefe als Medium der Subjektkonstitution zu begreifen und nicht ausschließlich danach zu fragen, ob „Schuld“ oder „Verantwortung“ akzeptiert oder abgelehnt wurde, sondern ebenfalls auszuloten, ob sich Angehörige der (west-)deutschen Mehrheitsgesellschaft vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten über die psychischen Langzeitfolgen der „Kriegskinder“ bereits um 1980 als (traumatisierte) Opfer stilisierten.5 Ebenso ließe sich Zuschauerpost als Ausdrucksmedium des zuletzt intensiv erforschten Familiengedächtnisses fassen, welches selbst wiederum stets durch Erzeugnisse der Public History (vor allem Kinofilme und Fernsehsendungen) mitgeprägt wird.6 Hieran anknüpfend hätte auch thematisiert werden können, in welchem Umfang das populär-kulturelle Format und die emotionalisierende Ausrichtung der Serie mit den gewandelten Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsweisen des Fernsehpublikums korrespondierte.

Dass solche und andere Fragen nicht gestellt werden, hängt in erster Linie damit zusammen, dass der Autor die Forschungsliteratur nur sehr ausschnitthaft wahrnimmt. Eine Auseinandersetzung mit der umfangreichen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung unterbleibt vollkommen, aber auch andere Kernbegriffe der Arbeit werden nicht näher bestimmt. Dies betrifft vor allem den im Titel verwendeten Terminus des Medienereignisses, um den in den letzten Jahren eine umfangreiche theoretische Diskussion geführt wurde.7 Überhaupt fällt bei einer Durchsicht des Literaturverzeichnisses auf, dass in dieser 2008 publizierten Arbeit Forschungsliteratur, die nach dem Jahr 2003 veröffentlicht worden ist, keinerlei Berücksichtigung findet. Offenkundig ist der Text ohne jegliche Überarbeitung in den Druck gegangen, was sich auch an dem über weite Strecken schwer erträglichen Schreibstil erkennen lässt, der sich unter anderem in vielen Sätzen ohne Prädikat und der Vermeidung des Konjunktivs manifestiert. Darüber hinaus wäre für die Publikation auch eine deutliche Straffung des umfangreichen und in keinster Weise in Beziehung zum eigentlichen Gegenstand der Arbeit gesetzten Kapitels über den „Umgang mit NS-Vergangenheit in der deutschen Öffentlichkeit“ (S. 34-64) dringend vonnöten gewesen.

Möglicherweise – dies sei als Schlusswort angemerkt – hätten die vorgeschlagenen Anregungen und Kritikpunkte den Rahmen einer Diplomarbeit mehr als gesprengt. Doch damit kehren wir wieder an den Beginn dieser Rezension zurück: Weshalb, so wäre berechtigterweise zu fragen, den Büchermarkt zunehmend mit halbgaren Texten – und mehr können Studienabschlussarbeiten in der Regel nicht sein – überschwemmen, anstatt die zuweilen durchaus nennenswerten Forschungserträge von Absolventen und Absolventinnen in Gestalt von prägnanten (und redaktionell überarbeiteten!) Aufsätzen einer interessierten wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu präsentieren?

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa die am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin entstandene Magisterarbeit von Matthias Dahlke, Der Anschlag auf Olympia ’72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland, München 2006, vgl. hierzu die Rezension von Annette Vowinckel, in: H-Soz-u-Kult, 01.03.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-144> (19.01.2010).
2 Vgl. Friedrich Knilli / Siegfried Zielinski, Betrifft: „Holocaust“. Zuschauer schreiben an den WDR. Ein Projektbericht unter Mitarbeit von Erwin Gundelsheimer, Berlin 1983.
3 Lediglich jeder 84. Brief des Gesamtkonvoluts wurde herangezogen und ausgewertet. Folgerichtig weicht Jordans Stichprobe vor allem hinsichtlich der Kategorie Generationalität signifikant von der quantitativen Auswertung Knillis und Zielinskis ab.
4 Siehe unter anderem folgende Beiträge zur Diskussion um Ansätze einer Politischen Kulturgeschichte: Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005, vgl. hierzu die Rezension von Kathrin Groh, in: H-Soz-u-Kult, 29.03.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-209> (19.01.2010); Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, vgl. hierzu die Rezension von Gerd Schwerhoff, in: H-Soz-u-Kult, 07.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-021> (19.01.2010); Christoph Classen / Thomas Mergel, Die Kulturen des Politischen. Formen und Repräsentationen politischer Integration im 20. Jahrhundert, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 39 (2006/07), S. 48-53.
5 Vgl. hierzu jetzt Lu Seegers / Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die „Generation der Kriegskinder“. Historische Hintergründe und Deutungen, Gießen 2009, vgl. hierzu die Rezension von Frank Biess, in: H-Soz-u-Kult, 24.11.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-169> (19.01.2010).
6 Siehe hierzu insbesondere Harald Welzer u.a., „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2005, vgl. hierzu die Rezension von Isabel Heinemann, in: H-Soz-u-Kult, 18.09.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-127> (19.01.2010).
7 Vgl. neben dem grundlegenden Text von Daniel Dayan / Elihu Katz, Media Events. The Live Broadcasting of History, Cambridge 1992 auch die jüngere Veröffentlichung von Claus Leggewie / Friedrich Lenger, Zur Funktion und Geschichte von Medienereignissen, in: Unvergessliche Augenblicke. Die Inszenierung von Medienereignissen, Katalog zur Ausstellung im Museum für Kommunikation Frankfurt, Frankfurt am Main 2006, S. 8-15. Siehe auch die online abrufbaren Ziele und das Programm des Gießener Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“: <http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/dfgk/tme/forschungsprogramm> (19.01.2010).

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