Cover
Titel
Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965


Autor(en)
Hoff, Jan
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Eine Karikatur von 1990 zeigt ein sinkendes Schiff mit den Passagieren Marx, Engels, Lenin und Stalin. Während letzterer schon fast untergegangen ist, ragt Lenins Kopf ein wenig aus dem Wasser; von Engels ist noch der ganze Kopf, von Marx der Oberkörper zu sehen. Der schließliche Untergang des Schiffes mit all seinen Passagieren ist aber unzweifelhaft – jedenfalls in der Karikatur. Die Voraussage vom vollständigen Untergang des Marxschen Denkens war seinerzeit indes auch in zahllosen ernsthaften Abhandlungen nachzulesen.

Die Wirklichkeit scheint sich aber nicht an diese Voraussage zu halten. Zwar sind Marx und Engels, weit mehr noch Lenin und ganz sicher Stalin in all den Ländern im Kurswert sehr gesunken, denen einst das sowjetische Modell aufgenötigt wurde. Ein ebenso diffuses wie nostalgisches Erinnern „realsozialistischer“ Zustände kommt meist ohne Bezug zu den einstigen „Klassikern“ aus. Doch will das vorliegende Buch zeigen, dass sogar in Prag, Warschau oder Budapest die ernsthafte Beschäftigung mit Marx nicht nur die Passion isolierter Außenseiter geblieben ist. Das Ziel dieser Arbeit, einer von Wolfgang Wippermann und Frieder Otto Wolff an der Freien Universität Berlin betreuten Dissertation, ist freilich noch ambitionierter: Laut Klappentext sucht Jan Hoff nachzuweisen, „dass im Zuge der theoretischen Entdogmatisierung des Marxismus seit Mitte der 60er Jahre ebenso vielfältige wie fruchtbare Marx-Interpretationen und eine an der Marxschen Ökonomiekritik orientierte kritische Gesellschaftstheorie in zahlreichen Ländern der Welt ungeahnten Auftrieb erhielten“. Insbesondere habe sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Entwürfen zum „Kapital“ in „den letzten fünf Jahrzehnten beständig weiterentwickelt“.

Um diesen Nachweis zu führen, zeichnet der Verfasser die Marx-Rezeption in weiten Teilen der Welt nach und sucht den eurozentrischen Ansatz ähnlicher Arbeiten zu überwinden, indem er den außereuropäischen Debatten rund 70 der ersten 200 Seiten seines Buches widmet. Diese beinhalten die beiden ersten Kapitel, in denen es um die Entfaltung des Marxismus zur Massenideologie sowie um die darauf ausgerichteten Denkschulen geht. Dabei fällt aber eine gewisse Parallelität der im ersten und zweiten Kapitel behandelten Probleme auf, was den Text unnötig in die Länge zieht. Das dritte Kapitel konzentriert sich auf die Rezeption der Marxschen Werttheorie, soweit diese im „Kapital“ und dessen Vorarbeiten ihren Niederschlag fand.

Das Buch möchte einen weltweiten Marx-Diskurs als Wissens- und Theorietransfer nachzeichnen, der die Grenzen von Ländern, Kontinenten und Sprachen, leider weniger oft der verschiedenen ideologischen Schulen, überwinden will. Diese Globalisierung der Marx-Debatte, durch die Medienvielfalt befördert, habe mit dem Fall der Mauern, die die sowjetisch geprägte Welt umgaben, zu- und nicht abgenommen. Gerade weil der Marxismus und gar der Marxismus-Leninismus als Legitimationswissenschaft (weitgehend) verschwunden sind, könne heute der weltanschauliche Aspekt des Marxschen Denkens zu Gunsten der ökonomischen Theorie und der politischen Ökonomie zurücktreten. Diese Prämisse hat freilich den Nachteil, dass eine andere Dimension der Marxschen Gesellschaftstheorie bei Hoff sehr zurücktritt, nämlich der historische Materialismus.

Doch gerade an ihm lässt sich, mehr als in der Rekonstruktion wirtschaftstheoretischer Überlegungen, der Grundwiderspruch des Marxismus zeigen: Der Anspruch von Marx und Engels, ihre Auffassung von Geschichte und Gesellschaft als gesetzmäßigem Entwicklungsprozess den Naturwissenschaften an die Seite zu stellen, musste mit der gesellschaftskritischen Perspektive der beiden Revolutionäre in Konflikt geraten. Für die politische Durchschlagskraft des Marxismus war dessen Doppelcharakter außerordentlich fördernd: die Verbindung einer Gesellschaftsanalyse mit einem massenwirksamen Impuls, nämlich dem Aufruf zum Sturz der auf Ausbeutung und Ungleichheit beruhenden Gesellschaft. Für den Marxismus als Denkmethode und somit für das marxistische Gesellschaftsdenken erwies sich genau dies aber als hinderlich, beurteilten doch Marxisten neu auftretende Probleme oft nur danach, wieweit deren Lösung in ihr revolutionäres Konzept passte. Kein Geringerer als Ossip Flechtheim hat dieser Problematik eine Reihe von Arbeiten gewidmet, doch erscheint sein Name nicht im vorliegenden Buch.

Hoff konzentriert sich auf Autoren (und seltener Autorinnen), die zur politökonomischen, aber auch zur damit eng verbundenen erkenntnistheoretischen Dimension des Marxschen Denkens gearbeitet haben oder immer noch arbeiten. Dass die Rekonstruktion wie die Kritik des Geschichtsdenkens von Marx und Engels weit mehr zur Verbreitung des Marxismus beigetragen hat als die Debatte zu – wichtigen! – Fragen, die „Das Kapital“ betreffen, muss aber betont werden, wenn es um das Thema „Marx global“ geht. Das Buch bietet dennoch eine Fülle von Informationen zu Forschungsvorhaben auf fast allen Kontinenten (lediglich Australien fehlt). Nur auf einige ausgewählte Problemfelder und Protagonisten kann hier verwiesen werden.

Detailliert fällt die Analyse westeuropäischer und nordamerikanischer Forschungen aus. Ein zentraler Teilnehmer der Debatten ist für Hoff Louis Althusser, dessen Auffassung von je spezifischen Elementen gesellschaftlicher Praxis er überzeugend darlegt. Nicht weniger schlüssig ist im dritten Kapitel die Bezugnahme auf Helmut Reichelt und Hans-Georg Backhaus, deren zentrale Arbeiten zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx sowie zur Dialektik der Wertform in ihren rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhängen gut erläutert werden.

Im italienischen Diskurs arbeitet Hoff die wichtige Rolle Lucio Collettis als Philosophie-Historiker (vor seiner Wendung zum Antimarxisten) sowie Galvano della Volpes als Begründer einer „methodologisch ausgerichtete[n] Marx-Lektüre der Nachkriegszeit“ heraus (S. 144). Dazu etwas im Widerspruch steht die unkritisch wiedergegebene Behauptung Collettis, della Volpe habe im innerkommunistischen Marx-Diskurs nur deshalb eine so starke Aufmerksamkeit erfahren, weil er nach 1956 in der kommunistischen Partei verblieben sei (vgl. S. 39). Als Zeichen der Pluralität wertet Hoff die Tatsache, dass sowohl „Anti-Hegelianer“ wie Althusser und della Volpe wie auch an Hegel orientierte Denker, etwa Herbert Marcuse, zum westlichen Marxismus zu rechnen sind. Diesen Terminus nimmt der Autor übrigens nicht zum Nennwert, sondern diskutiert ihn (und das Werk seines „Urhebers“ Perry Anderson) recht kritisch.

Überhaupt muss sich die große Schar angelsächsischer Marxisten einige Kritik gefallen lassen: Da viele von ihnen laut Hoff nur die englische Sprache beherrschten, entgingen ihnen wichtige Entwicklungen (vgl. S. 183, S. 195). So hätten sich im englischsprachigen Raum erst seit den 1970er-Jahren „differenzierte Interpretationsansätze herausgebildet“ (S. 184), was aber mit Blick auf eine Pleiade älterer Marxforscher zu bezweifeln ist – zu nennen sind nur Harold Laski, Sidney Hook und Paul Baran. Als Beitrag vor allem US-amerikanischer Forscher wird der „analytische Marxismus“ kritisch gewertet. Da dessen Hauptvertreter wie John Roemer und Jon Elster das „Erbe dialektischen Denkens“ und teilweise sogar die Marxsche Arbeitswertlehre aufgäben, sei aber zu fragen, inwieweit sie noch zu den Marxisten zählten (S. 193). Diese Denkrichtung sei deshalb zu Recht „inzwischen weitgehend in der Versenkung“ verschwunden (S. 198). Hier wie an anderen Stellen erscheint manches Urteil allzu forsch formuliert. Dennoch ist die Debatte, soweit sie die Marxforschung der westlichen Welt betrifft, insgesamt gut und prägnant wiedergegeben. Auch die Abschnitte zu Lateinamerika enthalten manch nützlichen Hinweis.

Das insgesamt positive Urteil gilt weniger für die Passagen zur Marxforschung in der (ehemals) sozialistischen Welt und im asiatischen Raum. Weisen schon die Abschnitte zur DDR manch vermeidbare Lücke auf (etwa zur Leipziger oder Jenaer MEGA-Forschung), ist die russische Debatte, sofern nicht in westlichen Sprachen verfügbar, schlicht nicht vorhanden. Dass in Russland um Marx inzwischen wieder kräftig gestritten wird, hätte schon einer genaueren Untersuchung bedurft. Was zum Forschungsstand in Polen, der Tschechischen Republik oder Ungarn gesagt wird, bleibt im Allgemeinen stecken. Die rumänische Marxforschung mit ihrer langen Tradition wird nicht genannt. Da viele Schriften der jugoslawischen „Praxis“-Gruppe inzwischen übersetzt sind, erfolgt deren Abhandlung genauer, doch fehlen wichtige Untersuchungen zur Entfremdungs-Problematik aus diesem Kreis. Schließlich liegen zur Marxismus-Rezeption im arabischen Raum bis zu den 1980er-Jahren Arbeiten der ostdeutschen Forscher Gerhard Höpp und Karl Melzer vor, an die zu erinnern 20 Jahre nach der Beseitigung der DDR-Forschung durchaus vonnöten ist. Der Rezensent ist nicht kompetent, den Stand der Marxforschung etwa in Japan oder China zu beurteilen, doch entlässt die Lektüre den nachdenklichen Leser hier mit mehr Fragen, als es wünschenswert ist.

Diese Kritik soll nicht beckmesserisch wirken. Niemand wird erwarten, dass sich irgendein Autor in der Marxforschung aller Länder gleich gut auskennt. Es zeigt sich vielmehr, dass ein einzelner Autor die Vielfalt solcher Forschungen auch ansatzweise allein nicht mehr erfassen kann. Doch ist es Hoff insgesamt überzeugend gelungen, die Verknüpfungen der einzelnen Forschungs- und Rezeptionsstränge darzulegen. Zur weiteren, vertiefenden Debatte sind aber kollektive Anstrengungen vonnöten, möglichst auch interdisziplinäres Arbeiten. Jan Hoff hat mit seinem Buch einen Beitrag zur Diskussion geleistet, an den produktiv anzuknüpfen ist.

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