P. Pithart: Devětaosmdesátý [Das Jahr Neunundachtzig]

Titel
Devětaosmdesátý. Vzpomínky a myšlenky. Krédo


Autor(en)
Pithart, Petr
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
Kč 300
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bedrich Loewenstein, Berlin

Es sei nur allzu leicht, gegenüber den Herrschenden Recht zu haben: Sie seien nicht das Thema, nur wir selbst, unser moralischer Zustand, der es den „verbliebenen Exponaten des Stalinismus-Museums“ gestattete, uns so lange zu beherrschen (S. 93). Wer Anfang November 1989 in Prag solche Gedanken plakatierte, war ohne Zweifel ein Politiker besonderer Art. Petr Pithart (geboren 1941), Jurist, Politologe, zwanzig Jahre Berufsverbot, die zumeist mit manueller Arbeit verbracht wurden, aber zugleich mit der Herausgabe zahlreicher Samisdat-Texte, 1989 nach Václav Havel Leiter des Bürgerforums, 1990/92 tschechischer Premier, 1996/97 und 2000/04 Senatspräsident, ist in der Tat eine eindrucksvolle intellektuelle Politikerpersönlichkeit. Von großer Redlichkeit und Nachdenklichkeit auch in seinen Ämtern, musste der Liberalkonservative gegen weniger selbstkritische Vollblutpolitiker, wie Václav Klaus oder Vlado Mečiar, fast zwangsläufig den Kürzeren ziehen.

Ein weiterer Grund, auch für sein Scheitern, Nachfolger Havels im Präsidialamt zu werden, war sein in den Jahren der „Normalisierung“ (zusammen mit Petr Příhoda und Milan Otáhal) verfasster selbstkritischer Großessay über die moderne tschechische Geschichte1, der nach seinem ersten Erscheinen in den 1990er-Jahren weniger diskutiert, wie als „Nestbeschmutzung“ denunziert wurde. Jetzt hat Pithart einen Rechenschaftsbericht über den tschechischen Umsturz von 1989/90 vorgelegt, den er keineswegs als Revolution bezeichnen will; auch als Akteur hat er viel dafür getan, die Ereignisse nicht zu „revolutionären“ eskalieren zu lassen, das heißt „jakobinisch“ mit den Kommunisten abzurechnen: das hätte bedeutet, im Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu verbleiben. Aber es gab auch keinen Wohlfahrtsausschuss, der Dekrete und Proskriptionslisten verabschiedet hätte; last not least hatte man den Kommunismus nicht besiegt, er hatte selbst aufgegeben, war implodiert. So blieb als Ausweg nur eine „ausgehandelte Revolution, die eine gewisse Kontinuität respektierte“ (S. 152). Pithart hat dafür noch weitere, „tocquevillsche“ Gründe: die Jahre der sogenannten Normalisierung, der Kapitulation und Anpassung, des Nihilismus der tschechischen Gesellschaft nach der Niederschlagung der Reformbewegung von 1968, haben letztlich über den Charakter des Umsturzes, ja auch der folgenden Jahre, mitentschieden.

Seine eigene Rolle in diesen Jahren spielt Pithart etwas herunter – als „Reflexions-Dissens“ (zum Unterschied von „Protest-Dissens“), der aber unter Umständen nicht weniger riskierte als der letztere; im Übrigen respektierte man einander gegenseitig, und nicht nur Václav Havel gehörte beiden Gruppierungen an. – Zu Pitharts wichtigsten Publikationen der Zeit, die er als Parkgärtner auf dem Prager Laurenziberg verbrachte, gehört eine „Verteidigung der Politik“2 und seine kühle Dekonstruktion von „Achtundsechzig“3, beide alsbald in Emigrationsverlagen erschienen. Damals überraschte die große Distanz zur reformkommunistischen Garnitur, die der Bevölkerung durch ihre Niveaulosigkeit die Dimension Hoffnung genommen hatte (S. 159, 167f., 192), eine Distanz, die dann im Herbst 1989 auch gegenüber Dubček und sogar dem emigrierten Mlynář zum Ausdruck kam, vor allem Dubčeks Aspirationen aufs Präsidentenamt.

Der eigentliche Verlauf der tschechoslowakischen „Wende“ ist bereits gut dokumentiert und analysiert4, und so kommt die Bedeutung des Buches Pitharts Kommentaren zu – etwa der These von der „Pfadabhängigkeit“, der Kontinuität zwischen den halbkriminellen de facto-Privatisierungen im Realsozialismus und der gewollt ungeregelten Transformation nach 1989. „Wir hatten keine andere Chance, als den Markt in seiner schlimmstdenkbaren Schule des Realsozialismus zu erlernen“ (S. 61). Ob die tatsächliche Situation in den weniger resignierten Nachbarländern Polen und Ungarn aber grundsätzlich anders war bzw. ist, wie der Moralist unterstellt, dürfte allerdings fraglich sein.

Pithart misst psychischen Faktoren, auch Auslösern des Umsturzes, einige Bedeutung bei, die zum Zerfall der KPČ führten, deren Mitglieder schließlich ihre Ausweise wegwarfen, wie benutzte Fahrkarten, und zur Überwindung der Angstschwelle bei einer immer größeren Öffentlichkeit: doch war die niedergeknüppelte Studentendemonstration vom 17. November gerade k e i n „Massaker“ (als das Pithart sie bezeichnet). Das sich daraufhin konstituierende Bürgerforum OF strebte noch selbst keine Macht an, wollte auch keine Partei sein, sondern in erster Reihe vermitteln. Vor allem wollte es nicht die Formen kommunistischer Machtübernahme kopieren, nicht die Kommunisten bekämpfen bzw. verbieten, sondern deren Praktiken. Hier kommen – bei allem Respekt – Pitharts Vorbehalte gegenüber Václav Havel, der maßgeblichen Persönlichkeit von 1989, zum Tragen: Trotz des schlechten Rufs der Parteien im tschechischen Bewusstsein kann Macht nur mit Macht begegnet werden; „unpolitische Politik“ ist für ihn keine Alternative. Havel, dem Pithart ein eigenes Kapitel widmet, erscheint nicht einfach als politischer Intellektueller, sondern als „geistiger Mensch“, aber auch autoritärer Regisseur, homo dramaticus, mit Sinn für Absurditäten, der immer auf eine Pointe hinsteuert (S. 215), der die Bedeutung von Institutionen unterschätzt und dessen moralisierende Diktion den Durchschnittsbürger abschreckt.

Die Entscheidung, Havel von (eingeschüchterten) kommunistischen Abgeordneten zum Staatspräsidenten wählen zu lassen, widersprach natürlich allen seinen Grundsätzen (dem „Leben in Wahrheit“), aber war dennoch vernünftig, wenn man die KPČ nicht verbieten, sondern im Juni 1990 in freien Wahlen besiegen wollte; im Übrigen lehnte man Rachsucht und das Prinzip der Kollektivschuld als „moralischen Regress“ ab (Pithart erkannte dieses schon 1977 als Zivilisationsbruch, ja Ursache der „nationalen Pathologie“ nach 1945; doch waren die offenen Debatten der Dissidenten der übrigen Bevölkerung meist weder bekannt noch nachvollziehbar). Anderseits hält er Havels häufige Alleingänge, etwa die Entscheidung, nach seiner Wahl nicht die Slowakei, sondern Deutschland aufzusuchen, für instinktlos und für eine der Ursachen des folgenden Staatszerfalls. Diesem räumt der Kenner der älteren tschecho-slowakischen Beziehungen viel Platz ein, wobei insbesondere den Tschechen ein Mangel an Großzügigkeit und Empathie vorgeworfen wird (S. 243, 254); während ihnen die Föderation gleichgültig war, verhielten sich die Slowaken umgekehrt etwa so, wie die Tschechen 1848 gegenüber Frankfurt (Palackýs Absagebrief ans deutsche Vorparlament). Bezeichnend ist, dass ihm als tschechischem Ministerpräsidenten während der Verhandlungen mit Bratislava vorgeworfen wurde, sich zu sehr in slowakische Komplexe „einzufühlen“: vermutlich ist er von der kritisierten „unpolitischen Politik“ stärker geprägt, als der konservative Liebhaber von Institutionen und Regeln wahrhaben will.

Das zeigt sich in seinen eher seltenen Seitenhieben gegen Václav Klaus, der mit seiner Arroganz und neoliberalistischen Dogmatik verantwortlich erscheint für die klientelistische Durchdringung von Wirtschaft und Politik sowie dafür, dass der Umsturz von 1989 sein Ethos und sein Credo verloren und Katharsis nicht stattgefunden hat (S. 276). Vielleicht hat aber auch nur Ralf Dahrendorf Recht mit seiner Voraussage von 1989, die Schaffung einer bürgerlichen Gesellschaft werde, anders als die Wiedereinführung des Kapitalismus, einige sechzig Jahre dauern.

Anmerkungen:
1 Podiven, Češi v dějinách nové doby: (pokus o zrcadlo) [Die Tschechen in der Geschichte der Neuzeit (Versuch eines Spiegels)], Praha 1991. Deutsch erschienen unter dem Titel: Wo ist unsere Heimat?, München 2003.
2 Petr Pithart, Obrana politiky [Die Verteidugung der Politik], Praha 1990.
3 Petr Pithart, Osmašedesátý [Das Jahr Achtundsechzig], Köln 1980.
4 Vor allem von Jiří Suk, Labyrintem revoluce [Durch das Labyrinth der Revolution], Praha 2003.

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