C. Horel: Cette Europe qu'on dit centrale

Titel
Cette Europe qu'on dit centrale des Habsbourg à l'intégration européenne, 1815-2004.


Autor(en)
Horel, Catherine
Reihe
Bibliothèque historique et littéraire
Erschienen
Paris 2009: Beauchesne
Anzahl Seiten
483 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fritz Taubert, Paris

Schon der Titel des letzten Buches der französischen Historikerin Catherine Horel ist ein kleines Meisterstück. Sie schickt sich an, über „dieses Europa, das man zentral nennt“ zu schreiben; zwar auf französisch, aber mit dem linguistischen Hintergrund sämtlicher Sprachen, die in diesem so genannten Europa gesprochen werden. Ihr Verdienst ist es, die vielfältigen Probleme dieses zunächst einmal undefinierten Teils von Europas eben nicht als eine Gesamtheit darzustellen – allerdings durchaus übersichtlich und in einem Stil, den man im Französischen mit „alerte“ bezeichnet, das heißt rasch und präzise, sodass keine „epische“ Langeweile aufkommt.

Die Übersichtlichkeit des Buches kommt dadurch zustande, dass Horel zunächst einen historischen Überblick die „mitteleuropäischen“ Länder betreffend gibt, was das Buch auch für Nicht-Spezialisten „konsumierbar“ im besten Sinne macht. Auch hier entsteht kein „Gesamt“-Bild, sondern die betroffenen Staaten, Länder und Regionen werden in den verschiedenen Epochen des 19. und 20. Jahrhunderts zueinander in Beziehung gesetzt, sodass nicht nur die Vielgestaltigkeit des geopolitischen Raumes deutlich wird, sondern auch das ausgesprochen komplexe Beziehungsgeflecht in den verschiedenen Epochen.

Im zweiten Teil beschäftigt sich Horel mit den Mitteleuropabildern und -rezeptionen, zunächst mit dem, was man die Innensicht, das heißt die Selbstrezeption der verschiedenen Protagonisten nennen könnte, sodann mit der Außensicht, die sich mit der Innensicht zuweilen vermischt, da sich die jeweiligen Gesellschaften oft gleichsam selbst von außen betrachten. In einem letzten Teil werden die Phänomene der politischen Kultur in den verschiedenen mitteleuropäischen Ländern behandelt.

Die sehr nützliche Erinnerung an die Geschichte der Länder Mitteleuropas im ersten Teil, die großenteils sich mit der Österreich-Ungarns vermischt, streift kurz das 18. Jahrhundert, konzentriert sich jedoch vor allem auf das 19. mit einem ersten Kulminationspunkt, dem Jahr 1848. Horel stellt für die Folge eine gewisse Slawisierung fest, eine Ostorientierung, die durch die Verluste der Habsburger Monarchie im Westen, vor allem in Italien, gefördert wird. Von Anfang an, besonders in den Teilen, die sich mit dem 20. Jahrhundert befassen, werden auch stets das vorläufige Ende der Geschichte, die heutige Situation, das heißt die heute bestehenden Staaten im Blick behalten. In dieser Perspektive fehlt aber auch nicht die Erinnerung daran, dass einige dieser heutigen Staaten eine relativ „anrüchige“ Geschichte als historische Staatsgebilde hatten (die Slowakei und Kroatien im Zweiten Weltkrieg). Damit erwähnt Horel, wie problematisch es zuweilen ist, sich auf solche historischen Staatsgebilde als Legitimierung eines endgültigen „nation building“ zu berufen.

Doch ist hierbei ein Hauptproblem nach 1945 zu bedenken: aus großen Teilen Mitteleuropas wurde Osteuropa – und das ohne den Willen und das Zutun der betroffenen Staaten. Minderheitenprobleme existieren nach wie vor, werden jedoch „unter den Teppich gekehrt“. Alle Westverbindungen nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch mentaler Art werden gekappt; hier sind vor allem auch religiöse Bindungen zu nennen, denn Mitteleuropa ist nicht orthodox.

Die Renaissance „Mitteleuropas“ nach der Wende wird von Catherine Horel eher skeptisch gesehen. Sie macht nostalgische Tendenzen aus, fragt jedoch nach deren Grundlagen: Das friedliche Zusammenleben von Ethnien und Minderheiten? Fast alle Staaten waren nun tendenziell ethnisch pur, aus verschiedenen Gründen (Vertreibung der Deutschen, Umsiedlung anderer Bevölkerungsgruppen, Verkleinerung des Territoriums etc.). Sehnsucht nach Österreich-Ungarn? Nach dessen Untergang hatte die Minderheitenproblematik erst einen grandiosen Aufschwung genommen. Suche nach irgendwelchen Brückenfunktionen? Solche wurden schon in der Zwischenkriegszeit nicht von jedermann als vorteilhaft angesehen. Betonung mentaler Besonderheiten? Dergleichen hat heute keinen wirklichen Sinn mehr – kurz Horel räumt mit Nostalgien ohne Sentimentalität gründlich auf.

Dafür wirft sie in die Waagschale, dass heute alle mitteleuropäischen Staaten Demokratien sind, was in der Geschichte eine absolute Neuheit darstellt; dadurch bekommen sie tatsächlich eine Mittler-Stellung zwischen Osteuropa und Westeuropa. Sie gleiten gleichsam vom ehemals sowjetischen Osten nach Westen, wo sie durch Europa geschützt werden – auch vor ihren eigenen Dämonen (zum Beispiel durch den Minderheitenschutz, der durch die EU garantiert wird)!

Im Innern war die Identitätssuche seit dem 19. Jahrhundert eines der vordringlichsten Probleme, die die betreffenden Völker zu lösen versuchten. Sie betraf nach dem Ersten Weltkrieg auch das allgemeine Sicherheitsverlangen der jungen Staaten aufgrund der allgemein verbreiteten Furcht vor einem Einfall stärkerer Nachbarn; das Beispiel Polen ist besonders erhellend, denn hier handelte es sich gleich um zwei potentielle starke Gegner: Deutschland und Russland. Die mit dem Sicherheitsverlangen einhergehenden Minderwertigkeitskomplexe hatten mehrere Facetten: sie resultierten aus ständigen Niederlagen, woraus sich ein „Märtyrerkult“ ableitete. Ein weiterer Aspekt war das Gefühl ständiger Zurückgebliebenheit im Vergleich zum Westen, insbesondere gegenüber Deutschland; die Schuld daran wurde der Reihe nach den Türken, den Russen, den Österreichern und den Sowjets in die Schuhe geschoben. Das daraus entstehende Opfersyndrom, das Horel auch „Mythos der eigenen Schwäche“ nennt („mythe de la fragilité“, S. 201), führte nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums zu einem allgemeinen Willen, der EU anzugehören.

Andererseits gab es in der Selbstwahrnehmung dieser Völker auch geradezu bizarr zu nennende Selbstüberschätzungen. In Richtung eines Bollwerkes entweder gegen den Osten (Russland) oder gegen den Westen (Deutschland) entstanden große Pläne. So Anfang des 20. Jahrhunderts der eines alle mitteleuropäischen Slawen zusammenzuführenden Korridors von Süd nach Nord, der Kroaten, Tschechen und Polen in einem einzigen Wirtschaftsraum bis Petrograd zusammenfassen sollte.

Wenn Deutschland und Russland für die von Horel behandelten Mitteleuropäer zumeist als Gefahrenherde betrachtet wurden – trotz eventueller Slawophilie bzw. Germanophonie –, so nahm Österreich eine besondere Stellung ein. Anhand der österreichischen Literatur namentlich der Zwischenkriegszeit (Musil, Zweig, Doderer) wird der Zwiespalt zwischen Österreich als Nostalgieobjekt und der Realität gezeigt. Zumeist erscheint die verklärte k. und k. Monarchie als höchst ambivalente Konstruktion, wenn sich beispielsweise in ungarischen Häusern Bilder des Kaisers Franz-Josef neben denen der Märtyrer von Arad fanden. Letztere waren die Generäle des Aufstandes von 1848, die auf Befehl des Ersteren hingerichtet wurden.

Ein weiteres merkwürdiges Gewächs auf mitteleuropäischem k. und k. Boden ist der „Landespatriotismus“, das heißt, dass etwa die galizischen Polen eher Wien als ihre Hauptstadt ansahen denn Warschau, sich aber trotzdem natürlich als polnische Patrioten fühlten. Die Monarchie hielt auch dadurch, dass nationale Grenzen in ihrem Innern wenig Bedeutung hatten, solche Widersprüche nicht nur aus, sondern förderte durch die deutsche Sprache als eine Art „lingua franca“ den Multikulturalismus. Dieser „funktionierte“ – so Horel - auch und vor allem durch die Juden bis in die 1930er-Jahre und verlieh ihnen eine nicht zu überschätzende Rolle im kulturellen, technischen und kommerziellen Bereich. Da auch die Universitäten fast durchwegs „deutsch“ waren, sei der für die Region so typische weitgefasste Kulturtransfer großenteils dem Deutschen zu verdanken gewesen.

Da von großer Bedeutung in Bezug auf die Terminologie (S. 262ff.), handelt Horel die ideologischen und historiografischen Hintergründe aller Bezeichnungen dieses Raumes ab: von „Mitteleuropa“ selbst, das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr benützt wurde, da es durch die NS-Terminologie diskreditiert war, geht die Begriffsreise über Zentraleuropa, Osteuropa, Ostmitteleuropa, Südosteuropa und Zwischeneuropa („erfunden“ 1917, wieder benützt nach dem Zweiten Weltkrieg von Egon Bahr, dem „Architekten“ der Ostpolitik Willy Brandts) bis zurück zu … „Mitteleuropa“, das paradoxerweise durch den österreichischen Kanzler Kreisky in den 1970er-Jahren und nach 1989 durch mitteleuropäische Intellektuelle wieder salonfähig wurde!

Auf erfrischende Art zerstört die Pariser Historikerin liebgewordene Mythen wie die Habsburg-Nostalgie, den Franz-Ferdinand-Mythos oder den sogenannten Dritten Weg in Jugoslawien. Selbst wenn sie der Meinung ist, dass das Einzige, das von Mitteleuropa heute noch bleibt, eine bestimmte Art der Kultur sei, zum Beispiel die, wie man miteinander umgeht, lehnt sie jeden Kult um eine mitteleuropäische Kultur, wie ihn Nostalgiker jeder Couleur pflegen, nicht ohne eine gewisse Ironie unter Hinweis darauf ab, dass Mitteleuropaideen allermeistens gegen etwas gerichtet waren und somit ab-, zuweilen sogar ausgrenzend gewirkt hätten.

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