: German Histories in the Age of Reformations, 1400-1650. . Cambridge 2009 : Cambridge University Press, ISBN 978-0-521-71778-6 477 S. € 21,45

: Geschichte der Reformation. . Frankfurt a.M. 2009 : Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, ISBN 978-3-458-71024-0 954 S. € 48,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Stegmann, Institut für Kirchengeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Herbst 2009 sind zwei für ein breiteres Publikum bestimmte Darstellungen zur deutschen Geschichte im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erschienen, die besonderes Interesse beanspruchen dürfen. Titel und Inhaltsverzeichnisse der beiden Bücher lassen zwei unterschiedliche Schwerpunkte erkennen: zum einen die Geschichte des deutschen Reichs vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, zum anderen die Geschichte der Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Trotz dieser unterschiedlichen Schwerpunktsetzung geht es in beiden Büchern um dasselbe, nämlich um das, was Ranke Mitte des 19. Jahrhunderts der Geschichtsschreibung als „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ zur Aufgabe gemacht hat. Die Unterschiede zwischen Brady und Kaufmann ergeben sich aus dem jeweiligen Verständnis der deutschen Geschichte zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Brady sieht primär die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die als langfristiger, vielgestaltiger Zusammenhang zu erzählen ist. Kaufmann betont dagegen die religiös-kirchlichen Entwicklungen, für die Luther und die 1520er Jahre von zentraler Bedeutung sind. Damit liegen mit Bradys und Kaufmanns Gesamtdarstellungen nicht komplementäre, sondern konkurrierende Entwürfe vor, die erweisen, dass die Unterschiede zwischen einer sozialgeschichtlich und einer kirchengeschichtlich orientierten Reformationshistoriographie auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts fortdauern.

Thomas A. Brady (*1937), Professor für Geschichte an der University of California in Berkeley, legt mit seiner Darstellung die Summe seiner langjährigen Forschungen zur frühneuzeitlichen deutschen Geschichte vor. Am Beispiel Straßburgs und Oberdeutschlands hat er immer wieder die Geschichte der Reformation und ihrer Voraussetzungen und Folgen im Großen wie im Kleinen erkundet.1 Seine Darstellung erstreckt sich vom Beginn des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und organisiert den Stoff in vier Hauptteilen. Der einleitende erste Teil macht den Leser mit den spätmittelalterlichen Ausgangsbedingungen der „deutschen ‚Geschichten‘ im Zeitalter der Reformationen“ vertraut. Die im zweiten Teil behandelten politischen und kirchlichen Reformversuche des 15. Jahrhunderts waren für Brady wichtige, wenn auch nicht immer erfolgreiche Ansätze zu einer grundlegenden Neuordnung des Reichs und der Kirche. Sie ermöglichten erst die im dritten Teil dargestellte religiöse Erneuerungsbewegung des 16. Jahrhunderts und beeinflussten diese in erheblichem Maße. Die politischen Strukturen des Reichs erwiesen sich aber auch als Grenze der religiösen Erneuerungsbewegung, indem sie das Überleben der Anhänger der römischen Papstkirche in Deutschland sicherten und das dauerhafte Nebeneinander zweier religiöser Richtungen gewährleisteten. Die entscheidenden Kräfte des Aufbruchs des 15. und des beschleunigten Wandels des 16. Jahrhunderts waren die Obrigkeiten und die hinsichtlich ihrer politisch-rechtlichen Stellung marginalisierten Gruppen des städtischen Bürgertums und des „gemeinen Manns“. Für Brady ist die eigentümliche politische Struktur des Reichs der Grund dafür, dass sich die politischen Reformversuche von oben und die religiöse Erneuerung von unten verbanden und trotz aller aufbrechenden Spannungen und Widersprüche einen grundlegenden Wandel herbeiführten. Der vierte Teil beschreibt dann die strukturelle Verfestigung des im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts erreichten Neben- und Miteinanders der Konfessionen bis zur endgültigen rechtlich-politischen Festschreibung 1648.

Obwohl der Titel und die Stoffverteilung der Darstellung eine Gleichrangigkeit der drei Abschnitte des „age of reformations“ („political reforms“, „religious reformations“, „formation of the old confessional order“) suggerieren, steht der mittlere sachlich im Zentrum. Allerdings macht Brady immer wieder deutlich, dass die Jahre vor 1520 und nach 1576 mehr als die Vor- und Nachgeschichte einer vermeintlichen Epoche der Reformation waren. Diese Relativierung der Reformation zugunsten eines sich über Jahrhunderte hinziehenden Wandels führt dazu, dass die religiös-kirchliche Erneuerung der „protestant reformation“ im Spannungsbogen von der spätmittelalterlichen Reichsreform zur frühneuzeitlichen Konfessionalisierung für die Darstellung eine wichtige, aber nicht die zentrale Rolle spielt. Luther stand für Brady zusammen mit Kaiser Karl V. am Ende der reformerischen Aufbrüche des 15. Jahrhunderts und markierte mit seiner als Schlusspunkt des zweiten Hauptteils vorgestellten Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ zugleich den Beginn der reformatorischen Bewegung der Folgezeit. Obwohl Brady den inneren Zusammenhang zwischen Luthers Publizistik, der frühen reformatorischen Bewegung, der obrigkeitlichen Verstetigung der Reformation und der Überführung in die beiden protestantischen Konfessionen sieht, weist er doch auf das Zurückbleiben der Verhältnisse hinter den reformatorischen Idealen hin. Luthers Theologie und die religiöse Erneuerungsbewegung der 1520er Jahre vermochten es seiner Meinung nach nicht, den Lauf der deutschen Geschichte in gänzlich neue Bahnen zu lenken. Stattdessen waren es letztlich die politischen Akteure, die Geschichte machten und denen darum über weite Strecken Bradys Hauptinteresse gilt.

Im Einzelnen bietet die für eine breitere englischsprachige Leserschaft konzipierte Darstellung nichts Neues. Sie schließt sich zum Teil eng an die Sekundärliteratur an, wobei die Interpretation streckenweise zugunsten der Präsentation elementaren Wissensstoffs zurücktritt. Die Erzählung wechselt souverän die Ebenen, indem Brady immer wieder die Überblicksperspektive verlässt und seine Deutung durch Quellenzitate und Schilderungen von Personen und Szenen verdichtet. Die Beispiele entnimmt der Autor häufig seinen eigenen Forschungen zur oberdeutschen und insbesondere zur Straßburger Geschichte. Manchmal gewinnt man geradezu den Eindruck, Brady erzähle so, wie wohl der Straßburger Politiker Jakob Strauß die Geschichte seines Zeitalters erzählt haben würde, nämlich mit dem Geschichtsbewusstsein und dem weiten Horizont eines religiös ernsthaften und politisch klugen oberdeutschen Stadtbürgers der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die leitenden historiographischen Überlegungen werden reflektiert, allerdings ohne ausführlichere Auseinandersetzung mit der Forschungsdiskussion. Das Buch ist mit zahlreichen Karten und Abbildungen, mit tabellarischen Übersichten, einem Glossar und einer Zusammenstellung von Quellen und Literatur ausgestattet.

Während Brady mit seinem Werk an eine Reihe neuerer englischsprachiger Darstellungen anschließt, 2 steht die Darstellung von Thomas Kaufmann (*1962), Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen, in der Tradition der deutschsprachigen evangelischen Kirchengeschichtsschreibung, die mit Kaufmanns Lehrer Bernd Moeller in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die geschichtswissenschaftliche Diskussion nachhaltig geprägt hat. Charakteristisch für diese Tradition ist die Betonung der Diskontinuitäten zwischen der Reformation und dem späten Mittelalter, die Fokussierung auf die Kirchen- und Theologiegeschichte und dabei das besondere Interesse für Martin Luther und die 1520er Jahre. Dass dieses durchaus nicht unproblematische Erzählmodell nicht antiquiert ist, beweist Kaufmanns Buch nachdrücklich. Überall – manchmal nur zwischen den Zeilen – ist das historiographische Problembewusstsein des Autors greifbar. Er schreibt nicht einfach die ältere kirchengeschichtliche Forschung fort, sondern setzt bei der Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts ein und entwickelt auf der Grundlage einer außerordentlich breiten Quellen- und Literaturkenntnis eine deren Sicht zugleich bestätigende und relativierende und dabei durchweg modernen Anforderungen entsprechende Erzählung.

Im Mittelpunkt stehen die Jahre vom Ablassstreit seit 1517 bis zum Augsburger Reichstag 1530, deren Darstellung fast zwei Drittel des Gesamtumfangs ausmacht. Sie wird eingerahmt von einem Teil zu den „Voraussetzungen der Reformation“ – einem Panorama des spätmittelalterlichen Deutschland – und einem Teil zur reichspolitischen Gefährdung und Sicherung der Reformation zwischen 1530 und 1555. Die Konzentration auf die religiöse Reformbewegung der 1520er Jahre ist gut begründet: Trotz der das Mittelalter und das konfessionelle Zeitalter verbindender Kontinuitätslinien, trotz allen langfristigen Wandels, trotz der Vielfalt der Reformideen und Erneuerungsbemühungen und trotz aller Bedeutsamkeit des gesellschaftlich-sozialen Rahmens erweist sich der mit Luthers Auftreten in Gang gesetzte religiös-kirchliche Ereigniszusammenhang als Kerngeschehen der Reformation. Kaufmann macht plausibel, wie Luthers theologische Ideen einen in seiner Breite und seinen Äußerungsformen neuartigen Diskurs auslösten, der zu politisch-rechtlichen Veränderungen führte und die Lebenswirklichkeit vieler Menschen nachhaltig prägte. Anhand vieler einzelner Ereignisse, Personen und Quellen, die zusammengenommen eine die Makroperspektive nicht nur illustrierende und ergänzende, sondern auch fundierende Mikroperspektive ausmachen, wird die Dynamik der frühen reformatorischen Bewegung nachgezeichnet. Kaufmann verleiht seiner Darstellung Plastizität und Tiefenschärfe, indem er die medialen Äußerungsformen des Diskurses vor Augen stellt und analysiert, und die Teilnahme einzelner Personen und Gruppen – etwa der drei bedeutendsten Flugschriftenautorinnen der reformatorischen Bewegung oder der wichtigsten Vertreter des Täufertums – lebendig schildert. Besonderes Interesse gilt gleichwohl durchweg Luther, dessen Ideen und Schriften die Reformation initiieren und wesentlich mitgestalteten. Kaufmann benennt die reformatorische Theologie und die religiöse Erneuerung als zentrale Momente der Entwicklung, und zwar sowohl zu Beginn als auch in ihrem Verlauf. Er zeigt aber auch die gegenseitige Verschränkung von religiöser Erneuerung und Reichspolitik auf, die es nicht zulässt, das eine auf das andere zu reduzieren. Kaufmanns Buch enthält nicht nur Bekanntes, sondern auch manche Entdeckung oder mindestens ungewohnte Akzentuierung. Die Fakten im Licht übergreifender Zusammenhänge neu und anders zu beleuchten, ist eine der Chancen einer Gesamtdarstellung – und sie wird in diesem Buch vielfach und überzeugend genutzt. So bietet beispielsweise Kaufmanns Abschnitt zu Luthers „Thesenanschlag“ eine gerade gegenüber der jüngst wieder aufgeflammten Diskussion eigenständige und überzeugende Rekonstruktion.

Der handliche Dünndruckband ist mit zahlreichen Karten und Abbildungen ausgestattet. Ein umfangreicher Anhang enthält Biogramme zahlreicher erwähnter Personen, ein Glossar für die verwendeten Fachbegriffe, eine Zeittafel und eine nach Kapiteln geordnete Auswahl weiterführender Literatur. Gerade dieser Anhang macht das Buch nicht nur für eine breitere Leserschaft, sondern auch als Einführungslektüre für Lehrveranstaltungen empfehlenswert.

Die beiden Darstellungen von Brady und Kaufmann bezeugen, dass die von Ranke gestellte Aufgabe noch nicht gelöst ist. Sie zeigen aber auch, dass die Forschungsdiskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Reformationsgeschichtsschreibung methodisch gründlich reflektiert und so versachlicht hat.3 Denn auch wenn beide Autoren an etablierte Deutungsansätze und Erzählmuster anknüpfen, so tun sie dies methodisch wohlüberlegt und im Bewusstsein der geschichtlichen Distanz zum Dargestellten. Aber gerade angesichts dieses reflektierten und versachlichten Umgangs mit der Geschichte haben die Unterschiede zwischen Brady und Kaufmann umso mehr Gewicht und lassen sich kaum zum Ausgleich bringen. Grundfragen der Reformationshistoriographie stellen sich so aufs Neue: die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit, die Frage nach der Zuordnung von Reichs- und Religionsperspektive sowie die Frage nach der Gewichtung der Kirchen- und Theologiegeschichte. Ist hier Brady Recht zu geben, dass der Bann von Rankes „Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation“ und damit die Geltung der lange Zeit vorherrschenden Antworten auf diese Fragen endgültig gebrochen ist? Allein das Bemühen um Abgrenzung signalisiert, dass Rankes Aufgabenstellung und die von ihm angeregten Lösungsversuche weiterhin diskussionswürdig bleiben. Und Kaufmann belegt, dass sich die reformationsgeschichtlichen Forschung durchaus zu Recht auf Deutschland und die Kirchen- und Theologiegeschichte konzentrieren darf. Dass zwei Autoren, die beide mit gewichtigen wissenschaftlichen Arbeiten über die Straßburger Reformation begonnen haben –Brady als Sozialhistoriker, Kaufmann als Kirchenhistoriker – zu so unterschiedlichen Darstellungen und Deutungen der deutschen Geschichte zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit kommen und dass jeder mit seiner Sicht der Dinge den Leser zu beeindrucken vermag, zeigt, welch großen Reichtum diese Geschichte birgt, die sich nicht auf einfache Formeln bringen lässt und möglicherweise gar keine abschließende Gesamtdeutung erlaubt.

Anmerkungen:
1 Einen Überblick über Bradys Werk gibt der erste Band der ihm vor zwei Jahren gewidmeten Festschrift: Christopher Ocker u.a. (Hrsg.), Politics and Reformations. Histories and Reformations, Leiden 2007. Siehe hier die Zusammenstellung von Bradys bis 2007 erschienener Schriften (S. XV-XXI) und die Beiträge von Kaspar v. Greyerz (S. 1-10) und Peter Blickle (S. 11-19).
2 Abgesehen von den Lehr- und Studienbüchern, von denen es in englischer wie deutscher Sprache viele gibt, sind unter den neueren englischsprachigen Gesamtdarstellungen hervorzuheben: das von Brady mit herausgegebene Handbook of European History, 1400-1600. Late Middle Ages, Renaissance, Reformation (zwei Bände, Leiden 1994-95); Euan Cameron, The European Reformation, Oxford 1991; Diarmaid MacCulloch, Reformation. Europe's House Divided, 1490-1700, London 2003 (deutsch München 2008); Scott H. Hendrix, Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization, Louisville KY 2004; Hans J. Hillerbrand, The Division of Christendom. Christianity in the Sixteenth Century, Louisville KY 2007.
3 Einen Überblick über Geschichte und gegenwärtigen Stand der Forschung bietet der Jubiläumsband des Archivs für Reformationsgeschichte (ARG 100, 2009), hier insbesondere die Beiträge von Kaufmann (S. 15-47) und Brady (S. 48-64).

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