A. Chaniotis u.a. (Hrsg.): Applied Classics

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Titel
Applied Classics. Comparisons, Constructs, Controversies


Herausgeber
Chaniotis, Angelos; Kuhn, Annika; Kuhn, Christina
Reihe
Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 46
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
VII, 259 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Lindner, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Antikenrezeption ist dabei, sich vom Ansehen als randständiges und „weiches“ Thema zu lösen und eine feste Rolle in den Altertumswissenschaften einzunehmen. Die Alte Geschichte hinkt dabei noch ein wenig dem Stand in den Altphilologien hinterher – so hat etwa keine der großen Reihen von Einführungswerken des Faches einen Band zu Antikenrezeption im Programm. Allmählich wird aber selbst die populäre Rezeption innerhalb der Disziplin salonfähig. Der vorliegende Band, herausgegeben von Angelos Chaniotis, Annika und Christina Kuhn, bildet diesen Prozess gewissermaßen im Kleinformat ab: 2005 wurde das Thema unter dem etwas sperrigen Titel „Klassische Bildung im Spannungsfeld zwischen Elitisierung und Popularisierung“ als Tagung von der Studienstiftung des Deutschen Volkes finanziert. Knapp vier Jahre später ist das Projekt um viele Beitragende angewachsen und hat unter der griffigeren Überschrift „Applied Classics“ Aufnahme in die renommierte HABES-Reihe gefunden.1 Der vorliegende Band vereint 14 überwiegend englischsprachige Aufsätze und eine umfangreiche Einleitung. Ein Teil der Texte entstammt Festreden oder anderen Konferenzen, und der Vortragscharakter ist mehrfach – nicht unbedingt zum Nachteil des Ergebnisses – noch klar erkennbar.

Die Einleitung der drei Herausgeber bietet einen unterhaltsamen und informativen Einstieg in die Thematik. Allerdings bleiben im weiteren Verlauf die Begrifflichkeiten wie „applied classics“ oder „reception“ etwas zu unscharf, was angesichts der doch eher heterogenen Mischung der Beiträge umso bedauerlicher ist. Im Folgenden beschäftigt sich François Hartog mit den historischen Analogieschlüssen am Ende des Ancien Régime zu den antiken „Vorläufern“. An ausgewählten literarischen Beispielen wird der Wandel in der Wertschätzung, aber auch der Vorstellbarkeit einer echten Parallele herausgearbeitet. Trotz der recht engen Fokussierung gelingt dabei ein Zugriff, der auch jenseits des französischen Beispiels Impulse für die einschlägige Forschung liefern dürfte.

Umgekehrt setzen die beiden folgenden Beiträge bei einer gesamteuropäischen Perspektive an: Angelos Chaniotis rückt die Frage nach überlappenden Identitätskonzepten in den Mittelpunkt. Am kretischen Lyttos und dem kleinasiatischen Aphrodisias verdeutlicht er eindrucksvoll die Mechanismen antiker Antikenrezeption. Der Transfer im Sinne eines „Was lernen wir für das moderne Europa daraus?“ wirkt dagegen etwas aufgesetzt und kann der Komplexität des Themas in dieser Kürze nicht wirklich gerecht werden. Géza Alföldy beschreitet in seinem Beitrag „The Imperium Romanum: A Model for a United Europe?“ dagegen einen regelrecht programmatischen Weg: Anhand antiker Vergleiche fordert er die Verinnerlichung einer dem Nationalstaatsdenken überlegenen paneuropäischen Idee ein. Lesenswert sind auch seine kenntnisreichen Ausführungen zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und anderen Konstanten der europäischen Tagespolitik. Die Probleme einer Analogie sind Géza Alföldy dabei nur allzu bewusst, aber gerade durch die aufgezeigten Gegensätze funktioniert der Text als wertvolle Diskussionsvorlage, der eine gute Aufnahme zu wünschen ist. Der Adaption der Antike auf der anderen Seite des Atlantiks wendet sich der Beitrag von Alexander Demandt zu. Mit unterhaltsamen Anekdoten etwa zu vermeintlichen phönizischen Siedlungsspuren in Südamerika oder zum US-amerikanischen Cincinnatus-Orden veranschaulicht er das breite Spektrum einer exportierten Antikenrezeption.

Im Anschluss finden sich zwei Texte zu Vergangenheitsbildern und Deutungsmustern im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Stefan Rebenich untersucht die identitätsstiftende Funktion der Antikenrezeption für bürgerliche Schichten. Textnah wird dabei die umstrittene Bedeutung Wilhelms von Humboldt für diese Entwicklung beleuchtet. Seine idealisierte klassische Antike wurde zum Leitbild des Bildungsbürgertums, das aber auch ständige Auseinandersetzung erforderte, mehr als Utopie und „säkulare Bildungsreligion“ (S. 107), denn als einfache Imitationsvorlage. Kai Brodersen beschäftigt sich mit dem Gegenstück einer populären Antikenrezeption am Beispiel der bemerkenswerten Geschichte des zu Recht als „Volkslied“ hinterfragten „Als die Römer frech geworden ...“. Die vielfältigen Wandlungen dieses Evergreens geben einen guten Eindruck von der vielschichtigen nationalen Geschichtsdeutung, die weit über den deutschen Arminius/Hermann-Kult des 19. Jahrhunderts hinaus ihre Parallelen findet. Constanze Güthenke leistet mit „Classical Scholarship in Twentieth-Century Greece“ eine Einführung, die jedem deutschen Gastwissenschaftler im heutigen Griechenland als vorbereitende Lektüre nur zu empfehlen ist. Konzise wird das komplexe Verhältnis von moderner griechischer Gesellschaft und Altertumswissenschaften insbesondere im Fall der (Alt-)Philologie erläutert und dessen andauernde Relevanz anschaulich gemacht.

Auf einen engeren zeitlichen Rahmen richtet Thomas Schmitz seine Aufmerksamkeit: Er analysiert den Wandel oder – in seinen Worten – die Krise der klassischen Bildungsideale und -inhalte zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Sein Fokus liegt hierbei auf dem schulischen Lernen aus der Vergangenheit. Fast wertvoller als ein Einblick in die oft kurios anmutenden Diskussionen des frühen 20. Jahrhunderts sind aber die abschließenden Ausführungen zum aktuellen Stand der Legitimationsdebatte und das emotionale Plädoyer für ein selbstbewussteres Auftreten der Altertumswissenschaften. Einige der von Thomas Schmitz aufgeworfenen Probleme, etwa die Tendenz zum „Drei-dreißig-Intellektuellen“2, des angesehenen und zugleich telegenen Wissenschaftlers, der in wenigen Minuten komplexe Probleme griffig, aber verkürzend erklärt, reichen weit über die Alte Geschichte hinaus und dürften nur im größeren Kontext erklärlich – und womöglich bekämpfbar – werden.

Wie unmittelbar der inhaltliche Schwerpunktwechsel sich zulasten der Alten Geschichte auswirkt, zeigt Thomas Harrison am Beispiel des englischen Schulsystems. Die Debatte, die 2007 durch die Reform der Inhalte der Abschlussexamina losgetreten wurde, wird hier mit dem Wissen und der Vehemenz eines Beteiligten vorgestellt. Die öffentliche Aufmerksamkeit und die Protestaktionen mit ihrem durchaus positiven Ergebnis tragen zwar sehr landestypische Züge, werfen aber Fragen zur Übertragbarkeit auf andere Länder auf, in denen die Altertumswissenschaften vor der Herausforderung stehen, ihre gesellschaftliche Bedeutung neu zu definieren.

In „The Making of a Classic“ skizziert Elizabeth Craik die Entstehung und Prinzipien der hippokratischen Lehre. So gut der Text als Einführung in diesen Bereich der antiken Medizingeschichte auch ausfällt, so gering wirkt die Anbindung an das Phänomen der Antikenrezeption, das mit wenigen knappen Ausführungen abgehandelt wird.

Mehr in Richtung der vorangegangenen Beiträge bewegt sich Sally Humphreys in ihrem Appell für eine Neuorientierung der universitären Ausbildung in den Altertumswissenschaften. Ebenso stringent wie unterhaltsam argumentiert sie gegen eine Opposition „between the bounded world-views of disciplines and a touristic smörgasbord of ‚otherness‘“ (S. 203) und für eine gesunde Mischung von Detailkonzentration und „großem Wurf“. Zurückhaltender verfährt dagegen Josiah Ober in seinem stark forschungsgeschichtlichen Überblick „Can we Learn from Ancient Athenian Democracy?“.3 In eine wortwörtlich andere Welt bewegt sich Takashi Minamikawa, der die Geschichte und den aktuellen Stand der klassischen Altertumswissenschaften in Japan beschreibt. Sein Plädoyer für eine kulturvergleichende Perspektive ist ebenso eindringlich wie nachvollziehbar. Ob allerdings gleich sämtliche anderen Detailstudien von „the type of work which might be appropriate for a Japanese scholar“ (S. 238) ausgeschlossen werden müssen, sei dahingestellt.

Den Abschluss bildet „The Value of Popularizing“ von Robin Lane Fox, streckenweise eine Art Kontrapunkt zum oben genannten Text von Thomas Schmitz. Die sehr persönliche und teilweise etwas eigenwillige Stellungnahme zum Status der Altertumswissenschaften in Deutschland wird dabei verbunden mit einem Erlebnisbericht über die eigene Beteiligung beim Film „Alexander“ von Oliver Stone. Unabhängig davon, wie man zum Pessimismus und zum Stil der regelrechten Anklageschrift stehen mag: Einige der eher am Rande vorgebrachten Prognosen des Autors scheinen sich gerade auf unangenehme Weise zu verwirklichen. Und selten ist die Unsinnigkeit der immer wieder diskutierten Konzentration auf wenige exzellente Forschungszentren so wunderbar formuliert worden, wie hier. Wenn nur noch eine kleine Expertengruppe untereinander in Diskussion tritt, „as if the history of a thousand years or the divine Homer are subjects as rarefied as advanced theoretical physics“ (S. 246f.), gibt man die Antike für weite Kreise praktisch verloren. Die von Robin Lane Fox eingeforderte Bereitschaft, sich für populäre Zugänge zu öffnen, kann auch unter diesem Gesichtspunkt nur unterstützt werden.

Insgesamt liegt mit „Applied Classics“ eine wertvolle, aber oft zu uneinheitliche Sammlung verschiedener Ansätze der Rezeptionsforschung vor. Aus technischer Sicht bleiben der geringe und sehr ungleichmäßige Einsatz von Bildmaterial sowie das Fehlen eines Registers kritisch zu bemerken. Inhaltlich wären ein klarer herausgestellter übergreifender Ansatz und eine stärkere theoretische Einbindung ebenso wie eine übersichtlichere Gruppierung der Texte nach größeren Themenbereichen wünschenswert gewesen. Die Mehrzahl der Beiträge ist jedoch von überdurchschnittlicher Qualität und liefert eine echte Bereicherung der einschlägigen Forschung wie der gesellschaftlichen Diskussion, so dass dem Band eine große Aufmerksamkeit nur zu wünschen ist.

Anmerkungen:
1 Im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis sei darauf hingewiesen, dass der Rezensent selbst Diskussionsteilnehmer der ursprünglichen Tagung und ein Autor (Kai Brodersen) Co-Referent der Dissertation des Rezensenten war.
2 Paul Nolte, Der Drei-dreißig-Intellektuelle, in: Spiegel Online, 09.11.2006 <http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/0,1518,447315,00.html> (09.12.2009).
3 Das provokantere Gegenstück liefert etwa Peter Jones, Vote for Caesar, London 2008.

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