J. Reulecke u.a. (Hrsg.): 100 Jahre Jugendherbergen 1909-2009

Cover
Titel
100 Jahre Jugendherbergen 1909-2009. Anfänge - Wandlungen - Rück- und Ausblicke


Herausgeber
Reulecke, Jürgen; Stambolis, Barbara
Erschienen
Anzahl Seiten
443 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Linse, Fakultät 13: Studium Generale und Interdisziplinäre Studien - General Studies, Hochschule München

Die Herausgeber, ebenso der Grußwort-Verfasser Bundespräsident Horst Köhler und schließlich auch der Rezensent des hier anzuzeigenden Festbandes „100 Jahre Jugendherbergen 1909–2009“ verkörpern eine bereits wieder geschichtlich gewordene „Erlebnisgemeinschaft“: „Hagebuttentee, Graubrot und Stockbetten gehören zu den Jugendherbergserinnerungen meiner Generation. Vor allem aber erinnere ich mich an den Geschmack von Freiheit, das Erlebnis von Natur und Abenteuer, an das Gefühl von Gemeinschaft“, schreibt der Bundespräsident einleitend (S. 9). Der Abschnitt „Persönliche Geschichten und Erinnerungen von Herbergsgästen“ (S. 377-384) bestätigt und erweitert diesen Erinnerungshorizont der Jugendlichen der Nachkriegszeit und frühen Bundesrepublik: Beschworen werden da „der berühmte rote Tee […] wie die deutschlandweit einheitliche Art und Weise, auf welche […] die Wolldecken auf den Stockbetten zu falten waren“ (S. 384). Das fand für den Rezensenten seine Fortsetzung während der Wehrdienstzeit, und das galt sogar für den autoritären Habitus des so genannten „Herbergsvaters“, dem er dann in Gestalt eines Unteroffiziers wieder begegnete. Um so erfreulicher ist einerseits, dass ein heute noch tätiger „Herbergsleiter“ in seinem Erfahrungsbericht zum Ausdruck bringt, als „Herbergsvater“ verstehe er sich nicht (S. 370, S. 375); mehr als zeitgemäß ist andererseits, dass sich seine Tätigkeit vor allem auf wirtschaftliche und organisatorische „Betriebsleitung“ konzentriert (S. 370f.).

Denn wie die (jetzt ehemalige) Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ursula von der Leyen in ihrem Grußwort betont: „Statt Mehrbettzimmer und Einheitsmenüs präsentieren sich die Jugendherbergen von heute als Full-Service-Einrichtungen. […] Ob Kanutouren in Mecklenburg, Inlineskaten an der Donau, Segelkurse am Bodensee oder Reiterferien im Erzgebirge – alles Angebote mit beachtlichem Erfolg.“ (S. 11) Mit diesem Text der 1958 geborenen Ministerin ist nun auch die Grenze der älteren Erinnerungsgemeinschaft überschritten – kein persönliches Wort mehr von der Welteroberung über Stockbett und Spirituskocher, sondern das nüchterne Alleinstellungsmerkmal der gemeinnützigen Einrichtung: „Heute ist das Deutsche Jugendherbergswerk der einzig überregionale, dem Gemeinwohl verpflichtende Beherbergungsanbieter, dessen Häuser allen Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen, Familien und Erzieherinnen und Erziehern offen stehen und in dem alle Altersgruppen zusammen leben und arbeiten können.“ (ebd.)

Der opulent bebilderte Jubiläumsband bietet eine fundierte Geschichte des Jugendherbergswesens in Deutschland, von seinen Anfängen im späten wilhelminischen Kaiserreich bis in die Bundesrepublik der Gegenwart. Der Inhalt geht dabei wohl über die ursprüngliche Absicht des Hauptvorstandes des Deutschen Jugendherbergswerks hinaus, sich anlässlich seines „spektakulären Geburtstags“ mittels eines wissenschaftlichen Beirats eine „historisch-kritische Selbstverortung“ zu schenken (S. 15f.). Denn das Buch bietet auch einen Beitrag zur Geschichte der Reformpädagogik in Deutschland. Der Gründungsvater des Herbergswesens Richard Schirrmann war Volksschullehrer unter anderem im Ruhrgebiet; er wollte die ihm anvertrauten Jugendlichen beiderlei Geschlechts aus einer „verkopften, haus- und stadtverkäfigten Schule“ (S. 62) in die „Natur“ als Lern- und Erlebnisort hinausführen. Wie selbstverständlich dieser von einer billigen Wanderunterkunft – zunächst Strohlager oder Heusack – ausgehende pädagogische Ansatz im deutschen Schulleben der Weimarer Zwischenkriegsjahre und der Bundesrepublik schließlich wurde, dokumentiert eine vor dem Rezensenten liegende und vom Deutschen Jugendherbergswerk herausgegebene Buchkassette „Heute ist Wandertag…“ aus seiner eigenen Ausbildungszeit als bayerischer Studienreferendar in den späten 1960er-Jahren, welche die Teilbändchen enthielt „Der Jugendwanderführer“, „Bergwandern“, „Bergsteigerregeln für alpines Jugendwandern und Skilaufen“ und schließlich „Schulklassen in Jugendherbergen“. Ein Beitrag im Festband über die „Pädagogik des Reisens und Wanderns in den fünfziger und sechziger Jahren“ (Benno Hafeneger, S. 255-263) erklärt den Zusammenhang der damaligen pädagogischen Diskussion mit dem Bemühen, der entstehenden „motorisierten Generation“ und der Tourismusindustrie mit einer alternativen „Freizeit- und Konsumerziehung“ Paroli zu bieten. Vom pädagogischen Aspekt öffnen sich auch Perspektiven in die jugendliche Körpererziehung und die Sportpädagogik des 20. Jahrhunderts – die ja nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Wehrerziehung zu sehen ist.

Das Jubiläumsbuch verfällt keiner billigen romantischen Glorifizierung seines Themas, sondern betont gerade die jugendpolitische Dimension des Herbergswesens – etwa für die Weimarer Zeit, in welcher auch die internationale Jugendbegegnung zu einem politischen Ziel des Herbergswesens wurde, solche pazifistischen und internationalistischen Tendenzen aber durch nationalistische Gegenströmungen konterkariert wurden (Barbara Stambolis, S. 159-167). Oder in der NS-Zeit, als der Nationalsozialismus das Herbergswesen ideologisch vereinnahmte, organisatorisch gleichschaltete und die Jugendherbergen vorrangig für Angehörige der Hitlerjugend nutzte, wobei die nun errichteten Großjugendherbergen als HJ-Schulungsstätten gedacht waren (Eva Kraus und Jürgen Reulecke, S. 175-207). Mit der deutschen Teilung nach 1945 begann auch eine doppelte Organisationsgeschichte des Deutschen Jugendherbergsverbandes. Ein Abschnitt über „Jugendherbergsalltag in der DDR“ berichtet aber nur andeutungsweise von der politischen Aufgabenstellung der Jugendherbergen als „sozialistische Erziehungsstätten“ (Gunter Fritzen, S. 276). Ein paralleles Kapitel über die damaligen jugendpolitischen Zwecksetzungen in der Bundesrepublik fehlt gar völlig und wird ersetzt durch eine kurze Organisationsgeschichte (Otto Wirthensohn, S. 391-397). Es ist bedauerlich, dass sich gerade bei diesem Zeitabschnitt die herausgebenden Historiker den Griffel von ihren Auftraggebern aus der Hand nehmen ließen. Ausführlicher hätte man sich auch den folgenden kurzen Abschnitt über die Vereinigungsgeschichte des Jahres 1990 gewünscht (S. 399f.), klingt das Wort von den „mit der deutschen Wiedervereinigung verbundenen Umstrukturierungen“ in den neuen Bundesländern doch eher vielsagend als eindeutig.

Zweifellos ist die Geschichte des Jugendherbergswesens mehr als ein wichtiges Kapitel aus der amtlichen „Jugendpflege“, verband sie sich doch immer wieder auch mit der „Jugendbewegung“ und deren Ideal der jugendlichen Autonomie („Jugendkultur“). Schon Schirrmanns Projekt einer „wandernden Schule“ wäre ohne den „Wandervogel“ nicht denkbar gewesen (S. 45), und seine „Musterjugendherberge“ verkörperte jugendbewegte volkserzieherisch-lebensreformerische und zivilisationskritisch-agrarromantische Ideale (S. 117). Eine solche Schnittstelle von Jugendautonomie und Jugendpflege wird deutlich sichtbar in einem Kapitel über „Die Jugendburg Ludwigstein: mehr als eine Jugendherberge“ (Susanne Rappe-Weber, S. 291-300) – Ludwigstein war ein zentraler Erinnerungsort der „Bündischen Jugend“ und ihrer Nachfolgeorganisationen.

Mögen die bisher genannten pädagogischen und jugendpolitischen Aspekte des Jugendherbergswesens eher für den historischen Spezialisten von Interesse sein, so scheint die allgemeinere Bedeutsamkeit der Veröffentlichung in deren Beitrag zu einer Geschichte der Freizeit und des Tourismus zu liegen. Weimarer Jugendliche, so formuliert es etwa ein Kapitel des Buches, wurden bereits in den 1920er-Jahren zu „Pionieren des Massentourismus“ (Markus Köster, S. 137-149), der vorrangig in die Naherholungsgebiete der städtischen Umgebung führte, aber auch schon zu grenzüberschreitenden Fernreisen: „Pointiert lassen sich die Heranwachsenden der Weimarer Zeit als Pioniere eines erlebnisorientierten Massentourismus charakterisieren, der dann mit dem Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig zum Durchbruch gelangte.“ (S. 149) Ein weiterer Abschnitt über die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg befasst sich mit den Erkenntnissen der empirischen Jugendforschung (unter anderem Shell-Jugendstudien) zum Freizeit- und Reiseverhalten der jungen Generation und zum Bedeutungswandel der Freizeit. Das Jugendherbergswesen hat dabei seine Monopolstellung verloren und ist dem Wettbewerb mit anderen, kommerziellen Anbietern ausgesetzt.

Jeder der 31 Beiträge des Bandes schließt mit einer deutschen und englischen Zusammenfassung, und die Bildunterschriften sind ebenfalls zweisprachig. Dies ist auch ein Zeugnis für die internationale Vorreiterrolle, welche das deutsche Jugendherbergswesen historisch besaß, und für seine heutige Vernetzung im Weltverband der „International Youth Hostel Federation“. Eine Auswahlbibliographie und ein Archivverzeichnis runden das Buch ab.

Freilich sei dem Rezensenten noch die abschließende Bemerkung zum Jubiläumsband erlaubt, dass schon die einleitenden Grußworte von Bundespräsident und Ministerin das dominant jugendpolitische Selbstverständnis des Jugendherbergswesens sinnfällig zum Ausdruck bringen – und er sich gerade angesichts dieses „betreuten Wanderns“ des Zaubers des „wilden“ Kleingruppen-Klotzens und Zeltens in den Nachkriegsjahren lustvoll erinnert. Aber glücklicherweise hatten auch jene manchmal die männliche und weibliche Abteilung der Jugendherbergen trennenden hölzernen Zwischenwände ihre Astlöcher…

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension