Cover
Titel
Otto Grotewohl (1894-1964). Eine politische Biographie


Autor(en)
Hoffmann, Dierk
Reihe
Veröffentlichungen zur SBZ-/DDR-Forschung im Institut für Zeitgeschichte
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 721 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Berlin

Am 22. März 1956 referierte Karl Schirdewan auf der 26. Tagung des ZK der SED über Chrustschows berühmte Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU. Otto Buchwitz, ehemaliger Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer, teilte den Mitgliedern des Gremiums daraufhin tief erschüttert mit, dass er sich bei der Schilderung der stalinistischen Gräuel wieder zurückversetzt gefühlt habe in die Gestapo-Haft in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße: „Da wurde alles wieder lebendig in mir. Aber damals waren wir Genossen es, die von Faschisten gefoltert wurden. Doch was wir heute erfahren haben, da handelt es sich um Genossen, um unsere Genossen, die von einem Genossen gefoltert worden sind. Darüber komme ich nicht hinweg. Nein, das kann ich heute noch nicht fassen.“ Ganz anders hatte wenige Wochen zuvor Otto Grotewohl, DDR-Ministerpräsident und Ko-Vorsitzender der SED, auf Chrustschows Enthüllungen reagiert, als er während des XX. Parteitages in Moskau weilte: „Es geht nicht um Beruhigung des schwankenden und erschütterten Gewissens, sondern es geht um Festigkeit des sozialistischen Lagers, um Festigung der DDR. Es darf kein Zittern und Schwanken geben, sondern Festigkeit – Ruhe – Sicherheit“ (S. 553f.). Diese beiden Zitate illustrieren eindrücklich, wie weit sich Otto Grotewohl seit Gründung der SED von seinen sozialdemokratischen Wurzeln getrennt hatte, wie sehr seine Politikauffassung bestimmt wurde vom alles entscheidenden Aspekt des Machterhalts, dem gegenüber humanitäre Bedenken, Gefühle des Zweifels, auch Freundschaften nicht zählten. Diesen Weg, der im Grunde ein Weg der sich selbst nie eingestandenen Selbstaufgabe war, zeichnet Dierk Hoffmann in seiner kenntnisreichen und gut zu lesenden Biographie minutiös nach und trägt damit viel Erhellendes zur Entwicklungsgeschichte der SBZ/DDR und zum psychologischen Verständnis ihrer Führungsriege bei.

Otto Grotewohl wurde 1894 als Sohn eines ungelernten Arbeiters in Braunschweig geboren. Früh engagierte er sich in der sozialistischen Jugendbewegung. 1912 trat er der SPD als Mitglied bei. Nachdem er ursprünglich eine Buchdruckerlehre absolviert hatte, wechselte er recht bald in das Versicherungswesen, wo er als Kassenangestellter bei der AOK unterkam. Nach geleistetem Kriegsdienst schloss er sich 1918 der USPD an, die in Braunschweig – ein reichsweites Unikum – die Mehrheitspartei stellte und die Regierung führte. 1920 rückte er in den braunschweigischen Landtag ein, wo er Mitglied des Finanzausschusses wurde und zum finanzpolitischen Sprecher der USPD-Fraktion avancierte. Zwei Faktoren hatten – Hoffmann zufolge – diesen ersten Karrieresprung befördert: Grotewohls bei der AOK gesammelte Verwaltungserfahrung und sein bereits früh zutage tretendes rhetorisches Talent. Sein Aufstieg hing darüber hinaus auch mit der Förderung zusammen, die ihm Ministerpräsident Sepp Oerter (USPD) angedeihen ließ, der auf das junge Polit-Talent frühzeitig aufmerksam geworden war: Im November 1921 wurde der 27-jährige Grotewohl als Volksbildungsminister in das Kabinett geholt. Die Ministerwürden währten indes nicht lange. Der Sturz Oerters, des starken Mannes der USPD, der sich nach seinem Parteiausschluss schließlich der NSDAP anschließen sollte, brachte die sozialistische Regierungskoalition zum Scheitern. Grotewohl ging aus der Oerter-Krise gleichwohl unbeschadet hervor. Nachdem sich im Oktober 1922 die beiden sozialdemokratischen Parteien auch in Braunschweig vereinigt hatten, übernahm er in paritätischer Zusammenarbeit mit einem SPD-Mann den Vorsitz der gemeinsamen Fraktion. 1923/24 kehrte er als Nachfolger des verstorbenen Justiz- und Innenministers Ewald Vogtherr (SPD) kurzzeitig in die Regierung zurück und übernahm, mittlerweile Mitglied des Reichstags, 1925 den Vorsitz des SPD-Bezirks Braunschweig.

Vier Jahre später wurde er – die SPD war wieder an die Regierung zurückgekehrt – mit dem Vorsitz der Landesversicherungsanstalt Braunschweig betraut, den er neben seinem Reichstagsmandat ausübte. Ab 1931 sah er sich jedoch einem nationalsozialistischen Dienstherrn, Dietrich Klagges, gegenüber, der den letzten verbliebenen SPD-Spitzenbeamten mit unsauberen Tricks, Verleumdungen und Manipulationen aus dem Amt treiben wollte. Was folgte, war ein jahrelanger Rechtsstreit, der erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Berlin und Grotewohls sich daran anschließendem Amtsverzicht ein Ende fand. In der Zeit des „Dritten Reiches“ mehrfach verhaftet und schikaniert, hatte er mit teilweise existentiellen wirtschaftlichen Nöten zu kämpfen. Durch von Freundesseite vermittelte Beschäftigungen war es ihm jedoch möglich, seine Familie und sich mehr schlecht als recht über Wasser zu halten. Das Kriegsende erlebte Grotewohl in Berlin, wo er als Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD die sozialdemokratische Parteiarbeit wieder aufnahm.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen unter der nationalsozialistischen Diktatur war der Wunsch, die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung zu überwinden und auf diese Weise Lehren aus der jüngeren Geschichte zu ziehen, auch unter Sozialdemokraten verbreitet – ein Wunsch, den Hoffmann ernst zu nehmen mahnt. Grotewohl gelang es, sich zum Fürsprecher dieser Grundströmung zu machen, was Konflikte mit dem Büro Schumacher in Hannover nach sich zog. Grotewohl wollte die Einheit der Arbeiterparteien zunächst jedoch durchaus nicht um jeden Preis, artikulierte selbstbewusst die Befürchtungen breiter Anhängerschichten vor einer Majorisierung durch die KPD und reklamierte in seiner ersten öffentlichen Rede nach Kriegsende sogar einen Führungsanspruch für die SPD. Auch vor Kritik an der sowjetischen Besatzungsmacht schreckte er im Herbst 1945 nicht zurück. Relativ rasch musste er jedoch die realen Machtverhältnisse in der SBZ erkennen und ordnete sich diesen mit einer ebenso erstaunlichen wie erschreckend anmutenden Willfährigkeit unter. Spätestens im November/Dezember 1945 schwenkte er voll und ganz auf die Linie der SMAD/KPD ein, räumte die vorab bezeichneten Bastionen widerstandslos und trieb den Vereinigungsprozess ohne Rücksicht auf Verluste in der vagen Hoffnung voran, dass sich seine Konzessionsbereitschaft bezahlt machen würde. Am 21. April 1946 wurde die Vereinigung von KPD und SPD zur SED feierlich vollzogen. Den Vorsitz der neuen Partei übernahmen paritätisch Grotewohl und Wilhelm Pieck.

Dass sich die kommunistischen Führer der SED an den Grundsatz der Gleichberechtigung der beiden Partner durchaus nicht gebunden fühlten, zeigte sich nur allzu bald mit der 1948 einsetzenden Kampagne gegen den „Sozialdemokratismus“, die Verhaftungen und die Flucht führender ehemaliger Sozialdemokraten zur Folge hatte. Grotewohl hat sich nicht nur nicht für seine verfolgten Genossen eingesetzt, er setzte sich sogar an die Spitze der Kampagne, tat alles, um sich von sozialdemokratischem „Stallgeruch“ zu befreien und die Linie der neuen Einheitspartei, in der die Kommunisten den Ton angaben, rückhaltlos zu propagieren. Bereits wenige Jahre später war die SED-Führung von ehemaligen Sozialdemokraten fast vollständig gesäubert: Nach der Verhaftung Max Fechners 1953 waren mit Grotewohl und Friedrich Ebert lediglich zwei ehemalige SPD-Politiker in ihren Stellungen verblieben.

Letztlich lässt sich Grotewohls Wandlung vom selbstbewussten SPD-Vorsitzenden zum „zahnlosen Tiger“ von Moskaus Gnaden, wie Hoffmann schreibt, „auch weiterhin nicht schlüssig erklären“ (S. 386). Einer der Gründe mag aber in seiner gesamtdeutschen Grundeinstellung gelegen haben, mit der es ihm durchaus ernst gewesen sei. Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten konnte er sich jedoch nur unter sozialistischen Vorzeichen denken. Eben darum ordnete er dem Aufbau und der Stabilisierung der DDR als Keimzelle eines sozialistischen Gesamtdeutschlands alles andere unter – nicht zuletzt auch seine eigenen demokratischen Überzeugungen. Hier lag im Übrigen auch Grotewohls Funktion im deutschlandpolitischen Kalkül der Sowjets. Als ehemaliger Sozialdemokrat schien er den sozialistischen Wiedervereinigungsgedanken ungleich glaubwürdiger vertreten zu können als etwa Walter Ulbricht, der im Westen ohnehin nicht als gesprächswürdig galt. Es war daher kein Zufall, dass es Grotewohl vorbehalten blieb, sich mit deutschlandpolitischen Initiativen an die bundesdeutsche Öffentlichkeit zu wenden, um Bündnispartner gegen die Westbindungspolitik Adenauers zu aktivieren. Dass der sogenannte Grotewohl-Brief vom 30. November 1950 in Wirklichkeit von Ulbricht stammte, wirft ein Schlaglicht auf die Rollenverteilung zwischen den beiden Politikern: während der eine harte Fakten schuf, wurde der andere als das vermeintlich konziliante Gesicht der DDR für Zwecke der Außenwirkung mehr oder weniger eingespannt, ohne über wirkliche Machtbefugnisse zu verfügen.

Hoffmanns Biographie stößt in eine Forschungslücke vor. Denn wie der Autor in der Einleitung schreibt, ist das Genre der Biographie in der DDR-Forschung „nach wie vor ein weißer Fleck“ (S. 3). Für Grotewohl kann dieser Befund nach Hoffmanns solider Studie nicht mehr gelten. Dass die Person Grotewohl hinter ihren Funktionen dabei vielfach zurücktritt und wir über den „privaten“ Grotewohl daher nur wenig erfahren, ist nicht die Schuld des Autors, sondern liegt in der Zurückhaltung begründet, mit der Grotewohl persönliche Notizen anfertigte. Dabei wäre es interessant gewesen zu eruieren, ob er eigenes Handeln zu reflektieren vermochte und Selbstzweifeln Raum gewährte. Interessant wäre auch ein kurzes Eingehen auf Felix Riemkastens 1930 erschienenen Roman „Der Bonze“ gewesen, für dessen Protagonisten kein Geringerer als Grotewohl Pate gestanden hatte.1 Hoffmann lässt das Werk in der Einleitung zwar kurz Erwähnung finden, geht im weiteren aber nicht mehr darauf ein. Darüber mehr zu erfahren hätte lohnenswert sein können, zumal der Titel suggeriert, was als Erkenntnis auch aus Hoffmanns Buch zu ziehen ist: dass Otto Grotewohl ein geborener Funktionär gewesen ist, der, wo er hingestellt wurde, eben funktionierte. Das wäre – neben den vielen von Hoffmann konstatierten Brüchen – wenigstens eine Kontinuitätslinie im Leben des Otto Grotewohl.

Anmerkung:
1 Felix Riemkasten, Der Bonze, Berlin 1930.

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