N. Petersson: Anarchie und Weltrecht

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Titel
Anarchie und Weltrecht. Das Deutsche Reich und die Institutionen der Weltwirtschaft 1890-1930


Autor(en)
Petersson, Niels P.
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 183
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Fahrmeir, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität

In den Jahrzehnten vor 1914 bildete sich eine äußerst effiziente und vergleichsweise offene "Weltwirtschaft" heraus. Immer größere Warenmengen und -werte wurden über immer längere Distanzen hinweg gehandelt. Eine der zentralen Voraussetzungen für die Erweiterung globaler Handelsnetze war die partielle Ablösung der Waren- von den Kapitalflüssen. Güter, die gerade in – sagen wir – Indien gesät waren, wurden bereits vor der Ernte in Europa und Nordamerika mehrfach ge- und verkauft, disponiert, versichert und damit bewertet. Das erforderte nicht nur eine Einschätzung der Qualität der Güter, sondern auch der Verlässlichkeit der Lieferung, die wiederum auf einer Bewertung der Vertrauenswürdigkeit der zahlreichen beteiligten Personen und Institutionen – Produzenten, Kaufleute, Reeder, Versicherer, Banken, Justiz oder Politik – beruhte, also letztlich einer Antwort auf die Frage, wie wahrscheinlich es war, dass diese ihre Verpflichtungen erfüllten. Dazu kam – vor allem nach 1919 – ein weiteres Problem, nämlich wie man wissen konnte, ob die Währung, in der die Geschäfte abgerechnet wurden, auch ihren Wert behielt oder ihn (vor 1919 vor allem durch Staatsbankrott, nachher durch Inflation oder Abwertung) veränderte, so dass sich die Vor- und Nachteile, die Käufer und Verkäufer etwa von Staatsanleihen erwarten konnten, dramatisch verschoben.

Die "Institutionen der Weltwirtschaft", mit denen sich Petersson beschäftigt, sind die Mechanismen, die eine solche Bewertung ermöglichten: zum Teil gesetzlich oder vertraglich institutionalisierte, zum Teil informelle Regelungen und Techniken, welche das beim Handel über lange Distanzen unvermeidliche Informationsdefizit begrenzten und damit die Risiken internationaler kommerzieller Engagements handhabbar machten. Petersson fragt am Beispiel des Deutschen Reichs danach, ob es vor 1914 solche "Institutionen" gab, wie sie stabilisiert oder destabilisiert wurden und ob sich nach 1919 Grundsätzliches änderte.

Angesichts der immensen Themenfülle, die mit einer solchen Problemstellung verbunden ist – von der individuellen Geschäftsbeziehung über die Organisation von Wertschöpfungsketten bis hin zu der Sanktion unziemlichen Geschäftsgebarens durch nur schwer messbaren gesellschaftlichen Prestigeverlust – muss sich Petersson auf exemplarische Bereiche beschränken. Er konzentriert sich mit guten Gründen auf zwei paradigmatische Fälle: Was passiert, wenn ein Staat seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommt, das heißt welche Institutionen verhindern, dass Staaten Regeln internationalen Wirtschaftens willkürlich zum eigenen Vorteil verändern? Und wie war es möglich, die Erfüllung grenzüberschreitend abgeschlossener Verträge zu erzwingen? Beiden Problemen ist jeweils einer der beiden empirischen Hauptteile des Buches gewidmet.

Vor dem Ersten Weltkrieg war es, wie Petersson am Beispiel vor allem Griechenlands und Venezuelas dokumentiert, durchaus denkbar, dass sich die deutsche Reichsregierung die Ansprüche von Reichsangehörigen gegenüber den Regierungen anderer Staaten zu eigen machte und versuchte, ihnen sogar durch militärische Intervention Geltung zu verschaffen. Das galt aber nur, wenn es sich um militärisch und diplomatisch schwächere Staaten handelte (wobei allerdings hinzugefügt werden muss, dass die Großmächte ihren Verpflichtungen in aller Regel auch pünktlich nachkamen). Zudem reichte ein 'normaler' Staatsbankrott nicht aus, um die Reichsregierung zur Intervention zu bewegen. Die Einstellung oder Kürzung vereinbarter Zahlungen musste zumindest Aspekte eines Betrugs aufweisen – etwa, indem Inhabern von Staatsanleihen zugesicherte Einnahmen für andere Zwecke verwendet wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg war es dagegen das Deutsche Reich, das sich am intensivsten der Möglichkeit bediente, eigene Schulden abzuwerten und so Gläubiger zu prellen – während für private Schulden nach der Hyperinflation eine Anpassung erfolgte, lehnte das Deutsche Reich sie für die Schulden der öffentlichen Hand ab. Insofern war der Staatsbankrott von der seltenen Ausnahme am Rande des Staatensystems zu einem Phänomen in seinem Zentrum geworden. Bemerkenswerter Weise hatten die Inhaber der in den 1890er-Jahren heiß diskutierten griechischen Anleihen somit langfristig bessere Papiere erworben als die Inhaber "mündelsicherer" deutscher Staatsanleihen.

Mit Blick auf internationale Verträge konzentriert sich Petersson auf den Regelungs-Dschungel des "internationalen Privatrechts", das noch nicht einmal zweifelsfrei festlegen konnte, wo bestimmte Verträge nach welchem Recht vor Gericht behandelt werden konnten. Zwar äußerten sich Gerichte im Deutschen Reich ebenso wie in anderen Staaten immer wieder zu grenzüberschreitenden Verträgen, verfügten Entschädigungszahlungen oder wiesen Ansprüche zurück, aber Verlässlichkeit war in diesem System kaum gegeben. Unterschiedliche Gerichte in verschiedenen Ländern konnten ebenso wie Gerichte entlang des Instanzenzugs in einem Land zu gänzlich anderen Ansichten darüber gelangen, welches Recht wie auf Verträge anzuwenden war. Petersson zeigt auf, dass sich im Wesentlichen zwei Reaktionen auf diese Problematik finden ließen. An erster Stelle stand vor wie nach 1914 die Selbstorganisation unterschiedlicher Gruppen von Kaufleuten, die Schiedsgerichtsverfahren etablierten und durch den Boykott von Firmen, die sich weigerten, Schiedssprüche anzuerkennen, durchsetzten – teilweise effektiver als staatliche Gerichte, deren Haltung zu Schiedsvereinbarungen wiederum schwer zu prognostizieren war. Da Schiedsgerichte oft in London ansässig waren, liegt ihre Praxis weitgehend außerhalb des engeren Fokus des Buchs. Staatlicher Vertrauensschutz lief somit vor allem auf die Aufstellung unpräziser "schwarzer Listen" wenig zuverlässiger Kaufleute hinaus.

Zwar gab es verschiedene Versuche, durch internationale Vereinbarungen ein globales Rechtssystem zu konstruieren, wie es im Deutschen Bund und Deutschen Reich bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs Bestand gehabt hatte. Das schien vor allem in den Bereichen möglich, wo es auf den ersten Blick um die Regelung technischer und damit 'unpolitischer' Fragen ging, vor allem im Wechselrecht. Für diese international zirkulierenden Papiere galten in verschiedenen Ländern unterschiedliche formale Anforderungen, welche die Gültigkeit eines in Großbritannien korrekten Papiers etwa in Österreich in Frage stellten. Trotz einer langen Reihe von Verhandlungen ist diese Geschichte die Geschichte eines Scheiterns. Es erwies sich letztlich als unmöglich, die "technischen" von den "politischen" Fragen zu trennen, da eine Reform des Wechselrechts auch Auswirkungen auf das allgemeine Zivilrecht haben musste. Zudem beraubte eine Rechtsreform durch internationale Konsultationen von Experten, deren Ergebnisse nicht mehr in Frage zu stellen waren, nationale Parlamente der Möglichkeit der Mitsprache. Nach 1914 veränderten sich die Gewichte technischer und politischer Fragen. Weitaus gravierender als technische Probleme etwa bei Wechselausstellung oder Beurteilung von Verträgen wurden nun die massiven staatlichen Eingriffe in den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr, vor allem nach der Abkehr vom Goldstandard Ende der 1920er-Jahre. Der Übergang des Deutschen Reichs zur Devisenbewirtschaftung markiert daher in Peterssons Darstellung konsequenterweise das Ende einer institutionalisierten Weltwirtschaft und den Beginn einer institutionalisierten Staatswirtschaft mit Auslandskontakten.

Peterssons Buch ist von einer souveränen Kenntnis der komplexen wirtschafts- und rechtshistorischen Materie getragen, aus der er eine spannende Geschichte destilliert. Es ist wenig verwunderlich, dass diese Geschichte sich in den groben Linien mit den bekannten Interpretationen deckt: eine Epoche liberaler Globalisierung, die durch eine weniger liberale Nationalisierung abgelöst wurde. Allerdings erschließt Petersson nicht nur empirisches Neuland, sondern wirft auch Fragen auf, welche den Kern der gegenwärtigen ökonomischen Ordnung der Welt betreffen. Wenn etwa kanadische Pensionskassen in australische Stadtwerke oder deutsche "Riester-Sparer" in chinesische Unternehmen investieren, stehen sie ebenso wie die ausländischen Käufer vor der Frage, was passiert, wenn ausländische Akteure sich weigern, ihre Ansprüche anzuerkennen. Peterssons kluges Buch warnt eindringlich davor, eine im Moment einigermaßen erfolgreiche Ordnung mit einer dauerhaft global institutionalisierten zu verwechseln.

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