D. Ransel: A Russian Merchant’s Tale

Cover
Titel
A Russian Merchant’s Tale. The Life and Adventures of Ivan Alekseevich Tolchёnov, Based on His Diary


Autor(en)
Ransel, David L.
Reihe
Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 56,99 / $ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Historisches Seminar, Universität Münster

Tagebücher und Memoiren russischer Adliger aus dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert sind nachgerade im Überfluss vorhanden; die Forschung hat sie vor allem in den letzten Jahren intensiv als Quellenfundus genutzt. Mit anderen sozialen Gruppen der russischen Gesellschaft sieht es schwieriger aus: nur wenige so genannte Ego-Dokumente von Bauern, „Menschen unterschiedlicher Ränge“ (rasnotschinzy) oder Kaufleuten stehen uns zur Verfügung.1 David Ransel hat ein solch seltenes Fundstück aufgetrieben und es zur Grundlage seines Buches gemacht. Der Autor des Dokuments, Iwan Alexeewitsch Toltschjonow (1797 bis 1825), Kaufmann aus der Stadt Dmitrow, lebte ein Leben, welches das Etikett „...und Abenteuer“ durchaus verdient. Wirtschaftlicher, politischer und sozialer Erfolg zu Beginn, Niedergang in all diesen Sparten des Lebens später. Iwan Alexeewitsch hat ein sehr umfangreiches, wenn auch ausgesprochen lakonisches Tagebuch hinterlassen, in dem er tägliche Ereignisse notierte. Um das Adjektiv „lakonisch“ zu illustrieren, hier eine der vielen von Ransel zitierten Stellen der Aufzeichnungen: „29th I spent the morning at home with our guests, who stayed for dinner. Orlov then left for Moscow, and I stayed and visited with Vakhromeev and then had supper at Shpilëvo with Obreskova. 30th This morning from 10 to 11 o’clock I visited the bishop and the rest of the time I was at home. October 1st I attended the vigil and mass at Presentation Church. The mass was said by the bishop, who afterward came to visit me. The rest of the time I spent at home.” (S. 137)

Ransel gelingt es, aus diesen zwar ausführlichen, aber niemals reflektierenden und im engeren Sinne kaum als narrativ zu bezeichnenden Notizen ein umfassendes, nuancenreiches und höchst informatives Bild zu schaffen. Das Buch ist sowohl chronologisch als auch thematisch aufgebaut. Die Analyse folgt Iwan Alexeewitschs Lebensweg und konzentriert sich gleichzeitig in den einzelnen Kapiteln auf zentrale Themen der russischen Geschichte der Zeit. Jedem Kapitel ist ein kürzerer Ausschnitt des Tagebuchs vorangestellt. In den ersten Kapiteln nimmt Ransel die Zitate vor allem zum Anlass, Informationen über das Leben der Kaufmannschaft im 18. Jahrhundert zusammenzustellen, wie sie aus der Forschung bisher bekannt sind. Erst in den späteren Kapiteln folgen konzentriertere Analysen zu Themen wie Familienkultur, dem Verhältnis von Eltern und Kindern, Patronage und der Dynamik sozialen Kapitals, Krankheit und Körperlichkeit – alles Themen, mit denen sich Ransel bereits früher intensiv und ergebnisreich beschäftigt hat.2 Heraus kommt ein faszinierendes und vielfältiges Abbild des Lebens eines russischen Kaufmannes. Wir verfolgen Iwan Alexeewitschs Weg in die höhere Gesellschaft nicht nur Dmitrows, sondern auch Moskaus, sein politisches Engagement und seinen Weg zum Bürgermeisteramt, seine Kontakte zu Mitgliedern der wohlhabendsten und mächtigsten adligen Familien des Reiches, seine Heirat, die Geburt seiner Kinder und den Tod eines Großteils von ihnen, wirtschaftliche Misserfolge, die Katastrophe der Überschuldung, Krankheit und Einsamkeit im Alter.

Es ist schwierig, dieses Buch zusammenzufassen, da es nicht eine zentrale These hat, sondern unser Wissen in den verschiedensten Aspekten bestätigt, in Frage stellt und bereichert. Dabei ermöglicht es das Tagebuch, nicht nur ein Bild der Kaufmannschaft im engeren Sinne einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu zeichnen. Das Leben Iwan Alexeewitschs, das sich in so unterschiedlichen Bahnen bewegte und ihn auf die Güter auch des Hochadels führte, zeigt, wie intensiv die sozialen Schichten zumindest punktuell interagierten. Der Lebensstil dieses Kaufmanns unterschied sich kaum von dem, was wir von den wohlhabenden russischen Adligen wissen. Er machte sein Vermögen nicht nur mit Getreidehandel, wie Generationen von Kaufleuten vor ihm, sondern auch mit den neuen Moden des Adels, wie dem Kartenspiel und dem Ausstatten der fashionablen Orangerien. Es gehört somit zu den besonderen Qualitäten dieser Quelle, dass sie soziale Gruppen, die wir sonst stets nur isoliert wahrnehmen, zusammenbringt.

Iwan Alexeewitschs Aufstieg wie Niedergang zeigen den engen Zusammenhang und die Dynamik von sozialem, politischem und finanziellem Kapital: Geld brachte Beziehungen, und Beziehungen brachten Geld. Dieses unauflösbare Verhältnis funktionierte zuverlässig, bis der Zenit einer übermäßigen Verschuldung überschritten war und Iwan Alexeewitschs Position in allen Sphären in sich zusammenfiel. Das ist, so kurz formuliert, nicht wirklich neu und war schon häufig Thema der Forschung zu Russland im 18. und 19. Jahrhundert unter dem Schlagwort der Verschuldungskultur und der Patronage. Selten aber sind die Funktionsweisen so plastisch illustriert worden wie bei Ransels Iwan Alexeewitsch.

Ransel selbst problematisiert den Wert der Quelle: In seinem Vorwort behandelt er die Frage, ob und wie Historiker mit Quellen arbeiten können, die von solcher Alltäglichkeit und mangelndem Sensationswert geprägt sind – ihre Behandlung wirkt allerdings etwas aufgebauscht. Die Antwort lautet natürlich: Gerade die „dull dailiness“ macht den besonderen Wert des Textes aus. Wichtiger ist dagegen die Frage der Repräsentativität: Sicherlich war Toltschjonow kein typischer russischer Kaufmann. Doch gerade seine besondere soziale Stellung lehrt viel über die Möglichkeiten sozialer Dynamik in Russland im 18. Jahrhundert. Die Frage, ob Iwan Alexeewitsch auch einen formalen Aufstieg in den Adelsstand angestrebt habe, wird von Ransel auf überzeugende Art und Weise verneint. Dennoch war eine kulturelle Annäherung an die herrschende Schicht erwünscht und offenbar auch möglich. Dass die Kaufmannschaft im Laufe des 18. Jahrhunderts und vor allem nach 1812 eine eigene, vom Vorbild des Adels losgelöste Identität, Selbstbewusstsein und Erfolgsdenken entwickelte, hat Ransel bereits an anderer Stelle gezeigt.3 Sein Iwan Alexeewitsch Toltschjonow ist nun ein sehr bildhaftes Beispiel für diese Entwicklungsphase: eine Kaufmannsschicht, die sich definiert, ohne sich zu isolieren. Die traditionelle These von der Herausbildung neu definierter ständischer Grenzen im 18. Jahrhundert wird so nicht widerlegt, aber doch qualifiziert.

Noch in einem weiteren Punkt betont Ransel auf begrüßenswerte Weise die Uneindeutigkeit seiner Quelle: Er hebt bereits in seinem Vorwort hervor, dass Tagebücher an sich nicht unbedingt, wie generell angenommen, ein klares Zeichen für sich herausbildenden modernen Individualismus sein müssen. Vielmehr zeichnet er hier und durchgehend in seiner Studie ein Panorama, das wohl mit dem Titel „multiple Individualismen“ überschrieben werden kann: in der Renaissance verwurzeltes Ich-Denken kann hier ebenso wichtig sein wie die Positionierung des Einzelnen in einem Netz sozialer Verantwortung oder auch bürgerliche Erfolgsökonomie. Toltschjonows Tagebücher enthalten von allem etwas; auffällig im Vergleich zum Mustergenre „Tagebuch“ ist vor allem, dass er nicht nur eine Erfolgsstory schreibt, sondern auch den Niedergang genau protokolliert.

Insgesamt also ein sehr lesenswertes Buch, ob vollständig oder auch in Auszügen, und sicherlich auch im komparativen Rahmen. David Ransel hat seine umfassenden Forschungen zu russischen Kaufleuten hier zu einem würdigen Abschluss gebracht, ohne jedoch ein Überblickswerk mit Vollständigkeitsanspruch vorzulegen. Vielmehr wird dieses Buch in Zukunft sicherlich viele weitergehende Forschungsfragen inspirieren. Mehr kann man sich kaum wünschen.

Anmerkungen:
1 Zu diesen gehören Dmitrij Ivanovich Rostislavov, Provincial Russia in the Age of Enlightenment. The Memoir of a Priest’s Son. Dmitrii Ivanovich Rostislavov, hrsg. von Alexander M. Martin, DeKalb 2002; K. V. Sivkov, Avtobiografija krepostnogo intelligenta konca XVIII v., in: Istoričeskij Archiv (1950), S. 288-299; Aleksandr Nikitenko, Up from Serfdom. My Childhood and Youth in Russia. 1804-1824, New Haven 2001; Savva D. Purlevskij, A Life Under Russian Serfdom. The Memoirs of Savva Dmitrievich Purlevskij. 1800 - 1868, hrsg. von Boris B. Gorshkov, Budapest 2005.
2 David Ransel, Character and Style of Patron-Client Relations in Russia, in: Antoni Maczak / Elisabeth Mueller-Leuckner (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 211-231; David L. Ransel (Hrsg.), The Family in Imperial Russia, Urbana 1978.
3 David Ransel, Neither Nobles Nor Peasants. Plain Painting and the Emergence of the Merchant Estate, in: Valerie A. Kivelson / Joan Neuberger (Hrsg), Picturing Russia. Explorations in Visual Culture, New Haven 2008, S. 76-80.

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