S. Friedrich: Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags

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Titel
Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700


Autor(en)
Friedrich, Susanne
Reihe
Colloquia Augustana 23
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
656 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Externbrink, Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg

Dass der Immerwährende Reichstag in Regensburg ein Umschlagplatz von Nachrichten aller Art aus ganz Europa und somit ein Kommunikationsknotenpunkt des frühneuzeitlichen Europa war, ist ein in der Forschungsliteratur zum Reichstag immer wieder anzutreffendes Urteil. Man hat bislang jedoch kaum einmal den Versuch unternommen, dies anhand einer Fallstudie näher zu beleuchten. In ihrer Augsburger Dissertation setzt sich Susanne Friedrich genau dies zum Ziel, sie will den Reichstag als „Drehscheibe im reichsinternen Informations- und Kommunikationssystem“ (S. 13) systematisch beschreiben. Die Funktion des Reichstags als Informationsknotenpunkt habe neben den ungelösten Problemen der Reichsverfassung nach dem Westfälischen Frieden (die „negotia remissa“) wesentlich zur Verstetigung der Institution beigetragen, so ihre These.

Als Untersuchungszeitraum wählt sie den für das Reich und Europa so bedeutsamen Zeitraum um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert (zwischen Regensburger Stillstand (1683) und Frieden von Utrecht bzw. zeitweiliger Verlegung des Reichstags nach Augsburg 1713, S. 16), als die französischen Hegemonialbestrebungen in zwei langen Kriegen zurückgewiesen wurden und zugleich mit der Glorious Revolution, der Hannoveranischen Kurwürde, der preußischen Königswürde für den Kurfürsten von Brandenburg, dem Scheitern der spanischen Ambitionen des Kurfürsten von Bayern und nicht zuletzt mit der Rjiswjiker Klausel bedeutsame Weichenstellungen für die Zukunft des Reiches erfolgten.

Ihr Vorhaben einer Untersuchung der Funktionsweise des „Kommunikationssystems“ Reichstag, der Wege der Verbreitung von Informationen und der sie aufnehmenden „Öffentlichkeit“, erfolgt entlang problemorientierter Kapitel über „Information und Kommunikationssystem des Reichstag“ (Kap. IV), über „Information und Persuasion: Leistungen des Informations- und Kommunikationssystem für die Stände“ (Kap. V) und über die „Reichstagsöffentlichkeit und die Öffentlichkeit des Reichstags“ (Kap. VI). Diesen vorangestellt sind zwei einführende Kapitel: „Hintergrund und Material“ (Kap. II) enthält eine erweiterte Einleitung zum Stand der Forschung über Reichstag und Diplomatie, zur Kommunikation, über Öffentlichkeit und Geheimnis im Untersuchungszeitraum sowie zu den Quellen der Studie. Diese sind – neben den zeitgenössischen am und im Umfeld des Reichstags publizierten Druckwerken (Flugblätter, „Zeitungen“) – die Akten (vor allem die Korrespondenzen) der Vertreter dreier Reichsstände unterschiedlichen politischen Gewichtes: ein Kurfürst (Bayern), ein Fürst (Markgraf von Ansbach) und eine Reichsstadt (Augsburg). Kapitel III „Determinanten des Informationsflusses am Reichstag“ bietet eine Skizze der Funktionsweise des Reichstages.

Kapitel IV enthält eine detaillierte Darstellung des kommunikativen Charakters des Reichstages. Anhand einer Fülle von Einzelbeispielen aus den Akten der drei oben genannten Reichsstände (lesenswert und informativ die Darstellung über den Ablauf der Ratssitzungen und über die Nachrichtenbörse „Rathaus“, S. 149–151) wird die Arbeitsweise des Reichstags dargestellt. Ein wichtiges Ergebnis des Kapitels ist die Beschreibung der fallweisen Notwendigkeit eines zeremoniellen Rahmens (S. 158-161, bes. 162) bei Treffen der Gesandten. Das Hierarchien abbildende Zeremoniell stand dem Gespräch zum Austausch von Informationen im Wege – folglich suchten und fanden die Gesandten nach ihrer Akkreditierung Wege, dies zu umgehen.

In Kapitel V erfolgt dann ein Perspektivwechsel von der „Funktionsweise“ zum „Umgang der Stände mit dem System“ (S. 287). „Was forderten und investierten sie, was erhielten sie und wie stellten sie sich dar?“ (S. 287). Nach einer Verortung der drei Reichsstände als Akteure im politischen System des Reiches und Europas, der Skizzierung von Struktur und des Umfang ihrer Reichstagsgesandtschaften, werden ihre Berichte einer formalen Analyse unterzogen, bevor anhand von Fallbeispielen der Umgang der drei Stände mit dem Reichstag rekonstruiert wird. Hier interessiert besonders, welcher Medien sich die Reichstagsgesandten bei der Verfolgung ihrer Interessen bedienten. Bei aller Fülle von unbekannten Details, die zu Tage gebracht werden, scheint jedoch der Erkenntnisgewinn nicht sehr hoch. Dass sich das „politische Aktionsfeld [der drei Stände] jeweils anders gestaltete“ (S. 310) darf als eine Binsenweisheit gelten. Dies erschließt sich auf den ersten Blick!

Das VI. Kapitel widmet sich der Öffentlichkeit“ des Reichstags, womit nicht die Rezipienten der Informationen gemeint sind, sondern die „Träger“ dieser Informationen, die es einem nicht an der Arbeit des Reichstages beteiligten Beobachter erlaubten, sich über die dort verhandelten Themen kundig zu machen. Dies waren einmal die „Medien der aktuellen Information“ (S. 405-459), das heißt Zeitungen im weiten Sinne, Flug- und Amtsdruckschriften sowie Zeitschriften, zum anderen die „Medien der diachronen Information“ (S. 460-489), das heißt die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts publizierten Akteneditionen eines Londorp oder Lünig sowie historische Chroniken wie das „Theatrum Europaeum“.

Die Vorgehensweise der Autorin verlangt dem Leser einiges ab. Die einzelnen Abschnitte sind ähnlich aufgebaut, beginnend mit einer einleitenden Generalisierung, gefolgt von einer teilweise ermüdenden Fülle von Beispielen aus den Quellen und abschließend einer kurzen Zusammenfassung.

Friedrichs Studie ergänzt die Erforschung des Reichstags um eine bislang nicht berücksichtigte Perspektive. Die Stärke der Arbeit liegt in ihrer beeindrucken empirischen Unterfütterung, wenngleich sich manchmal der Eindruck einstellt, dass das rechte Gleichgewicht zwischen Deskription und Analyse nicht gegeben ist. Vielleicht wäre auch eine intensivere Auseinandersetzung mit dem europäischen Kontext der Epoche lohnend gewesen. Die Arbeit an der Reichsverfassung mochte zwar zum Erliegen kommen, aber der Reichstag wurde zu dem Ort, an dem die europäischen Mächte einerseits ins Reich hineinhorchten und andererseits die Reichsstände, die keine Außenpolitik betrieben, die Möglichkeit besaßen, an den großen Fragen der letztlich auch sie betreffenden „Haupt- und Staatsaktionen“ teil zu haben (kurz erwähnt S. 539). Der Reichstag fungierte als Schnittstelle zwischen innerreichischen Verfassungsfragen (negotia remissa etc.) und europäischer Vernetzung. Dies spiegelt sich in seinen Verhandlungen, deren Bandbreite das Reich betreffende Themen (Münzordnung, S. 382–387) und solche von europäischer Relevanz (Fürstenberg und die Kölner Kur, S. 346–355) umfasste, ganz zu schweigen von der Reichskriegserklärung, die hier erfolgte und deren Behandlung aus der Perspektive der Arbeit interessant wäre.

Ein weiteres Problem: Zu Recht wird immer wieder auf den Gegensatz zwischen den Arcana Statuu und der Öffentlichkeit hingewiesen. Frühneuzeitzeitliche Entscheidungsprozesse fielen unter Ausschluß der „Öffentlichkeit“ in den Ratsgremien der Regierenden, und eine der Hauptaufgaben der Gesandten bestand darin, „Insiderwissen“ über die jeweiligen Entscheidungsprozesse zusammen zu tragen. Doch der Reichstag war kein Hof, an dem Entscheidungen fielen. Die Autorin stellt eine „bewusste Opferung des Geheimnisses“ (S. 515) fest, geht in ihrer Analyse jedoch nicht weiter. Letztlich bestand die Aufgabe des Reichstages in der Sichtbarmachung von Entscheidungen, die aber andernorts getroffen werden. Eben dies stützt ihre These vom Reichstag als „Drehscheibe“ von Informationen.

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