J. Meier u.a. (Hrsg.): Kirche und Katholizismus seit 1945

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Titel
Kirche und Katholizismus seit 1945.


Herausgeber
Meier, Johannes; Straßner, Veit
Reihe
Lateinamerika und Karibik 6
Erschienen
Paderborn 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XXIII, 559 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Ruderer, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Lateinamerika gilt als der katholische Kontinent schlechthin. Deshalb haben die Herausgeber des vorliegenden Bandes zusätzlich zu der Aufteilung der Reihe in Länderberichte noch ein übergreifendes Einführungskapitel und ein Kapitel zur lateinamerikanischen Theologiegeschichte, welches besonders die Befreiungstheologie behandelt, aufgenommen. Daneben werden aber tatsächlich alle Länder Lateinamerikas und der Karibik mit einem eigenen Beitrag berücksichtigt. Diese Entscheidung der Herausgeber macht die Vielfalt der religiösen Prägungen neben dem Katholizismus deutlich: zum Beispiel durch Einbeziehung der aus niederländischem oder britischem Kolonialbesitz hervorgegangenen protestantisch geprägten Karibikstaaten, des mehrheitlich Vodou praktizierenden Haiti oder des laizistischen Uruguay, in dem sämtliche religiöse Feiertage umbenannt sind. Diese inhaltliche und geographische Breite zeichnet den Band auch gegenüber anderen Überblickswerken, wie zum Beispiel der Geschichte des Christentums in Lateinamerika von Hans-Jürgen Prien, aus.1

Allen Artikeln gehen ausführliche Literaturverzeichnisse voraus, die (meistens) auch die aktuelle lateinamerikanische Forschung aufführen. Zugleich veranschaulichen sie, dass die vielbändige Darstellung aus befreiungstheologischer Sicht unter der Leitung von Enrique Dussel zumeist immer noch als maßgeblich angesehen wird.2 Der vorliegende Band referiert insgesamt auch neuere Forschungstendenzen, sodass Themenfelder wie die Rolle der Kirche während der letzten Militärdiktaturen, die Konkurrenz durch den Protestantismus und das Papsttum Johannes Paul II. stärkeren Niederschlag finden. Im Folgenden können nicht alle Beiträge einzeln gewürdigt werden. Vielmehr sollen die wichtigsten übergreifenden Aspekte zur politischen und theologischen Rolle der katholischen Kirche angesprochen werden.

Hervorstechend ist die Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils und der sich anschließenden lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín im Jahr 1968. Dieses „Schlüsselereignis“ (S. 15) teilt die lateinamerikanische Kirchengeschichte in ein Vorher und ein Nachher. Bis in die 1960er-Jahre gehörte die katholische Kirche in den meisten Ländern eindeutig zum konservativen Establishment, sodass sich die Bischöfe, geprägt durch einen starken Antikommunismus, meist im Einklang mit der Regierungselite der teilweise diktatorisch regierten Länder befanden. Wo diese ideologische Übereinstimmung nicht in gleicher Weise gegeben war, wie zum Beispiel teilweise in Mexiko oder in Kuba, da fand man zu einem Modus Vivendi, der auf eine grundsätzliche Nähe der katholischen Kirche zu den jeweiligen Machthabern hinweist. Zur gesamtgesellschaftlichen Durchdringung des Katholizismus wurde in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Katholische Aktion gegründet, deren Erfolg als Massenbewegung der Laien in den einzelnen Ländern aber unterschiedlich ausfiel.

Erst in den 1960er-Jahren kam es zu einem Prozess der Revitalisierung, der mit einer innerkirchlichen Hinwendung zu sozialen Themen einherging. Diese Entwicklung führte zu starken internen Spannungen, da ein Großteil der Bischöfe weiterhin einer konservativen „präkonziliaren“ Tendenz anhing, sodass die Konflikte zwischen dem „postkonziliaren“ niederen Klerus und dem Episkopat, zugleich aber häufig auch innerhalb der Bischofskonferenzen, zunahmen. Dabei ragten immer wieder einzelne „progressive“ charismatische Bischöfe heraus, die in den Beiträgen des Bandes auch entsprechend gewürdigt werden.

Die unterschiedliche Aufnahme des II. Vatikanischen Konzils und der Beschlüsse von Medellín hatte auch Auswirkungen auf die Haltung der jeweiligen Landeskirchen zu den Militärdiktaturen, die sich seit den 1960er-Jahren über den Kontinent ausbreiteten. Während sich sozial engagiertere Kirchen, wie in Chile oder Brasilien, nach anfänglicher Zurückhaltung offen gegen die Diktaturen aussprachen, andere, wie zum Beispiel die paraguayische Kirche gegenüber dem Stroessner-Regime, ihre Haltung in Folge von Medellín wandelten, verharrten konservative Episkopate in ihrer traditionellen Nähe zu den militärischen Machthabern. So legitimierte zum Beispiel die argentinische Kirche nicht nur das Militärregime des Generals Videla, sondern nutzte dessen Repressionspolitik auch dazu, besonders kritische Elemente in den eigenen Reihen auszuschalten und dadurch die „Einheit“ der Kirche wieder herzustellen.

Diese kircheninternen Spannungen traten ebenso in den zentralamerikanischen Ländern auf, in denen viele Geistliche sich aufgrund ihrer Hinwendung zu den Armen der Guerilla anschlossen und, dem Beispiel des kolumbianischen Priesters Camilo Torres folgend, die Vereinbarkeit von Marxismus und Katholizismus proklamierten. Doch während einerseits der nicaraguanischen Revolutionsregierung sogar vier Priester als Minister angehörten, sprachen sich andererseits zahlreiche konservative Bischöfe immer wieder gegen die Annäherung an den Kommunismus aus und legitimierten somit zum Teil indirekt die zahlreichen Ermordungen von Katholiken.

Deutlich wird außerdem der große Einfluss von Johannes Paul II. auf die lateinamerikanischen Landeskirchen. Die Massenveranstaltungen zu Ehren des reisenden Kirchenoberhauptes übertrafen bei weitem das Mobilisierungspotential der meisten Regierungen, besonders auffällig in eher kirchendistanzierten Staaten wie Mexiko, Kuba oder Uruguay, und demonstrierten so die anhaltende gesellschaftliche und politische Macht der katholischen Kirche. Kritische Gesten des Papstes gegenüber den Militärregierungen trugen in einigen Ländern, unmittelbar in Paraguay, mittelbar auch in Chile, zum Ende der jeweiligen Diktaturen bei. Gleichzeitig ist dieses Pontifikat aber geprägt durch die Ernennung konservativer Bischöfe in ganz Lateinamerika, in deren Folge sich die Amtskirche seit den 1990er-Jahren vielerorts wieder stärker von den sozialpolitischen Themen ab- und stattdessen stärker den sogenannten moralischen Themen (Abtreibung, Ehescheidung) zuwandte. Aufgrund dieser Tendenz zeichnen sich heute gerade ehemals „progressive“ Episkopate in Chile, Peru oder El Salvador durch einen „selektiven Antimodernismus“ (S. 397) aus.

Neben der Beziehung zwischen Kirche und Politik sprechen die meisten Beiträge auch im engeren Sinne theologische Aspekte an. Dabei wird der große Einfluss der Ordensgemeinschaften auf die Entwicklung des Katholizismus in Lateinamerika deutlich. Zu den wichtigsten Aufgaben der Orden gehörten häufig das Erziehungswesen und der Ausbau der kirchlichen Infrastruktur – sowohl in räumlicher als auch in personeller Hinsicht. Einflussreich erwiesen sich die Ordensleute auch bei der Entstehung einer sozialen Pastoral- und der Befreiungstheologie.

In den letzten Jahrzehnten hat sich der Protestantismus zu einer großen theologischen Herausforderung entwickelt, denn gerade in den ärmeren Volksschichten erreichen die evangelikalen Pfingstkirchen seit Jahren hohe Zuwachsraten. Die religiöse Monopolstellung des Katholizismus wird deswegen von einem stärkeren religiösen Pluralismus abgelöst. So wie in einigen Ländern die ersten Ansätze zu einem ökumenischen Miteinander der christlichen Kirchen auftauchen, so führt auch die Neubewertung der indigenen Kulturen und Religionen zu neuen Herausforderungen für die katholische Kirche.

Insgesamt gibt der Band einen guten Überblick über die Entwicklung des Katholizismus und der Kirche in Lateinamerika und der Karibik in den letzten fünfzig Jahren, wobei einmal mehr deutlich wird, dass es die Eine Kirche nicht gibt. Die politische, soziale und theologische Ausrichtung der katholischen Kirche variiert nicht nur je nach historischem Kontext von Land zu Land, sondern erzeugt auch innerhalb der jeweiligen Landeskirchen Konflikte. Die Qualität der einzelnen Länderbeiträge ist, wie meist in solchen Fällen, unterschiedlich. Einige Artikel (zum Beispiel diejenigen zu Venezuela oder Kolumbien) beschränken sich auf die Aufzählung von historischen Fakten. Insgesamt treten bei diesem Band die wichtigsten Entwicklungslinien des lateinamerikanischen Katholizismus jedoch deutlich hervor. Zu kritisieren wäre an dieser Stelle nur, dass der Schwerpunkt der meisten Beiträge stark auf den progressiven Tendenzen innerhalb der lateinamerikanischen Kirche liegt. Dies scheint erstens der thematischen Ausrichtung der Forschung und zweitens der Kirchennähe eines Großteils der Autoren geschuldet. Gemessen daran, dass die große Mehrheit der lateinamerikanischen Bischöfe und Priester über den gesamten Betrachtungszeitraum eher der konservativen Linie zuzurechnen ist, erfährt man über den politischen Einfluss und die soziale und theologische Argumentation dieser Richtung eher wenig.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hans-Jürgen Prien, Das Christentum in Lateinamerika, Leipzig 2007.
2 Vgl. Enrique Dussel u. a., Historia general de la Iglesia en América Latina, Salamanca 1983ff.

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