C. Kassung (Hrsg.): Die Unordnung der Dinge

Cover
Titel
Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls


Herausgeber
Kassung, Christian
Anzahl Seiten
473 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Kassar, Karl-Franzens-Universität Graz

Der Medien- und Kulturwissenschaftler Christian Kassung hat mit „Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls“ einen überaus interessanten Sammelband herausgegeben, der sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Unfall als Unterbrechung, als Störung und als Abweichung auseinandersetzt. Wie es im Vorwort heißt, bildet den Ausgangspunkt die Überlegung, dass erst durch die katastrophale Dysfunktionalität einer Sache eine wissenschaftliche sowie mediale Maschine der Verarbeitung in Gang kommt, die paradoxerweise zur Stabilisierung kultureller und gesellschaftlicher Ordnung beiträgt. Der Unfall ist also „eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Technik und damit von gesellschaftlicher Ordnung“ (S. 9). Zentral ist dementsprechend seine „epistemologische Nachträglichkeit“. Noch pointierter: Die Ordnung der Dinge bleibt immer auf ihre (mögliche) Unordnung bezogen. Nun ist der Unfall natürlich mehr als nur eine einfache Störung, er traumatisiert und fordert nicht selten Todesopfer. Als ein kontingentes, nicht vorhersagbares Ereignis ist er eine spezifische Abweichung von der Regel, von dem, was als normal empfunden wird. Der Band entschließt sich, wie es heißt, „anti-humanistisch“ zu sein und richtet den Fokus weniger auf den Schrecken als auf die Techniken der Verarbeitung des Unfall-Ereignisses (S. 9). Die epistemologische Verschiebung, die hier sichtbar wird, ist die, dass Unterbrechungen auf spezifische Weise produktiv werden und in historischer Perspektive, aus der Beobachterposition rekonstruiert, keineswegs ausschließlich negativ sind, wie dies unser Alltagsverständnis suggeriert. Die Störung als Kategorie ist im Zuge der Aufarbeitung der Kybernetik bereits ausführlich thematisiert worden und wird auch über die Medienwissenschaften hinaus zunehmend zu einer Erkenntnisfigur umgewertet.1 Der Sammelband ist in diesem wissenschaftlichen Kontext zu verorten.

Der Herausgeber Christian Kassung, der zu „Kulturtechniken der Synchronisation“ an der Humboldt-Universität zu Berlin forscht, sowie viele der beteiligten Autoren sind prominente Namen in der noch jungen Disziplin der Medienwissenschaft. Wenig überraschend ist es außerdem, dass gerade einer der umstrittensten Theoretiker der Postmoderne vor dem Vorwort zu Wort kommt: Der französische Architekt, Medientheoretiker und Begründer der Dromologie Paul Virilio leitet den Band in gewohnt fragmentarisch-essayistischem Stil ein und regt zur Eröffnung eines „Katastrophen-Konservatoriums“ an (S.8). Virilios zahlreiche Aufsätze haben den Unfall bzw. den Ausfall nicht selten in einem geradezu apokalyptischen Ton zelebriert, aber auch immer wieder seine Produktivität betont.2

Der Sammelband ist in drei Kategorien unterteilt: „Ereignis“, „Medium“ und „Epistemologie“. Die Zuordnung der Aufsätze wirkt an Stellen etwas beliebig, ein Umstand, der jedoch nicht weiter stört. Die einzelnen Beiträge eröffnen ein beachtliches Spektrum an Überlegungen zu Unfallszenarien aller Art: vom Schiffs-, Zug-, Automobil- und Flugzeugunglück, bis zu schwerwiegenden Fehlern in Laboratorien und mathematischen Fehlern, die Unfälle verursachen.

Im ersten Beitrag des Bandes widmet sich Burkhardt Wolf der „Geschichte des nautischen Gefahrenwissens“ und kann unter anderem zeigen, wie Vorsorge seit der Neuzeit „unter dem Vorzeichen des Nichtwissens“ steht (S. 23). Der Unfall löst sich aus den antiken bzw. mittelalterlichen Vorstellungen einer launischen Fortuna und wird zu einem möglichen Ereignis, das es zu kalkulieren gilt. Der Schiffbruch ist insofern zentral, als Gefahren als Risiken und somit auch als Chancen gedacht wurden. „Die Operationalisierung des Nichtwissens besteht in einer Übertragung nicht nur von Menschen und Gütern, sondern auch von Gefahren, die man seither […] als Chancen begreifen […] und als Risiken in der Zeit und im Kollektiv aufteilen kann“ (S. 25). Auch Christian Kassung befasst sich in seinem Beitrag mit Booten, allerdings mit U-Booten, deren Unfallspuren weitaus schwieriger zu rekonstruieren sind. Dementsprechend geht es Kassung in erster Linie um die Kulturtechnik der Seismographie. Sein Aufsatz stellt den „Untergang der Kursk“ in den Mittelpunkt, diskutiert die Seismographie in ihrer wissenshistorischen Dimension und konzentriert sich auf die „immateriellen Spuren“, die vermittelt durch Apparate überhaupt erst hervorgebracht werden (S. 136). Äußerst bereichernd ist vor allem Wolfgang Hagens Beitrag. Hagen kann zeigen, wie die Titanic-Katastrophe, die auf den „Dilettantismus der Funkamateure“ (S. 27), insbesondere auf die rücksichtslose Verwendung der Frequenzen zurückzuführen sei, in der medienhistorischen Rekonstruktion zu Lizenzverpflichtungen führte und die Titanic somit einen Platz in der Mediengeschichte des Radios einnimmt.

Am Beispiel des Diskurses um das „Eisenbahnunglück von 1842 auf der Paris-Versailles-Linie“ erörtert Esther Fischer-Homberger, wie die Massenpresse das Unglück zu einem Medienereignis werden ließ. Besonders interessant sind hier jedoch Fischer-Hombergers Randbemerkungen zur Konstruktion von Kontinuitäten. Die Eisenbahn gilt als „Inbegriff von glattem Funktionieren“, Fahrpläne prozessieren Erwartbarkeiten, erst an ihnen werden Abweichungen sichtbar. Dies alles führe zu einer „Ausklammerung des Unfalls aus dem Bewusstsein“ (S. 81), ein Umstand, der für die Moderne charakteristisch sei. Dieses konstitutive Verhältnis wird viel zu selten hervorgehoben. Auch Peter Glaser macht in seinem Beitrag auf die sprachliche Aufladung des Gleises aufmerksam: „Das G(e)leis ist aufgeladen mit Gewohnheit, Rechtmäßigkeit, Konventionalität und Traditionalität, die Entgleisung folglich mehr im Sinne eines Werturteils mit Normabweichung oder gar Normbruch, mit Unfall, Unglück oder Katastrophe“ (S. 190). Der Unfall wird dementsprechend in literarischen Texten, wie Glaser am Beispiel von Thomas Manns Erzählung „Eisenbahnunglück“ zeigt, auch immer wieder dazu benutzt den „zeitgenössischen normativen Horizont“ zu thematisieren, zum Beispiel dort, wo der Affekt den disziplinierten bürgerlichen Körper erfasst und die Grenzen der Selbstbeherrschung sichtbar macht.

Besonders hervorzuheben ist unter den zahlreichen gelungenen Beiträgen der Artikel von Nicolas Pethes, „Accidental Experiments“, da er versucht die Differenz zwischen „erkenntnistheoretischem Bruch und konkretem Unfallereignis“ (S. 388) herauszuarbeiten. Zufällige Versehrungen führen, wie Pethes etwa an einem Beispiel zeigt, zu Öffnungen im Körper, die so Anlass zu experimentellen Untersuchungen geben, da die „black box“ nun buchstäblich geöffnet ist und die Gehirnzentren zum Beispiel elektrisch stimuliert werden können. Gerade die Konzentration auf die Interdependenz zwischen epistemologischem Bruch und Unterbrechung – die wie im Falle des Unfalls ganz konkret sein können – wäre ein Forschungsdesiderat, da die Determiniertheit von Laborversuchen in Beziehung zu nicht prognostizierbaren Störungen gesetzt wird. Der Begriff der Kontingenz könnte so historisch besser konturiert werden.

Alles in allem versammelt der Band durchwegs interessante Aufsätze, die sich nicht allzu weit von dem im Vorwort abgesteckten Spannungsfeld entfernen und so eine durchwegs anregende Lektüre im Rahmen der Fragestellung ermöglichen. Etwas vermissen könnte man allerdings Walter Benjamin und seinen an Freud angelehnten Begriff des „Chocs“, der an keiner Stelle erwähnt wird. Nichtsdestoweniger stellt der Band eine nicht zu unterschätzende Anstrengung dar die Kategorie der Dysfunktionalität in systematischer Weise und über die Kybernetik hinaus zu einem Gegenstand wissenshistorischer Analysen zu machen.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch etwa Albert Kümmel / Erhard Schüttpelz (Hrsg.), Signale der Störung, München 2003.
2 Paul Virilio, Der reine Krieg, Berlin 1983, S. 37.

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