Cover
Titel
Indienfahrer 2. Seeleute und Leben an Bord im Ersten Kolonialzeitalter (15.-18. Jahrhundert)


Herausgeber
Schmitt, Eberhard
Reihe
Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 7
Erschienen
Wiesbaden 2008: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
EUR 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Mann, FernUniversität Hagen

Die unter den „Außereuropa-Historikern“ bekannte und hierzulande auch beliebte Reihe „Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion“ ist um einen weiteren und höchst interessanten Band erweitert worden. Der Titel lässt Vielversprechendes vermuten, deutet er doch an, dass nach Band 5 zum „Leben in den Kolonien“ (2003) erneut Quellen zur Sozialgeschichte, dieses Mal zu den europäischen Seeleuten auf ihren Fahrten nach „Westindien“ und „Ostindien“, publiziert werden. Ein prüfender Blick in das Inhaltsverzeichnis bestätigt den ersten Eindruck, denn in sechs Rubriken ist eine Fülle von Dokumenten kompiliert, die zumindest einen Zugang zur Sozialgeschichte von Seeleuten bzw. Leuten auf See ermöglicht.

Die Rubriken bzw. Kapitel thematisieren der Reihe nach „Wunder und Schrecknisse der neuen Meere“, „Fahrensleute, Amtsgewalt und Disziplin an Bord“, „Tag und Nacht auf See: Dienst, und Freizeit; Verpflegung, Glauben und Aberglauben an Bord“, „Krankheit, Unfälle und medizinische Betreuung an Bord“, „Seenot und Havarie“ sowie zuletzt „Seeraub und Broterwerb: Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Freibeutern und Kauffahrern aus völkerrechtlicher Perspektive“. Die dritte Abteilung zu „Tag und Nacht auf See“ scheint indessen zu versammeln, was in die anderen Kapitel nicht mehr zu passen schien, denn prinzipiell lassen sich alle Dokumente unter einer solchen Überschrift fassen.

Jedes Kapitel wird mit einem einleitenden Essay begonnen, der weitreichende Hintergrundinformationen gibt. Bisweilen geraten diese freilich etwas weitschweifig wenn, wie im dritten Kapitel, gute vier Seiten allein dem Mythos des „Fliegenden Holländer“ gewidmet sind und die Leserschaft dabei in die feinen Verästelungen der europäischen Kulturgeschichte geführt wird, ohne dass immer der Bezug zum Thema deutlich bleibt. Hoch spannend ist die letzte Kapiteleinleitung, die nicht vom Herausgeber, sondern von Michael Kempe, einem Habilitanden der Universität Sankt Gallen (Kulturwissenschaftliche Abteilung) verfasst wurde. Sie hebt sich durch einen überaus akademischen Stil ab und ist im Vergleich zu den anderen Kapiteleinleitungen sehr tief gehend, gleichzeitig aber kompakt geschrieben.

Im Unterschied dazu wirken die Einleitungen vom Herausgeber manchmal etwas unzeitgemäß, vor allem wenn von der „Neuen Welt“ (unter anderem S. 3) die Rede ist, oder von „aus Afrika eingeführten Schwarzen, die über die neuen Meere in die neuen Welten eingeführt werden“ (S. 7). Den Eindruck bestätigt auch die Tatsache, dass hartnäckig an der alten Rechtschreibung festgehalten wird. Überdies fällt die generell eurozentrische Perspektive auf, die angesichts des gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes um eine polyzentrische Welt auch in der Frühen Neuzeit etwas befremdet. Abgesehen davon schleichen sich Fehler in der allgemeinen Beschreibung ein wie die Feststellung, die Cholera stamme aus Ostasien (S. 6) – tatsächlich trat sie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts endemisch in Bengalen auf, das freilich liegt in Südasien. Hinzu treten gelegentlich Fehler in der Syntax, so auf der ersten Seite in der Einleitung zum ersten und nochmals in derjenigen zum zweiten Kapitel, wenn der Satz schlicht zu lang, aufzählend und verschachtelt geraten ist.

Über solche Mängel mag man angesichts der Fülle der präsentierten Quellendokumente hinwegsehen. Ein ganzes Kaleidoskop der seemännischen Welt tut sich vor den Augen der Leserschaft auf. Höchst spannend sind dabei Dokumente, die die Windstille im Kalmengürtel beschreiben (Nr. 4), oder die Vernichtung von Port Royal auf Jamaica 1692 (Nr. 6) durch ein See- und Erdbeben, einschließlich eines Tsunami. Der Schrecken eines Sturmes auf See und den Menschen an Bord eines Schiffes beschreibt Dok. Nr. 10 anschaulich. Im zweiten Kapitel sind besonders interessant die Methoden der Rekrutierung des seemännischen Personals (Dok. Nr. 17 a, b, c), oder das „Problem“ von eingeschlichenen Frauen an Bord sowie Prostitution (Dok. Nr. 19 a, b, c). Der generelle Mangel an Frauen förderte homosexuelle Handlungen unter den Seeleuten, die disziplinarisch mit dem Tod bestraft, generell aber eher geduldet wurden (Dok. Nr. 22).

Im dritten Kapitel beschreiben den Alltag besonders eindringlich die Dokumente Nr. 27 zu „Moder, Ratten und Brotkrümel“, Nr. 29 zu „Holzfleisch, zerquetschte Maden und Kakao“ und Nr. 31 zur „Not mit der Notdurft“. Fortsetzung bildet das nächste, vierte Kapitel, das Dokumente zu den sanitären und medizinischen Umständen präsentiert. Allgegenwärtig war bis in das 19. Jahrhundert das Problem von Skorbut (Dok. Nr. 39 a, b, c) sowie die harte Arbeit bei quantitativ als auch qualitativ mangelhafter Ernährung (Dok. Nr. 44 a, b, c). Neben Krankheit und Mangel prägten Havarie und Seenot das Bewusstsein um Leben und Tod auf den Meeren. Besonders bringen das die Dokumente Nr. 48 und 50 nahe.

Das letzte Kapitel behandelt „Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Freibeutern und Kauffahrern aus völkerrechtlicher Perspektive“. Der einleitende Kommentar macht auf ein Problem aufmerksam, das sich in verstärktem Maße mit der Befahrung der Meere durch europäische Kaufleute, Kriegsschiffe, der staatlich geduldeten Kaperei und der illegalen Piraterie ergab, nämlich einen neuen und sich weitenden Rechtsraum zu definieren. Die anschließenden Dokumente dienen dazu, das Problem zu beleuchten, nicht aber, es in einem wissenschaftlichen Sinn zu belegen, sprich die völkerrechtliche Entwicklung aufzuzeigen. Das wird wohl die anstehende Habilitation ("Fluch der Meere. Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen in der frühen Neuzeit") tun.

Insgesamt sind die Vielfalt und die unterschiedliche Provenienz der Quellen beeindruckend. Akten, Briefe, Erlebnisberichte, Votivtafeln, Schifffahrtslisten, Gerichtsprotokolle und Handbücher bilden den Grundstock der Dokumente. Sie werden durch umfangreiche Einleitungen vorgestellt und abschließend mit weiterführender Literatur versehen. Für die historischen Wissenschaften und die Lehre an akademischen wie schulischen Institutionen stellt der Dokumentenband zweifelsohne eine wertvolle Bereicherung dar. Bleibt also zu wünschen, dass er von den angesprochenen Institutionen auch gekauft wird.

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