M. Gehler u.a. (Hrsg.): Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem

Cover
Titel
Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem. Von 1945 bis zur Gegenwart. Networks in European multi-level Governance. From 1945 to the Present


Herausgeber
Gehler, Michael; Kaiser, Wolfram; Leucht, Brigitte
Reihe
Arbeitskreis Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen 6
Erschienen
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Berlinghoff, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Universität Heidelberg

Um politische Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union (EU) zu beschreiben, werden in der Politikwissenschaft gerne informelle transnationale Netzwerke zur Erklärung herangezogen. Im Blickfeld der Forschung liegen dabei jedoch meist nur die vergangenen 20 Jahre. In der Geschichtsschreibung zur europäischen Integration herrschen dagegen staatszentrierte Erzählweisen vor, was an der Dominanz staatlicher Quellen, aber auch am Erbe der Diplomatiegeschichte liegt. Michael Gehler, Wolfram Kaiser und Brigitte Leucht bringen in ihrem interdisziplinären Sammelband beide Forschungsstränge zusammen. Die 16 deutsch und englisch verfassten Aufsätze beruhen auf den Vorträgen eines 2007 veranstalteten Workshops und sind konzeptionell aufeinander bezogen. Ein Autorenverzeichnis und ein Personenregister runden den Band ab.

In ihrem einführenden Kapitel begründen die Herausgeber/innen ihren Zugang mit der besonderen Bedeutung transnationaler politischer Netzwerke für die Politikformulierung und Implementierung in der EU. Jene sei durch zwei grundlegende Strukturmerkmale gekennzeichnet, nämlich institutionelle Komplexität sowie kulturelle Vielfalt (S. 12). Erstere beschreibt das vielfältige Zusammenspiel von Akteuren auf supranationaler, nationaler und innerstaatlicher Ebene, welches durch die Erweiterung der ehemaligen Europäischen Gemeinschaft von einst sechs auf nunmehr 27 EU-Mitglieder noch feingliedriger geworden sei und dabei eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für nichtinstitutionelle Akteure biete. Die kulturelle (und sprachliche) Vielfalt Europas als zweiter wesentlicher Faktor für die Bedeutung von Netzwerken in der EU ermögliche einerseits Akteuren mit interkulturellen Kompetenzen eine Einflussnahme, die über den nationalen Rahmen hinausgehe. Andererseits dienten Netzwerke der interkulturellen Sozialisation, die erfolgreiche Politikgestaltung auf supranationaler Ebene erst ermögliche.

Unter politischen Netzwerken verstehen die Herausgeber/innen dabei keine reinen policy networks, wie sie Tanja Börzel in ihrem theoretischen Beitrag definiert. Vielmehr bezeichnen sie politische Netzwerke als „set of actors […] engaged in […] forms of co-operation geared towards shaping the political organization of social life.” (S. 17) Dieser weite Zugang ermöglicht die Einbindung historischer Studien, wie beispielsweise den Beitrag von Valéry Aubourg über die ökonomisch ausgerichtete Bilderberg-Gruppe oder den von Volker Berghahn zur Wirkung transatlantischer Intellektuellen-Netzwerken während des Kalten Krieges. Er deutet aber auch auf die interdisziplinären Schwierigkeiten hin, die sich bei der Zusammenarbeit von Historiker/innen und Sozialwissenschaftler/innen ergeben können, wenn strenge theoretische Konzepte aus der Politikwissenschaft auf weiche empirische Beschreibungen der Geschichtswissenschaft treffen. Eines der selbst gesteckten Ziele des Buches ist daher neben der Verbreiterung der empirischen Basis politikwissenschaftlicher Netzwerkforschung die Begründung einer interdisziplinären Herangehensweise an das Thema.

Gleich fünf Beiträge behandeln die Vor- und Frühzeit der europäischen Integration. Neben Aufsätzen Berghahns und Aubourgs sind dies eine Analyse der Rolle politischer Unternehmer bei der Entwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) von Ann-Christina L. Knudsen sowie die Texte der beiden Mitherausgeber Leucht und Kaiser. Leucht zeigt überzeugend wie transatlantische Akademikernetzwerke die Beratungen des Schuman-Plans beeinflussten und darüber hinaus die Strukturen der späteren EG prägten. Dabei gelingt es ihr, den wissenschaftlichen Mehrwert der Netzwerkperspektive gegenüber anderen, staatsorientierten Ansätzen herauszuarbeiten. Kaiser präsentiert Ergebnisse seiner Arbeit zur Rolle christdemokratischer Parteinetzwerke auf die Entwicklung der Europäischen Integration. Dabei skizziert er das gezielte strategische Handeln einzelner Akteure, das darauf hinauslief, „die Amerikaner in Europa, die Briten aus einem kontinentaleuropäischen Kerneuropa heraus und die Sozialisten ‚unten’ zu halten.“ (S. 97) Hauptaufgaben dieser christdemokratischen Netzwerke sei die Sicherung des Integrationsprojektes nach innen und nach außen sowie die Erleichterung politischer Führung gewesen. Einzelakteure stehen auch im Mittelpunkt von Knudsens Studie zur Entstehung der GAP. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass politische Unternehmer nicht auf eine einzelne Rolle festgelegt werden können sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen repräsentierten. Die daraus erwachsenden politischen Netzwerke überlappten sich und kulminierten in der EG-Kommission. Der Vorteil der diagnostizierten Entscheidungsfindung auf unterschiedlichen Ebenen sei die Einbindung möglichst vieler Akteure und dadurch eine größere Stabilität bei der Implementierung der GAP gewesen.

Es folgen eine Vielzahl unterschiedlich definierter Netzwerkansätze, ausgehend von den Netzwerken einzelner Politikerpersönlichkeiten in Oliver Rathkolbs Beitrag über die koordinierte Zusammenarbeit von Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme in der Nahost-Politik der 1970er- und frühen 1980er-Jahre über das Beispiel des European Round Table of Industrialists, einer Lobby-Gruppe und klassischem policy network, das Maria Green Cowles vorstellt, hin zu Netzwerken politischer Stiftungen, also kollektiver Akteure, die Dorota Dakowska im Hinblick auf ihre Rolle bei der EU-Osterweiterung untersucht. In dieses Feld reihen sich auch die Abschnitte von Amy Verdun über die Rolle von Experten in den Ausschüssen der europäischen Währungspolitik sowie von Michael Gehler zur Aktivierung transnationaler Parteinetzwerken durch ÖVP und SPÖ während des internationalen Isolierung Österreichs aufgrund der Regierungsbeteiligung der FPÖ ein.

Gegen Ende des Bandes erfolgt eine Verschiebung des Schwerpunkts auf politikwissenschaftliche Ansätze, die mit einer zeitlichen Verlagerung auf das 21. Jahrhundert einhergeht. So überprüft Steven van Hecke die Behauptung des ehemaligen EVP-Vorsitzenden Hans-Gerd Pöttering, die EVP habe dank ihrer engen Kooperation weite Teile der Empfehlungen des Konvents zur Zukunft Europas bestimmen können. Van Hecke kann dies in Teilen bestätigen, weist jedoch auch auf das zahlenmäßige Übergewicht der EVP-Mitglieder im Konvent sowie auf die ausgeprägte Kompromisssuche gegen Ende des Konvents hin, die eine genaue Überprüfung unmöglich mache. Dimitrios Christopoulos und Lucia Quaglia unterziehen das Netzwerk zur Bankenregulierung der EU einer formalen Sozialen Netzwerkanalyse (SNA) um dadurch Rückschlüsse auf die Bedeutung der einzelnen Netzwerkbeziehungen ziehen zu können. Christian H.C.A. Henning schließlich untersucht die Lobbyarbeit zur Gemeinsamen Agrarpolitik mittels einer quantitativen Netzwerkanalyse um eine Veränderung der Strategien einzelner Verbandstypen von Mitte der 1990er-Jahre bis heute zu diagnostizieren.

In einem abschließenden Beitrag über die Vorteile politischer Netzwerke für das Regieren in der EU und ihre demokratischen Defizite unterscheidet Karen Heard-Lauréote sechs Funktionen politischer Netzwerke (Effizienzsteigerung politischer Entscheidungen, Austausch von Ressourcen, Vermittlung, Sozialisierung, Integrierung und Demokratisierung von Entscheidungsprozessen) und ordnet die Aufsätze des Bandes diesen Funktionen zu.

Doch auch ohne diese Zusammenschau werden die Verbindungen zwischen den teils sehr unterschiedlichen Beiträgen deutlich. Häufig nehmen die Autor/innen aufeinander Bezug und stellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Dies führt zu einem kohärenten Eindruck und lässt bei aller Divergenz der Forschungskontexte das Anliegen der Herausgeber/innen nach der Begründung einer interdisziplinären politischen Netzwerkforschung als geglückt erscheinen. Insbesondere bezüglich der Geschichte der europäischen Integration erweist sich die Perspektive der Netzwerke als überzeugende Ergänzung staatszentrierter Ansätze realistischer Schule. Dass erstere jedoch der traditionellen Forschung auf Quellenebene häufig unterlegen ist, zeigt sich in der Feststellung quasi aller Autor/innen, dass der Einfluss der Netzwerke auf die getroffenen politischen Entscheidungen letztlich nicht „bewiesen“ werden könne. Immerhin erscheinen die Interpretationen der aufgezeigten Netzwerkverbindungen in den meisten Fällen plausibel.

Ebenfalls einig sind sich die Autor/innen über die herausragende Bedeutung, die einzelnen Akteuren in den Netzwerken zukommt. Besonders in den Beiträgen von Kaiser und Knudsen wird deutlich, dass es eher Schlüsselfiguren an wichtigen Schnittstellen der Netzwerke sind, die sich derselben strategisch bedienen, als dass den Netzwerken selbst eine autonome Steuerungsfunktion zukäme. Auf den ersten Blick ist es von hier nur noch ein kleiner Schritt zu einer „Geschichte großer Männer“. Tatsächlich kam transnationalen politischen Netzwerken jedoch eine wesentliche Stabilisierungsfunktion bei der politischen Integration Europas zu.

Das Spektrum unterschiedlichster Ansätze der Netzwerkforschung zeigt, dass sich hier für Historiker neue Perspektiven für ihre Arbeit, nicht nur für das 20. Jahrhundert bieten. Umgekehrt finden sozialwissenschaftliche Netzwerkanalytiker dank des angestoßenen interdisziplinären Dialogs „neue“ empirische Beispiele für ihre Theorien. Für eine enge, auf ein gemeinsames Ziel gerichtete interdisziplinäre Netzwerkforschung ist das verwendete Netzwerkkonzept jedoch zu weit gefasst.

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