A. Straßner (Hrsg.): Sozialrevolutionärer Terrorismus

Cover
Titel
Sozialrevolutionärer Terrorismus. Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien


Herausgeber
Straßner, Alexander
Erschienen
Anzahl Seiten
489 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, Fachgebiet Politikwissenschaft, Technische Universität München

Der „sozialrevolutionäre Terrorismus“, klagt Herausgeber Alexander Straßner in der Einleitung, befinde sich insbesondere seit dem 11. September 2001 „auf dem Abstellgleis, was die mediale Berichterstattung betrifft“ (S. 10). Abgesehen von dem etwas schiefen Bild – stimmt das? Immerhin erschienen zum 30-jährigen „Jubiläum“ des „Deutschen Herbstes“ mehrere substantielle Arbeiten über den linken Terrorismus – die Straßner zum Teil auch erwähnt –, allen voran ein von Wolfgang Kraushaar herausgegebenes zweibändiges Werk.1 Und die „mediale Berichterstattung“ nahm von diesem Jahrestag durchaus Notiz, ebenso wie von der Kontroverse um die Begnadigung einstiger Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) im Herbst 2008.2 Schließlich findet auch der unermüdliche Einsatz Michael Bubacks im Interesse der Aufklärung des Mordes an seinem Vater breite publizistische Resonanz. Gar so schlecht ist es um die Beschäftigung mit dem sozialrevolutionär motivierten Terrorismus also nicht bestellt.

Straßner, Politikwissenschaftler an der Universität Regensburg und durch eine gewichtige Arbeit über die „dritte Generation“ der RAF bestens ausgewiesen3, bemüht sich in seiner Einführung um eine Klärung der Begriffe – allerdings mit mäßigem Erfolg. Das ist ihm indes nur teilweise vorzuwerfen: Denn während die Unterscheidung zwischen „Terrorismus“, „Terror“ und „Guerilla“ eher wenig Schwierigkeiten bereitet, verhält es sich mit der Definition des „Terrorismus“ selbst bekanntlich anders. Der Herausgeber begnügt sich deshalb mit einer Arbeitsdefinition des „sozialrevolutionären Terrorismus“. Er versteht darunter die angestrebte „gewaltsame Veränderung eines Systems“, das als ökonomisch und sozial ungerecht perzipiert werde und auf „systemkonformem Wege nicht zu beseitigen“ sei; gespeist werde diese Variante des Terrorismus aus anarchistischen und „marxistischen“ Ideologien. Es handle sich mithin um einen „Erklärungs- und Rechtfertigungsterrorismus“, dem es nicht nur um die „kommunikative Funktion der Aktionen und die Verbreitung von Angst und Schrecken“ gehe, „sondern parallel dazu auch stets um eine transzendente Unterfütterung“ (S. 20). Seine berechtigte Warnung vor komplexitätsreduzierenden Definitionsversuchen vergisst Straßner aber selbst gelegentlich, wenn er beispielsweise schreibt, Terrorismus sei „stets das militante Vorgehen gegen ein als repressiv empfundenes Regime“ (S. 14). Und ob es wirklich sinnvoll ist, zwischen „traditionellem“ und „neuem“ Terrorismus zu unterscheiden (S. 23-28), erscheint zweifelhaft. Gänzlich irreführend ist schließlich die in Frageform gekleidete These, dass „der sozialrevolutionäre Ansatz das Fundament für Rechtsterrorismus sein“ könne, gehe es doch „bei rechtsterroristischen Organisationen nicht selten auch um eine sozialistische Ausgestaltung auf einem national begrenzten Territorium“ (S. 22).

Das Buch ist in zwei Teile untergliedert. Im ersten werden die „tatsächlich vorhandenen oder aber nur durch die Aktivisten in Anspruch genommenen theoretischen Vorbilder“ untersucht (S. 28). Da tauchen die üblichen Verdächtigen auf: Marx und Engels, Nechaev, Bakunin, Kropotkin, Trotzki, Lenin, Mao, Guevara, Debray – aber auch Marcuse und die „Frankfurter Schule“. Die Befunde der neun Autorinnen und Autoren laufen fast immer darauf hinaus, dass diese Theoretiker den sozialrevolutionären Terroristen das geistige Rüstzeug geliefert hätten. Im Falle von Marx und Engels liest sich das so (Beitrag von Benjamin Zeitler): Zwar hätten etwa die Führungsfiguren der RAF die marxistischen Theorien „so lange uminterpretiert“, bis sie für die eigenen Konzepte „passten“ (S. 45); nichtsdestotrotz „waren Marx und Engels durch ihre eindeutige Befürwortung von Gewalt und ihr Konzept der Revolution Ausgangspunkt sozialrevolutionärer terroristischer Ideologien und bildeten so eine der geistigen Wurzeln des sozialrevolutionären Terrorismus“ (S. 46). Nicht einmal Marcuse kommt ungeschoren davon: „Seine Ausführungen über die Situation in repressiven Industriestaaten konnten als Aufforderung verstanden werden, das Naturrecht auf Widerstand anzuwenden und durch manche ungenauen Äußerungen vielleicht sogar in Form von Terrorismus.“ Deshalb sei „nachzufragen, ob er nicht [...] einen Beitrag geleistet hat, der in den Kreisen seiner Leser ein Klima geschaffen hat, in dem Terrorismus und Gewaltbereitschaft gedeihen konnten“ (S. 124). Einzig die Oberhäupter der „Frankfurter Schule“ dürfen sich über einen Freispruch freuen: Horkheimer, Adorno und Habermas könne man „keine Verantwortung für den Terrorismus der RAF“ beimessen (S. 144). So notwendig und verdienstvoll es ist, nach den ideologischen Wurzeln bzw. Vordenkern zu fahnden – hin und wieder vernachlässigen die Autorinnen und Autoren die historischen Kontexte, in denen manche der gewaltbejahenden Äußerungen entstanden sind. Die Zustände etwa im zaristischen Russland oder in den Diktaturen Lateinamerikas waren bekanntlich weit von jenen liberalen und demokratischen Verhältnissen entfernt, wie sie heute in der Bundesrepublik herrschen – und auch schon in den 1970er-Jahren herrschten. Außerdem: Wenn es richtig ist – und dafür liefert der Band zahlreiche Belege –, dass sich die Ideologen der terroristischen Gruppen ihre „Theorien“ in völlig eklektizistischer Manier selbst zusammenbastelten – welchen Sinn hat es dann, die „verdächtigen“ Theoretiker einzeln abzuprüfen?

Der umfangreichere zweite Teil behandelt die verschiedenen terroristischen Vereinigungen, unterteilt in „klassische sozialrevolutionäre Organisationen“ und „strukturelle und ideologische Grenzfälle“ wie den „Leuchtenden Pfad“ in Peru oder Al Qaida. Alle Beiträge sind nach einem ähnlichen Muster aufgebaut, so dass sich gut Vergleiche zwischen den Vereinigungen anstellen lassen. Das Spektrum der „klassischen“ Organisationen reicht von der „Narodnaya Wolya“ im Russland des späten 19. Jahrhunderts bis zur RAF und den Roten Brigaden, die in Gestalt von Nachfolgegruppierungen noch im Jahr 2007 von sich reden machten. Ein Schwerpunkt dieses Teils liegt auf der deutschen Szene. Auch die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ werden in Aufsätzen dargestellt. Während einzelne dieser Gruppierungen nur wenige Jahre aktiv waren oder, wie die belgischen „Cellules Communistes Combattantes“, sogar nur 14 Monate, existierten andere zwei oder drei Jahrzehnte. Eine solide „Erdung“ in bestimmten sozialen Milieus konnte die Existenz verlängern, war jedoch, wie das Beispiel RAF zeigt, keine Notwendigkeit. Entgegen der vorherrschenden Meinung, aber im Einklang mit Wissenschaftlern wie Olivier Roy oder John Gray werden die sozialrevolutionären Elemente in der Ideologie von Al Qaida hervorgehoben – „terroristischer Gemischtwarenladen, lavierend zwischen den Idealtypen“ (Aufsatz von Daniel Heller, S. 454).

Den Schlusspunkt des Bandes setzt wieder der Herausgeber – mit einem Beitrag, der sowohl als Zusammenfassung wie auch als Prognose konzipiert ist. Darin beschäftigt sich Straßner zum einen mit verschiedenen Erklärungen für den Zerfall terroristischer Organisationen, zum anderen mit den Zukunftsaussichten der sozialrevolutionären Variante des Terrorismus. Der zur Erklärung des Zerfalls bemühte systemtheoretische Ansatz wirkt indes überdimensioniert; die damit gewonnenen Erkenntnisse erscheinen eher banal. Ertragreicher wäre womöglich ein Rückgriff auf organisationstheoretische Instrumentarien und Überlegungen gewesen, wie ihn beispielsweise Abdulkader Sinno am afghanischen Fall erprobt hat.4

Der Band bietet trotz einiger Schwächen eine sehr hilfreiche, handbuchartige Übersicht zum sozialrevolutionären Terrorismus. Angesichts seines Nutzens für Forschung und Lehre sind sogar die zahlreichen Tippfehler, einige Stilblüten („Bommi“ Baumanns „Beitritt zur Gammlerbewegung“; S. 239) und manche gespreizten Formulierungen zu verschmerzen („folgelogisches Ergebnis“; S. 465 und öfter). Ist der sozialrevolutionäre Terrorismus Geschichte? Vor dem Hintergrund der vielfältigen und zunehmenden sozialen Probleme lässt Strassner diese Frage in seinem Schlusskapitel offen. Einer präventiven Gegenstrategie, die diesen Nährboden außer Acht lässt, räumt er aber von vornherein wenig Chancen ein.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006. Siehe auch die Bibliographie und die Rezensionshinweise unter <http://www.zeitgeschichte-online.de/portal/alias__rainbow/lang__de/tabID__40208488/DesktopDefault.aspx> (9.10.2009).
2 Vgl. die Presseschau unter <http://www.zeitgeschichte-online.de/portals/_rainbow/documents/pdf/Presse_RAF_160109.pdf> (9.10.2009).
3 Alexander Straßner, Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2005.
4 Vgl. Abdulkader H. Sinno, Organizations at War in Afghanistan and beyond, Ithaca 2008.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch