G. Wagner-Kyora: Vom „nationalen“ zum „sozialistischen“ Selbst

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Titel
Vom "nationalen" zum "sozialistischen" Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Wagner-Kyora, Georg
Reihe
Beiträge zur Unternehmensgeschichte 28
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
795 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Müller, Ravensburg

Eliten-, Biografie- und Bürgertumsforschung, Mentalitäts- und Identitätsgeschichte, Unternehmens-, NS- und DDR-Geschichte sind nur die wichtigsten Themen- und Forschungsbereiche, mit denen sich die Habilitationsschrift von Georg Wagner-Kyora beschäftigt. Mit der Monografie spannt er einen großen zeitlichen Bogen, indem er die Veränderungs- und Beharrungsprozesse bei betrieblich-akademischen Eliten im 20. Jahrhundert im Spiegel ihrer Selbst- und Fremdbilder analysiert. Konkreter Gegenstand der Studie sind die akademischen Führungskräfte der drei großen mitteldeutschen Chemieunternehmen Agfawerke Wolfen, Leuna und Bunawerke Schkopau, die bis 1945 unter dem Dach des IG Farben-Konzerns organisiert waren und nach Kriegsende Kern der staatseigenen DDR-Chemieindustrie wurden. Der Autor setzt ein mit dem Aufstieg der Chemiebranche im Kaiserreich und der damit einhergehenden Ausbildung einer neuen Funktionselite aus Managern und Wissenschaftlern. Er betrachtet zunächst die kollektivbiografische Entwicklung dieser Gruppe in den Unternehmen durch die unterschiedlichen politischen Systeme hindurch – Schwerpunkt der Analyse sind die beiden deutschen Diktaturen – und endet in der späten DDR, als sie sich unter sozialistischen Rahmenbedingungen als betriebliche Führungsschicht restrukturiert hatte.

Wagner-Kyora nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand auf kulturgeschichtlichem Weg. Als zentrales Forschungsinteresse benennt er die Analyse von Sinndeutungen und Selbst-Konstruktionen "im Schnittfeld von Identitätskonstruktionen und Generationalisierung" (S. 64); damit will er die "grundlegenden Mechanismen des Akademiker-Seins von Wirtschaftseliten im Nationalsozialismus und in der DDR aufdecken" (S. 22). Sein Ansatz ist im Kern ein qualitativer, ohne dass er dabei vergisst, quantitative Daten in die Analyse und die Interpretation einfließen zu lassen. Hierfür hat er eine gewaltige Menge an ereignisgeschichtlichen und biografischen Quellen zu Chemikern und Ingenieuren in den drei genannten Unternehmen erschlossen. Für seine Fragestellung sind vor allem aussagefähige Quellen zu Selbst- und Fremdbildern in den unterschiedlichen Epochen zentral, und hier hat Wagner-Kyora vor allem zur DDR-Zeit wahrlich Pionierarbeit geleistet. Mit der Auswertung von umfangreichen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit gelingt ihm eine bislang nirgendwo erreichte Annäherung an die Manager in den Werk- und Kombinatsleitungen.

Ausgangspunkt ist eine Analyse der Gruppenmentalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts. An drei exemplarischen und gut dokumentierten Einzelbeispielen führender Manager aus den Agfawerken stellt Wagner-Kyora das "nationale Selbst" dieser Gruppe vor. Sie stehen für einen neuen Typus des Angestellten-Unternehmers, dessen Selbstbild sich aus mehreren Faktoren zusammensetzte: In ihren Spitzenpositionen erlebten sie eine weitgehende Handlungsautonomie; sie sahen sich gleichermaßen als innovative Forscher und verantwortungsbewusste Spitzenmanager, politisch vertraten sie eine konservativ-nationale Grundeinstellung, und zusätzlich waren sie durch eine starke Standortloyalität und eine aufopferungswillige Angestelltenidentität geprägt. Letztlich mischten sich hier traditionelle Loyalitätsbezüge mit modernen Leistungs- und Gruppenerfahrungen (S. 164-166).

Die Entwicklung der Gruppenidentität in der NS-Zeit beschreibt Wagner-Kyora in drei Kapiteln. Zunächst zeichnet er am Beispiel des Wolfener Sozialdirektors Fritz Curschmann und seiner schrittweisen Entmachtung in den Jahren 1931 bis 1937 den zunehmenden Einfluss der nationalsozialistischen Politik nach. Curschmann stand loyal zur Weimarer Republik und vertrat im Konzern eine entsprechende kooperative Sozialpolitik. Wagner-Kyora sieht darin einen Beleg dafür, dass der IG Farben-Konzern früher als andere Unternehmen seine Waffen vor einer nationalsozialistischen Einflussnahme streckte (S. 181). Er stellt außerdem Fälle rassischer Verfolgung, den Umgang mit Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen sowie die betriebliche Sozialpolitik in den Kriegsjahren vor. Das Ergebnis zur Veränderung des "Selbst" durch den Nationalsozialismus ist uneindeutig: Zwar kommt Wagner-Kyora zu dem Schluss, dass das "nationale" Selbstbild der Akademiker weitgehend unbeeinflusst blieb, aber im Bereich der Fremdbilder (Juden, Zwangsarbeiter etc.) gab es weitreichende Anpassungen an die NS-Ideologie.

Zentraler Teil des Buches ist zweifellos die Analyse der Umbrüche nach 1945, als die Betriebe enteignet, verstaatlicht und in die sozialistische Planwirtschaft integriert wurden. Zunächst waren sie als SAG-Betriebe direkt den sowjetischen Besatzungsinstanzen unterstellt, 1954 wurden sie Teil der volkseigenen Industrie. Wagner-Kyora belegt dabei für die Chemieindustrie große soziale und personelle Kontinuitäten in den Führungshierarchien bis weit in die 1960er-Jahre hinein. Zwar wurden ihre unternehmerischen Freiheiten in der Planwirtschaft deutlich eingeschränkt, aber ein Rückzug auf die eigene Fachkompetenz und die Bindung an die Betriebe sicherte ihnen dort umfangreichen Einfluss. Eine erste Konfrontationspolitik der SED Ende der 1940er-Jahre lief weitgehend ins Leere und musste nach dem 17. Juni 1953 durch eine Konsensstrategie ersetzt werden. Der angestrebte Elitenwandel fand hier nicht statt. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht die Geschichte einer "Intelligenzbetreuerin" in den Leunawerken, die dort erfolgreich ein "ausgefeiltes System repräsentativer Wertschätzung" und damit eine Art akzeptierende Integrationsarbeit gegenüber den Akademikern praktizierte (S. 320). Eine erneut konfrontative Kaderpolitik setzte erst ab 1958 ein, aber bis zum Mauerbau wurden nur einzelne exponierte Oppositionelle im Management zur Westflucht getrieben. Ein Massenexodus blieb aus. Offenbar überwog bei den meisten die "Standortloyalität" zu ihren Lebens- und Arbeitsorten.

Der eigentliche Generationenwechsel in den Führungsetagen wurde erst in den 1960er-Jahren vollzogen und war in den untersuchten Betrieben eng mit den Folgen des ehrgeizigen Chemieprogramms der DDR-Führung ab 1958 verbunden. Bei Leuna wie bei Buna wurden in dieser Zeit die für die ersten DDR-Jahre prägenden Spitzenmanager abgelöst. Ihre Nachfolger waren nun durchgehend Vertreter der jüngeren "neuen" Intelligenz, die oft aus nichtakademischen Schichten aufgestiegen und weitgehend in der DDR sozialisiert worden waren. Nichtsdestotrotz blieben fachspezifische Kompetenzen im Vergleich zur politischen Loyalität von großer Bedeutung für die neue Führungsgeneration. Ihre Handlungsspielräume als Manager hingegen litten unter der voranschreitenden Zentralisierung. Wagner-Kyoras Ergebnisse unterstreichen damit nachdrücklich und überzeugend die geläufigen Thesen zum langen Ablöseprozess der "alten" durch eine Generation der "neuen Intelligenz" in der volkseigenen Industrie.1

Im neuen "sozialistischen" Selbstbild dieser Chemiker und Ingenieure mischten sich wiederum traditionelle mit neuen Elementen. Weiterhin zentral blieben die fachspezifischen Qualifikationen, wichtig waren nun aber auch integrative und moderierende Fähigkeiten sowie, viel stärker als im traditionellen Selbstbild und mehr als bei jeder anderen Generation der DDR, das starke Bewusstsein einer gemeinsamen Sozialisation.2 Politisch wurde eine gewisse Distanz zur SED praktiziert, was nicht im Widerspruch zu einer notwendigen Parteimitgliedschaft stand. Damit konnten die Manager eine kommunikative Brückenfunktion innerhalb der Werkshierarchie ausüben, so dass sie letztlich trotz ihrer Distanz systemintegrativ wirkten. Mit Blick auf die Gesamtentwicklung spitzt Wagner-Kyora seine Beobachtungen zu der These zu, dass das neue "sozialistische" Selbst "vollständig auf den technokratisch-bildungsbürgerlichen Werteorientierungen der Vorgängergeneration basierte" (S. 755). Er betont damit eine Art deformierter Kontinuität über alle Systemgrenzen hinweg.

Zusammenfassend bietet Wagner-Kyora eine äußerst reflektierte Kollektivbiografie einer betrieblich-akademischen Elite, die ständig bemüht ist, quantitatives und qualitatives Material miteinander in Beziehung zu setzen. Im besten Sinne wird hier Geschichte im Spannungsfeld von politisch-ökonomischer Makro- und unternehmerischer Mikroebene erzählt. Die Arbeit überzeugt außerdem durch den systemübergreifenden Vergleich vom Kaiserreich bis in die späte DDR. Die Stärken dieser Studie sind allerdings zum Teil gleichzeitig ihre Schwächen, denn die – wie der Autor selbst berichtet – 16jährige Entstehungszeit vom Projektbeginn bis zur Veröffentlichung haben zu einem knapp 800 Seiten dicken Buch geführt, das eine fast unüberschaubare Flut an Informationen und Geschichten enthält. Die Komplexität der Fragestellung spiegelt sich in der Komplexität der Darstellung. Manchmal hätte man sich weniger Detailtreue und mehr Mut zur Bündelung gewünscht. Das schmälert aber nicht den wissenschaftlichen Wert des Bandes. Allen eingangs angesprochenen Teildisziplinen sei er zur Lektüre empfohlen, sie werden dadurch sicherlich um eine interessante und oft neue Sicht auf ihr Thema reicher sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Oliver Werner, Ein Betrieb in zwei Diktaturen. Von der Bleichert Transportanlagen GmbH zum VEB VTA Leipzig 1932 bis 1963, Stuttgart 2004; Dolores L. Augustine, Red Prometheus. Engineering and Dictatorship in East Germany, 1945-1990, Cambridge 2007; Armin Müller, Institutionelle Brüche und personelle Brücken. Werkleiter in Volkseigenen Betrieben der DDR in der Ära Ulbricht, Köln 2006.
2 Vgl. Annegret Schüle / Thomas Ahbe / Rainer Gries (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006.

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