Titel
Egypt after Mubarak. Liberalism, Islam, & Democracy in the Arab World


Autor(en)
Rutherford, Bruce K.
Reihe
Princeton Studies in Muslim Politics
Erschienen
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 28,36
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Wolff, Institut für politische Wissenschaft, Universität Erlangen

Ägypten kann aus historischer Perspektive durchaus als eines der für die Entstehung des politischen Islam einflussreichsten Länder angesehen werden, beherbergt es doch die 1928 in Ismailliyya gegründete Muslimbruderschaft. Der Gründer dieser Organisation, Hasan al-Banna (1906–1949), wurde maßgeblich von ägyptischen Denkern wie Mohammad Abduh (1849–1905) und Rashid Rida (1865–1935) beeinflusst. Die Muslimbruderschaft hat sich als programmatische Keimzelle beispielsweise für die Hamas in Palästina oder die Al-Nahda-Bewegung in Algerien ideologisch und organisatorisch im islamischen Raum ausgedehnt. Aus ihren Reihen stammen die verschiedensten Vordenker des politischen Islam wie Sayyid Qutb (1906–1966), Ayman al-Zawahiri, Gamal al-Banna oder Yusuf al-Qaradawi. In Ägypten kann die Muslimbruderschaft auf eine von staatlicher Repression geprägte Geschichte zurückblicken. Trotzdem konnte sie bei den Parlamentswahlen 2005 etwa 20 Prozent der Sitze erringen und befindet sich spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre in einer Phase der zunehmenden politischen Mäßigung. Diese Entwicklung betrachtet Rutherford in seiner Arbeit „Egypt after Mubarak - Islam, Liberalism, and Democracy in the Arab World“. Darin versucht er, Übereinstimmungen zwischen den drei, seiner Ansicht nach wichtigsten politischen Gruppen (den liberalen Juristen, der Wirtschaftselite und der Muslimbruderschaft) in Ägypten herauszuarbeiten und daran aufzuzeigen, dass es die Möglichkeit zur Bildung eines Grundkonsenses über liberale Werte gibt.

Rutherford unterscheidet Demokratie und Liberalisierung, indem er erstere mit der Abhaltung von Wahlen verknüpft und letztere als Bündel von Institutionen definiert, die staatliche Macht beschränken und individuelle Grundrechte schützen. Rutherford kann so die drei oben genannten Gruppen (Richter und Anwälte, Muslimbruderschaft, Wirtschaftseliten) auf Werteübereinstimmungen hin erforschen und sich dabei gleichzeitig der Diskussion um die Demokratisierung entziehen. Erst zum Schluss des Buches stellt Rutherford eine Verbindung zwischen Demokratie und Liberalisierung her. Liberalisierung, so der Autor, könne Prozesse in Gang setzen, die zu einer Demokratisierung führen.

Die Gruppe der liberalen Konstitutionalisten, die Rutherford besonders im Berufsverband der Juristen verortet, habe mit der Fokussierung auf die von John Locke gesetzten Prinzipien des „klassischen“ Liberalismus (objektives System der Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, wechselseitige Kontrolle der Gewalten sowie den Schutz der grundlegenden Bürgerrechte) zur Etablierung einer relativ unabhängigen Judikative in Ägypten geführt. Diese Unabhängigkeit hat aber durchaus einen utilitaristischen Charakter, der sich besonders in der Haltung des obersten Gerichtshofes sowie der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausdrückt, die ihre Entscheidungen dem Grundsatz einer starken Staatlichkeit unterwerfen. Nur ein starker Staat könne die Freiheiten garantieren, die eine liberale Gesellschaft benötige. Der Zweck der Gesetzgebung sollte nicht darin bestehen, die staatlichen Handlungsmöglichkeiten stetig einzuschränken, sondern einen klar definierten Handlungsrahmen zu eröffnen. Das oberste Gericht bezieht sich in dieser Definition von Gesetzlichkeit auch auf moralische Normsetzung. Besonders der Schutz der Familie sei durch einen starken Staat zu gewährleisten. Generell soll die Beständigkeit eines starken Staates auch dann geschützt werden, wenn dabei einzelne Bürger benachteiligt werden. Dies führt Rutherford zu der Schlussfolgerung, dass es der ägyptischen Jurisprudenz an einer Betonung des individuellen Rechts mangelt. Kollektivität im Sinne einer Staatlichkeit, die Freiheitsrechte (Rutherford betont hierbei einige Entscheidungen für eine Verbesserung der Meinungsfreiheit) zum Gesamtwohl der Gemeinschaft bewahrt, genießt den juristischen Vorrang vor der Individualität. Im individuellen Bereich liegt der moralische Schutz der Gesellschaft in der Hand der Gerichte, die eine Verletzung der grundlegenden religiösen Überzeugungen ahndend behandeln sollen. Die generelle Abwägung der individuellen gegenüber den kollektiven Rechten macht den Kern der liberalen Aussage der ägyptischen Gerichtsbarkeit aus.

Die zweite Gruppe, die Rutherford in seiner Untersuchung näher betrachtet, ist die ägyptische Muslimbruderschaft. Diese hat spätestens seit den Parlamentswahlen von 2005 eine verstärkte internationale Beachtung erfahren, die auch in Rutherfords Studie spürbar ist. Rutherford bezieht sich in seinem Kapitel über die Bruderschaft allerdings eher weniger auf die politischen Akteure vor Ort. Zu Beginn des Kapitels beschreibt er zwar, wie der derzeitige spirituelle Führer der Bewegung, Mohammed Mahdi Akef im März 2004 die Forderung nach einem republikanischen System mit demokratischen, konstitutionellen und parlamentarischen Merkmalen im Rahmen einer islamischen Moralität aufgestellt hat. Seine vertiefte Untersuchung konzentriert sich jedoch im Wesentlichen auf vier Vordenkern der so genannten Wasatiyya-Bewegung (eine intellektuelle Bewegung des politischen Islam, die sich um ein reformiertes Bild vom islamischen Staat bemüht). Yusuf al-Qaradawi, Tariq al-Bishri, Kamal Abu al-Majd und Mohammed Salim al-`Awwa dienen ihm dabei als Theoretiker dessen, was Rutherford selbst als „islamischen Konstitutionalismus“ bezeichnet. Der moralische Rahmen dieses Staates manifestiert sich in der Forderung nach der Einführung der Sharia. Da die Sharia jedoch bereits laut der ägyptischen Verfassung einzige Grundlage der Legislative ist, nimmt diese Forderung wohl eher populistischen Charakter ein. Viel bedeutender ist hingegen die Aussage Qaradawis, der betont, dass der französisch geprägte Rechtskanon im Grunde beinahe in Gänze übernommen werden könne, sobald er islamisiert, also im Zuge eigener Beratungen abgestimmt worden sei. Laut Rutherford ist dem islamischen Konstitutionalismus eine relative Unbestimmtheit inhärent. Begriffe wie „Shura“ (Beratung – meist nach dem Senioritätsprinzip – hier im ägyptischen Kontext als parlamentarische Vertretung verstanden) oder „Umma“ (Gesamtheit der muslimischen Gläubigen – hier im ägyptischen Kontext als Nation verstanden) werden häufig als Erklärungsmaßstab genutzt. Die politikpraktische Umsetzung bleibt jedoch offen. So sind beispielsweise die Fragen des Machtwechsels, der Einbeziehung religiöser Minderheiten sowie die Geschlechtergerechtigkeit noch nicht abschließend geklärt. Hinzu kommt, dass gerade die Vertreter der jungen Generation der Muslimbruderschaft stark unter staatlicher Repression leiden und so deren Einfluss immer wieder beschränkt wird.

Die dritte Gruppe, der Rutherford seine Aufmerksamkeit widmet kann unter dem Begriff der Wirtschaftselite zusammengefasst werden. Die nasseristische Wirtschaftspolitik, die ihren Fokus auf die staatliche Bürokratie, verstärkte Subventionierungen und eine Ausdehnung des öffentlichen Sektors gelegt hatte, fand ihr Ende in den Wirtschafts- und Finanzkrisen der 1980er- und 1990er-Jahre. Die staatlich gelenkte Wirtschaft war den Veränderungen auf dem Weltmarkt nicht anpassungsfähig genug und auf Grund einer extremen Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates finanziell unflexibel. Die herrschenden Eliten befürworteten einen Wandel hin zu einer Liberalisierung des ägyptischen Marktes, um letztlich den eigenen Machtanspruch zu gewährleisten. Rutherford betont hierbei, dass die Schattenseite dieser Politik jedoch zu einer „Aushöhlung“ des Regimes führte. Eine liberalisierte Wirtschaft unter Führung einer kleinen zunehmend mächtiger werdenden technokratisch orientierten Elite verlangte zunehmend nach rechtlich verbindlichen Regeln, um auch ausländische Investoren in das Land zu holen.

Rutherford zieht als Grundkonstante aller drei von ihm untersuchten Gruppen das Fazit, dass eine pragmatische Übereinstimmung in den oben genannten vier Kernbereichen des Liberalismus vorhanden ist. Die unterschiedlichen und meist nur auf die eigene Gruppe beschränkten Zielvorstellungen verhindern jedoch eine demokratische Entwicklung im von Rutherford gesetzten Definitionsrahmen. Durch die definitorische Trennung von Liberalismus und Demokratie schafft Rutherford den Spagat zwischen einer nur auf die drei Gruppen orientierten Sichtweise und einer eher dem Mainstream folgenden Debatte um die Demokratisierung Ägyptens. Rutherfords Arbeit stellt deshalb mit Sicherheit die in der aktuellen Literatur noch fehlende Wegmarke dar, die es zur Gesamtbetrachtung des ägyptischen Regimes braucht. Die Untersuchung zeigt die Verästelung von liberalen Werten in drei gesellschaftlich prägenden Gruppen auf. Somit zeigt er, dass eine dogmatische, auf eine Wertekonfrontation ausgerichtete Herangehensweise an den modernen politischen Islam zum Scheitern verurteilt ist, da dabei übersehen wird, welche liberalen Tendenzen bereits maßgeblich vorhanden sind. Die Überschneidung im Bereich liberaler Werte zeigt auch, dass der politische Islam nicht als Randprodukt einer autoritären Gesellschaft betrachtet werden muss, sondern in einigen Bereichen ein unterstützendes Potential für die Vermittlung und Verfestigung liberalen Denkens bietet. Gemeinsamer Nenner aller drei genannten Gruppen ist der Ruf nach einem starken Staat, der die Prinzipien der Liberalisierung durchzusetzen in der Lage ist. Wie dieser Staat ausgestaltet ist, bleibt nicht nur in der Theorie der Muslimbruderschaft relativ wage. Dieses Manko ist deshalb sicherlich eine der wichtigsten Hürden, die es auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Liberalisierung zu überwinden gilt.

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