H. Eppe u.a. (Hrsg.): Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert. Studien zur Entwicklung und politischen Praxis der Arbeiterjugendbewegung in Deutschland


Herausgeber
Eppe, Heinrich; Herrmann, Ulrich
Reihe
Materialien zur Historischen Jugendforschung
Erschienen
Weinheim 2008: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiner Stahl, Universität Siegen, Historisches Seminar

Der von Hermann Eppe und Ulrich Hermann herausgegebene Band Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert behandelt verschiedene Aspekte der deutschen Arbeiterjugendbewegung im vergangenen Jahrhundert: Zum einen gilt die Aufmerksamkeit den Wegen, wie soziale Mobilität durch Selbst-Bildung und besondere Weiterbildungsformen gefördert wurde und welche politische Sozialisationen es in der Weimarer Linken gab. Zum anderen handelt dieses sehr erhellende Buch von den Formen zivilgesellschaftlicher Beteiligung und Selbstverwaltung, die in den Ferienlagern und Kinderrepubliken der SDJ – Die Falken eingeübt worden waren sowie vom widerständigen Verhalten der organisierten und unorganisierten Arbeiterjugend während des Nationalsozialismus. Eine dritte Perspektive beleuchtet die politischen Karrieren von SDJ – Die Falken-Funktionären in der Bundesrepublik sowie deren politischen Beziehungen zur Freien Deutschen Jugend in der DDR.

Natürlich ist es wirklich lesenswert, wie sich junge Frauen innerhalb der Arbeiterjugend selbst emanzipierten. Und ich habe mit Gewinn die Ausführungen zur Kinderfreude-Bewegung in der Weimarer Republik gelesen (Heinrich Eppe, S. 160-188); fand es faszinierend, welche Modelle von Selbstverwaltung die sozialistische Arbeiterjugendbewegung in ihren Freizeitaktivitäten bereits Ende der 1920er-Jahre umzusetzen versuchte (Bodo Brücher, S. 189-200). Das verdeutlicht auch, dass die unruhevolle Jugend in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre eben nicht alle Formen politischer Teilhabe oder des öffentlichen Ungehorsams neu erfunden hatte.

Diese Ausführungen zu den Erziehungsansätzen der jugendbewegt-progressiven deutschen Arbeiterbewegung öffnen den Blick dafür, wie beweglich manche Strömungen in der strukturell konservativ geprägten Arbeiterklasse des Kaiserreiches und der Zwischenkriegszeit geworden waren. Wie sich diese Änderung vollzog, wird aber leider nicht hinreichend ausgeführt. Bildungsorientierung, Internationalismus und soziale Mobilität erscheinen als tragende Säulen. Aber im gleichen Atemzug müssten die diskursiven und praktischen Verweigerungshaltungen dieser fortschrittlichen Jugendverbände gegenüber Popularkultur, Freude am Konsum von Vergnügungen, Mediennutzung und alternativer Selbstverwirklichung genannt werden. Aus diesem Blickwinkel wird auch verständlich, dass die „Alten Männer“ in der DDR der 1960er-Jahre an der Jugend- und Kulturpolitik während dem 11. Plenum 1965 mehr oder weniger die „Kulturdiskussion“ einer Jugendverbandssitzung aus dem Jahre 1925 wiederholten. Schließlich hatten ja nahezu alle beteiligten Funktionäre ihre jugendliche Sozialisation in einem dieser nüchternen und spaßfernen arbeiterbewegten Jugendverbände verbracht. Dazu hätte ich gerne mehr gelesen.

Ferner hätten mich auch generelle Überlegungen zu einem anderen Aspekt der deutschen Nachkriegsgeschichte interessiert: Warum begannen die Jugendfürsorger und Jugendpfleger, die ihre jugendliche Sozialisation gerade in der proletarischen Jugendbewegung erlebten, ab Mitte der 1950er-Jahre in der kommunalen Jugendpolitik, die Wahrnehmungswelten der Heranwachsenden offensiv einzuarbeiten. Trotz der medialen Feindbildkonstruktion des „Halbstarken“, mitsamt der Klage eines amerikanischen – undeutschen – Kulturverfalls, entwickelte sich Jugendpolitik auf städtischer Ebene zwar restriktiv und auswählend, aber im konservativen Kontext des kulturellen Kalten Krieges, dennoch verhältnismäßig aufgeschlossen.1

Der Westberliner Jugendverband der Falken ist ja genau dafür ein exzellentes Beispiel. Lag es daran, dass die nunmehr erwachsenen Vertreter der Falken in den 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre endlich verstanden hatten, warum sie es zum Ende der 1920er-Jahre soweit haben kommen lassen, das große Teile der Arbeiterjugend in der Weimarer Republik nationalsozialistisch kontaminierte Freizeit- und Erziehungsformen attraktiver fanden? Allein die Wiedergabe der proletarischen Widerstandserzählung in der NS-Diktatur reicht mir bei Ebbe / Herrmann als Erklärung einfach nicht aus.

Wenn es dem Leser nicht ganz so wichtig ist, wie aktuell die verwendete Forschungsliteratur ist, dann ist der Sammelband Sozialistische Jugend ein äußerst lesenswertes Buch. Leider stammt der Löwenanteil der Forschungsliteratur aus den bundesrepublikanischen Geschichtswerkstatt-Initiativen der späten 1980er- und den 1990er-Jahren. Insbesondere die anglo-amerikanische Forschung zur Weimarer Republik oder zur DDR ist von den Beitragenden mehrheitlich ausgeblendet worden. Das ist misslich und zu kritisieren. Aber auf diese Weise verdeutlicht diese Aufsatzsammlung wiederum, was für ein hermetisch abgeriegelter Raum die Historisierung der deutschen (Arbeiter-) Jugendbewegung immer noch ist. Mit anderen Blickrichtungen und Zugriffsweisen würde dieses Feld an analytischer Beweglichkeit gewinnen. Damit ließen sich genauere und wesentlich tragfähigere Aussagen über die sich verschiebenden gesellschaftlichen Milieus und Klassen treffen, als diese durch die Selbst-Referierung möglich ist. Aber genau das ist wohl auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
Ebbe und Herrmann haben den Forschungsstand zur sozialistischen Arbeiterjugendbewegung zusammengefasst, und die einzelnen Beiträge führen tief in deren Geschichte ein.

Anmerkung:
1 Uta G. Poiger, Jazz, Rock and Rebels, Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley u.a. 2000; Uta G. Poiger, American Music, Cold War Liberalism, and German Identity, in: Heide Fehrenbach / Uta G. Poiger (Hrsg.), Transactions, Transgressions, Transformations. American Culture in Western Europe and Japan, New York u.a. 2000, S. 127-147.

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