R. Kießling u.a. (Hrsg.): Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800

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Titel
Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800


Herausgeber
Kießling, Rolf u.a.
Reihe
Colloquia Augustana 25
Erschienen
Berlin 2007: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annekathrin Helbig, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Der vorliegende Band bringt 14 Aufsätze zur jüdischen Geschichte im Alten Reich zusammen, deren zeitlicher Bogen sich vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts spannt. Die Beiträge gehen auf die Konferenz „Juden zwischen Kaiser, Landesfürst und lokaler Herrschaft“ zurück, die im Herbst 2004 am Institut für Europäische Kulturgeschichte stattfand und dem wissenschaftlichen Austausch über „Gemeinsamkeiten und Differenzen jüdischen Lebens im Süden das Alten Reichs in Spätmittelalter und Früher Neuzeit“ (S. 14) dienen sollte.

In ihrer Einleitung skizzieren die Herausgeber und die Herausgeberin die wichtigsten Tendenzen der gegenwärtigen Forschungen auf dem Gebiet der (deutsch)jüdischen Geschichte. So sei die „Abkehr von einer ‚Verfolgungs- und Opfergeschichte’“, die einer Analyse der vielschichtigen historischen Gegebenheiten nicht gerecht werden könne, charakteristisch (S. 13). Vielmehr werde der Fokus verstärkt auf die alltäglichen Kontakte zwischen Juden und Christen gelegt. Die auf Integration, Interaktion, Selbstbestimmtheit und Wechselseitigkeit gerichtete Perspektive nehme „Juden nicht nur als Objekte obrigkeitlicher Politik, sondern als eigenständig handelnde Akteure wahr, ohne freilich die besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz und eine oft auch gewalttätige Judenfeindschaft zu übersehen“ (S. 14).Bei der Erforschung jüdischer Geschichte sei darüber hinaus den konkurrierenden politischen Ebenen von kleinsten Herrschaftsräumen bis hin zur Reichsebene, auf denen sich jüdisches Leben abspielte und die seitens der jüdischen Bevölkerung genutzt werden konnten, besondere Beachtung zu schenken. Die auf der Tagung eingeforderte Vernetzung der Disziplinen wie der Landesgeschichte, Rechtsgeschichte, Judaistik und allgemeinen Geschichte1 findet in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes ihren Niederschlag (S. 15).

Die Reihe der Beiträge eröffnen Anna C. Fridrich und Peter Rauscher. Ihre Aufsätze sind dem Forschungsfeld von Kontinuität und Wandel jüdischer Siedlungsschwerpunkte und des Landjudentums gewidmet. Fridrich analysiert die Entstehung von Landjudengemeinden im Nordwesten der schweizerischen Eidgenossenschaft und hebt neben dem wesentlichen Einfluss der Gemeinden bei der Aufnahme von Juden auch die jeweilige, vor allem durch fiskalischen und wirtschaftlichen Überlegungen beeinflusste Motivation der Herrscher bei der Gewährung von Judenschutz hervor. Daneben betont sie innerjüdische familiäre Bindungen im Kontext der Ansiedlungspraxis der jüdischen Bevölkerung. Dagegen legt Rauscher seinen Fokus auf die Entwicklung jüdischer Siedlungen in Niederösterreich und resümiert die Entstehung eines dichten jüdischen Siedlungsnetzes innerhalb adliger Herrschaften seit Anfang des 17. Jahrhunderts.

Der Beitrag Johannes Mordsteins widmet sich der Partizipation von Juden an der Legislationspraxis. Indem er die aktive Teilnahme von Juden an den Verhandlungen um Judenschutz in Oettingen vor Augen führt, zeigt Mordstein eine Herrschaftspraxis auf, bei der die an den Verhandlungen Beteiligten beiderseits von „einer kommunikativen Problemlösung“ (S. 86) ausgingen. Die „jüdische Interessenartikulation“ in Form von Suppliken erscheine in Verhandlungssituationen als „integraler Verfahrensbestandteil“ (S. 89) und verweise zugleich auf eine bestehende Verhandlungsbereitschaft der Obrigkeit in Fragen des Judenschutzes. Voraussetzung für ein erfolgreiches Bittgesuch seitens der jüdischen Bevölkerung waren gute Kenntnisse der aktuellen politischen Lage.

Die Beiträge von Nathanja Hüttenmeister und Stefan Lang setzen sich anschließend mit christlich-jüdischem Alltag und Judenpolitik der christlichen Obrigkeit auseinander. Hüttenmeister betrachtet das Neben- und Miteinander jüdischer und christlicher Bevölkerung, so z.B. beim Handel, gemeinsamen Spiel und Feiern und in Konfliktsituationen im nicht geschlossenen Herrschaftsraum der Herren von Pappenheim. Sie zeigt auf, wie das Miteinander in einem „oberflächliche(n) Frieden“ (S. 120) bestand und durch verbale und physische Auseinandersetzungen gestört werden konnte. Dabei stellt sie fest, dass diese Konflikte mehr aus „nachbarschaftliche(n) Querelen“ (S. 120) und weniger aus judenfeindlichen Intentionen heraus zu erklären seien. Lang beschäftigt sich mit der württembergischen Judenpolitik vom 15. bis 18. Jahrhundert und stellt die Einflussmöglichkeiten von „Landesherrschaften, die selbst keine Juden innerhalb ihrer Grenzen duldeten“ (S. 120), auf das jüdische Leben dar. Die Politik einer Herrschaft gegenüber Juden bestimmten neben den regierenden Herzögen auch die Landstände und die Kirche.

Barbara Staudinger und Rotraud Ries befassen sich mit innerjüdischen Organisationsformen. Staudinger beleuchtet Aufbau und Struktur jüdischer Selbstverwaltung innerhalb der niederösterreichischen Landesjudenschaft. Sie untersucht, wie diese im Rahmen der vorgegebenen christlichen obrigkeitlichen Strukturen die Verwaltung und Verhandlung innerjüdischer Angelegenheiten vornahm. Weiterhin stellt sie das Verhältnis der niederösterreichischen Landesjudenschaft zu der jüdischen Gemeinde in Wien dar. Mit den Kommunikationsstrukturen und Obliegenheiten der jüdischen Fürsprecher befasst sich der Beitrag von Ries. Anhand eines aus der Kommunikationstheorie abgeleiteten Kommunikationsmodells zeichnet sie Wege politischer Kommunikation und (korporativer) Interessenvertretung von Juden mit obrigkeitlichen Instanzen nach. Als Vermittler zwischen Judenschaft und Obrigkeit war es für den Fürsprecher („Schtadlan“) unerlässlich, in Kontakt zu beiden Parteien zu stehen. Seine jeweilige Wirkungsmacht hing weitgehend von seinen „persönlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen“ (S. 187) ab.

Auf die Themenschwerpunkte Mobilität, Grenze und Grenzerfahrung konzentrieren sich die nächsten Beiträge. So geht Wolfgang Treue der Frage nach einer spezifischen, von der christlichen zu unterscheidenden jüdischen Mobilität im frühneuzeitlichen Aschkenas nach. Zum Zwecke des Studierens und Handelns waren Christen und Juden mobil. Während es auf jüdischer Seite wenig bis kaum religiös motiviertes Reisen (Pilgerreise), keine Gesellenwanderung, Grand Tour bzw. Bildungsreise (S. 200) gab, kam es bei „nicht erwerbsorientierten Fernreisen“ von Juden zu einer differenzierten Wahrnehmung des Reisens, indem die Suche nach dem „‚Eigenen’ in der ‚Fremde’“ (S. 200) im Vordergrund stand. Nach einem Problemaufriss J. Friedrich Battenbergs zu Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne werden im Beitrag von Reinhard Buchberger spezifische Grenzerfahrungen am Beispiel der im Grenzraum zwischen Österreich, Ungarn und dem Osmanischen Reich lebenden Juden erörtert. Den Türkenkriegen zum Trotz wusste die jüdische Bevölkerung ihre Situation durchaus nutzbar zu machen. Durch die besonderen Konstellationen erschlossen sich nicht nur neue Handelsgüter. Zu nennen sind Waffenhandel, Menschenhandel („Sklavenhandel“) und Handel mit (sensiblen) Informationen (Spionage) (S. 241-249). Darüber hinaus trieb die gefährliche Situation in Grenznähe die Gewinne in die Höhe. Neben Zeugnissen friedlicher Koexistenz und Toleranz zeugen die überlieferten Quellen jedoch auch von Konflikten, gegenseitigem Misstrauen und Feindseligkeiten.

Der folgende Abschnitt des Bandes ist dem Quellenmaterial gewidmet. Birgit E. Klein zeigt, wie unverzichtbar das Heranziehen zahlreicher verschiedener Quellentypen einer sowohl jüdischen als auch christlichen Provenienz ist. Erst eine wechselseitige Analyse von Quellen unterschiedlicher Herkunft erlaube die umfassende Betrachtung eines differenzierten und vielschichtigen historischen Gesamtkontextes. Eveline Brugger und Birgit Wiedl stellen in einem gemeinsamen Aufsatz Typologien und Charakteristika spätmittelalterlicher Quellen zur jüdischen Geschichte dar. Im Rahmen der Arbeit mit verschiedensten Quellen sei nicht nur die Identifizierung von Personen als Juden eine Herausforderung. In ihrem Beitrag zeigen die Autorinnen verschiedenste Quellentypen auf und ordnen diese in den historischen und historiographischen Kontext ein. Zuletzt wird das Regestenprojekt des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich vorgestellt. Eine beachtenswerte Quellengattung in der Erforschung deutsch-jüdischer Geschichte seien sogenannte Judenbücher. Diese stellten, so Thomas Peter in seinem folgenden Aufsatz, eine „Brücke […] zwischen inhaltlich ausschließlich auf Belange der christlichen Stadtgemeinde ausgerichteten Stadtbüchern und den von Seiten der jüdischen Gemeinden geführten Pinkassim“ (S. 309) dar. Anhand der Znaimer Judenbücher, die einen Zeitraum von 1415 bis 1438 und neben Eintragungen zu Haus- und Grundstücksübertragungen und Gerichtsprotokollen auch Aufzeichnungen von Kredit-, Pfand- und Zinsgeschäften umfassen, kann Peter Strukturen und Handlungsweisen jüdischen Wirtschaftlebens im Spätmittelalter aufzeigen. Peters Beitrag schlägt inhaltlich eine Brücke zum abschließenden Aufsatz von Martha Keil. Die Autorin untersucht die Aufführungen von „judinne“ (Jüdinnen) in obrigkeitlichen Urkunden des Spätmittelalters. Die Sichtbarkeit von Jüdinnen in mittelalterlichen Urkunden bezeugt deren Aktivitäten im Wirtschaftsleben. So waren sie in der Pfand- und Geldleihe und sogar als Steuereinnehmerinnen tätig.

Im Ganzen führt der Sammelband anhand eines breiten Themenspektrums jüdisches Leben im Alten Reich vor Augen. Stellenweise wäre zwar eine geschlechtersensiblere Herangehensweise wünschenswert gewesen. Doch wird die Forschung zur jüdischen Geschichte durch diesen Band nicht nur um neue Einzelfallstudien bereichert, sondern die Forderung nach Interdisziplinarität insgesamt bereichernd umgesetzt.

Anmerkung:
1 Vgl. den Tagungsbericht der beiden Mitherausgeber Peter Rauscher und Barbara Staudinger unter <http://www.uni-augsburg.de/institute/iek/html/iek_rueck_juden01.html> (11.06.2009).

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