: The Tokyo War Crimes Trial. The Pursuit of Justice in the Wake of World War II. Cambridge 2008 : Harvard University Press, ISBN 978-0674-02870-8 XIV, 335 S. $ 39.95

: War Crimes Tribunals and Transitional Justice. The Tokyo Trial and the Nuremburg Legacy. London 2008 : Routledge, ISBN 978-0-415-42673-2 XII, 213 S. £ 75.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Das Internationale Militärtribunal (IMT) in Tokio stand schon zu Beginn seiner Tätigkeit 1946 im Schatten des Vorgängers in Nürnberg, und es dauerte, nicht zuletzt aufgrund von Übersetzungsschwierigkeiten, fast dreimal so lang. Als am 12. November 1948 das Urteil erging, hatte der Kalte Krieg die ursprünglichen Abrechnungspläne der westlichen Alliierten bereits stark deformiert, und die Weltöffentlichkeit hatte das Interesse verloren. Vom Prozess in Tokio blieb das ambivalente Bild einer angeblichen Siegerjustiz, das die Erinnerungskultur wie auch die Forschung stark beeinflusst hat: Statt Recht zu sprechen, sei in Tokio Politik gemacht worden, indem die Okkupationsmacht USA Schlüsselfiguren wie den Kaiser oder wirtschaftliche Eliten vor der Anklage geschützt habe, um in Ostasien einen starken Partner zu besitzen. Die Frage nach den genaueren Weichenstellungen für eine solche Vorgehensweise blieb jedoch jahrzehntelang unbeantwortet und wurde erst mit der Veröffentlichung der Prozess-Transkripte in den 1980er-Jahren aufgegriffen.1 Zwei neue Bücher japanischer Wissenschaftlerinnen nutzen nun die Gegenüberstellung zu Nürnberg, um jüngste Forschungen fortzuführen2 und die gesellschaftliche Wirkung des Verfahrens von Tokio zu analysieren.

Yuma Totani geht das Problem aus historischer Perspektive an; sie hat dafür erstmals die gesamten Anklageakten ausgewertet und dem diplomatischen Schriftverkehr der Alliierten zugeordnet. Ihre Arbeit stellt eine sehr sorgfältig ausbalancierte Untersuchung zur Frage dar, was die Alliierten – neben den USA vor allem die Briten und Australier – mit dem Prozess in Japan im Hinblick auf die Stabilisierung der gesamten Region erreichen wollten, und sie diskutiert, auf welche Weise politische Kompetenzstreitigkeiten die strafrechtliche Herangehensweise behinderten. Was die Entscheidung betrifft, den Kaiser nicht anzuklagen, bietet die Arbeit Neues. Auf detailreicher Quellenbasis vornehmlich amerikanischer und australischer Provenienz zeigt Totani, wie sich dieses Ergebnis im Verlauf einer mehrmonatigen Debatte zwischen US-Okkupationsbehörde in Japan und US-Ministerien herausbildete – mit dem Ziel, sich eine Anklageoption offenzuhalten. Den Kaiser zu schonen war nicht die ursprüngliche Intention, sondern die Folge mangelnder Kompetenz der einzelnen Behörden, die die Entscheidung so lange vertagten, bis der Prozess begonnen hatte. Dramatische Veränderungen in Ostasien, etwa die Umwandlung Chinas in einen kommunistischen Staat ab 1948 und die politische Instabilität der ganzen Region im Dekolonialisierungsprozess, ließen die Nicht-Anklage rückblickend als Stabilisierungsfaktor erscheinen, was aber zunächst nicht intendiert gewesen war.

Durch die Methode der vergleichend angelegten Studie zum Ablauf der beiden IMT-Verfahren in Nürnberg und Tokio ergibt sich bei Totani für den japanischen Fall ein deutlich differenzierteres Bild als bisher. So kann sie belegen, dass die Behauptung unrichtig ist, die japanischen Verbrechen in den asiatischen Staaten und die Rolle als Kolonialmacht seien nicht thematisiert worden. Allerdings nutzte das Gericht die Methode einer synoptischen Darstellung der Verbrechen, was in erinnerungspolitischer Hinsicht zu einer Verwischung des Bildes japanischer Kriegsgräuel führte (S. 117). Auch wurden keineswegs nur Verbrechen an westlichen Staatsangehörigen thematisiert: Die Analyse der Anklageakten belegt, dass gerade die Ankläger Chinas, aber auch diejenigen des Commonwealth oder Australiens wiederholt nicht nur Beweise für die Unterdrückung asiatischer Völker, sondern auch für das System der Zwangsprostitution vortrugen. Allerdings wurden weniger Zeugenvernehmungen im Gerichtssaal durchgeführt als in Nürnberg. Beides führte dazu, dass sich über Jahrzehnte eine selektive Erinnerungskultur entwickeln konnte, die beklagte, in Tokio seien die westlichen Prinzipien zum Nachteil der asiatischen Welt ausgelegt worden. Nicht zuletzt die Forschung wurde durch diese Sicht jahrzehntelang beeinflusst.

Aus Totanis Analyse der japanischen Kontroversen der 1990er-Jahre um die Untersuchungen von Awaya, Higurashi und Yoshida zur Wirkung des IMT in Tokio3 wird deutlich, dass der Vorwurf der „Siegerjustiz“ von rechts wie von links genutzt wurde. Während die einen beklagten, vor Gericht zum Spielball westlicher Interessen und Rechtsvorstellungen geworden zu sein, kritisierten die anderen, dass der Prozess viel zu wenig Aufklärung geleistet, auf zu viele Lobbygruppen Rücksicht genommen und letztlich ein verzerrtes Bild der japanischen Kriegführung generiert habe. Die Forschung ließ umfangreiches Material unberücksichtigt, gerade zu den Kriegsverbrechern der Kategorie „B und C“. Totani plädiert deshalb nachdrücklich dafür, vergleichende Untersuchungen zu den nationalen Prozessen Ostasiens gegen japanische Kriegsverbrecher durchzuführen und deren Wirkung auf die Opfergesellschaften, etwa in China oder Indonesien, zu analysieren. Hier tut sich ein interessantes Untersuchungsfeld auf – vor allem für diejenigen, die ostasiatische Sprachen beherrschen und die dortige Rezeption mit den Prozessunterlagen auf Chinesisch, Niederländisch und Französisch (um nicht Englisch an erster Stelle zu nennen) verbinden können.

Madoka Futamuras Untersuchung rückt weniger den Prozess selbst als dessen Wirkung in den Fokus. Sie verfolgt die politikwissenschaftliche Fragestellung, inwiefern man aus dem Tokioter Verfahren Lehren zur Ahndung von Staatskriminalität gezogen hat, die noch heute vor allem in den seit Mitte der 1990er-Jahre geschaffenen Internationalen Strafgerichtshöfen (International Criminal Courts, ICT) Anwendung finden. Dabei geht es der Autorin nicht um die rechtlichen Aspekte, sondern um die Langzeitwirkungen und strategischen Ziele einer Strafverfolgung vor einem internationalen Gerichtshof sowie die Auswirkungen eines solchen Vorgehens auf die unterlegene Gesellschaft.

Im Zentrum steht die Frage, inwieweit es gelang, durch den Prozess von Tokio eine Grundlage für die Erinnerung an den japanischen Krieg in Ostasien zu schaffen, und inwieweit Verantwortung dafür zugewiesen wurde. Im Gegensatz zu Nürnberg hatte der Prozess in Tokio für die Erziehung zur Demokratie nicht die gleiche, positive Wirkung auf die Öffentlichkeit. Futamura plädiert für eine stärker an der Langzeitwirkung orientierte Strategie in künftigen ICT-Prozessen. Dabei erörtert sie sehr gewinnbringend die Verschiebung des Ziels internationaler Strafverfolgung, von „IMT“ zu „ICT“. Während die Militärgerichtshöfe nach 1945 die Devise „peace through justice“ ausgaben, hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges der Fokus verschoben, hin zu einer neuen Sicherheitspolitik. Diese agiert global unter dem Motto „respond to threats to international peace“ und initiiert Strafverfahren nicht mehr gegen zuvor niedergerungene Regime, sondern gegen politische Gruppen innerhalb weiterbestehender Staaten, die als Bedrohung der Weltstabilität angesehen wurden. Zusammenarbeit (collaboration) statt „victor’s justice“ steht heute im Zentrum der Maßnahmen von Transitional Justice.

Wie Totani analysiert auch Futamura die Frage der Wirkung auf die kollektive Erinnerung in Japan – allerdings anhand eines von ihr erdachten Umfragesamples, durchgeführt 60 Jahre nach dem Prozess. Gerade dieses neue Material dürfte für vergleichende Studien zur Kriegsverbrecher- und Abrechnungspolitik besonders interessant sein, weil es auf Englisch leicht zugänglich ist. Aus der Langzeitanalyse der Verarbeitung des Tokioter Prozesses innerhalb der japanischen Nachkriegsgesellschaft formen sich zwei Thesen: Zum einen gelang es tatsächlich langfristig nicht, ein realistisches Bild von Japans Kriegführung in Ostasien zu schaffen. Zum anderen war die Forderung nach einer Zuweisung von Verantwortlichkeit für die Verbrechen nicht erfolgreich, da sie vor Gericht nicht erfüllt wurde und dadurch als Kollektivschuldvorwurf in der japanischen Gesellschaft weiterwirkte (S. 142). Durch die darauf folgende Weigerung (ignorance), die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, wurde die Notwendigkeit verdeckt, sich individuell mit der eigenen Rolle während des Konflikts sowie der eigenen Zustimmungsbereitschaft zu Verbrechen auseinanderzusetzen. Das Problem der individuellen Verantwortungsübernahme wirkt direkt auf die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Aussöhnung mit der Vergangenheit und den Opfern ein, etwa in Form von Entschädigungen, öffentlichen Entschuldigungen oder Gedenkstättenarbeit.

Futamura macht deutlich, dass die „Erneuerung“ der Gesellschaft durch strafrechtliche Abrechnung nicht erreicht werden konnte. Wie schon in Tokio, so ist auch im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda und Kambodscha eher der Effekt einer Separierung denn einer Individualisierung von Schuld als Folge der Prozesse zu beobachten – eine Trennung der „Bösen“ vom Rest der Gesellschaft. Totani dagegen weist mit ihrer bahnbrechenden Studie nach, dass auch die bisherige Forschung einem Bild vom Tokioter Prozess erlegen ist, das durch eine Überprüfung der umfangreichen Gerichtsakten als Zerrbild entlarvt wird.

Anmerkungen:
1 R. John Pritchard / Sonia Magbanua Zaide (Hrsg.), The Tokyo Major War Crimes Trial. Complete Transcripts and Annotated Bibliography, 22 Bde., London 1981, Reprint 2004.
2 Sheila Miyoshi Jager / Rana Mitter (Hrsg.), Ruptured Histories. War, Memory and Post-Cold War in Asia, Cambridge 2007.
3 Kentaro Awaya, Unresolved Responsibilities for War, Tokyo 1994 (auf Japanisch); Yoshinobu Higurashi, International Relations of the Tokyo Trial. Power and Norms in International Politics, Tokyo 2002 (auf Japanisch); Tagashi Yoshida, The Making of the „Rape of Nanking“. History and Memory in Japan, China and the United States, Oxford 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Weitere Informationen
The Tokyo War Crimes Trial
Sprache der Publikation
War Crimes Tribunals and Transitional Justice
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension