J. Obertreis u.a. (Hrsg.): Erinnerungen nach der Wende

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Titel
Erinnerungen nach der Wende / Remembering after the Fall of Communism. Oral History und (post)sozialistische Gesellschaften / Oral History and (Post-)Socialist Societies


Herausgeber
Obertreis, Julia; Stephan, Anke
Erschienen
Anzahl Seiten
401 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Lahusen, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Tagungsband „Erinnerungen nach der Wende. Oral History und (post)sozialistische Gesellschaften“ ist das Ergebnis einer gleichnamigen Konferenz, die im November 2005 in Wiesneck bei Freiburg stattfand. Julia Obertreis und Anke Stephan hatten gemeinsam mit Dietmar Neutatz vor allem Nachwuchswissenschaftler/innen eingeladen, die sich allesamt auf qualitative Interviews als Hauptquelle ihrer Forschungen stützen; gleich welcher historischen Periode das Augenmerk gilt, sind die Beiträge dadurch immer in der Gegenwart der postsozialistischen Länder verankert.

Die Tagungssektionen spiegeln sich in den fünf Kapitel des Bandes wider, die jeweils mit den Sektionskommentaren beginnen.1 Insgesamt erwarten den Leser/die Leserin 24 Beiträge, von denen 15 auf Englisch verfasst sind. Eingeleitet wird der Band mit zwei Einführungen in die Großthemen der Konferenz. Zu Beginn, auf Deutsch und auf Englisch, schreiben die Herausgeberinnen über „Erinnerung, Identität und ‚Fakten’“. Sie liefern eine kompakte, klare und gut strukturierte Einführung in die Fragen der Oral History, die „zugleich eine Methode, eine Quellenart und ein interdisziplinäres Forschungsfeld“ ist (S. 9) und sich auch sehr dafür anbietet, „das Innenleben sozialistischer Gesellschaften und allgemeiner von Diktaturen zu erforschen“ (S. 16). Dieser gelungenen tour de force durch Genese, Standort und Zukunft der Oral History folgt Alexander von Plato mit Überlegungen zu „Oral History nach politischen Systembrüchen“. Der Frage, wie man frühere Haltungen und Orientierungen, Neuorientierungen und ihre Gründe sowie die damit verbundenen biographischen Brüche erforschen kann, nähert er sich mit einigen grundsätzlichen Ausführungen. So hebt er beispielsweise noch einmal Ernst Blochs These von der „Ungleichzeitigkeit“ hervor, die besagt, dass die Systembrüche meist vorangehen und die lebensgeschichtlichen Brüche nachfolgen.2 Dies veranschaulicht von Plato ausführlich und überzeugend anhand der Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland, um in einem Ausblick starkes Gewicht auf die benötigte Vergleichsdimension bei erfahrungsgeschichtlichen Forschungen zu legen – sei es der Vergleich zwischen Generationen, Geschlechtern, Milieus, Berufsgruppen, Religionsangehörigen oder Ländern (S. 81). Beide Aufsätze erweisen sich, gerade in der Kombination, als sehr profunde Einführungen, so dass man für die empirischen Beiträge gut gerüstet ist. Diese können im Rahmen einer Rezension nur teilweise skizziert werden, verdienen aber allesamt eine ausführlichere Betrachtung und Lektüre.

Das erste Kapitel des Bandes ist mit „Systemwechsel, Identitätskonstruktionen und aktuelle Debatten um die Vergangenheit“ überschrieben; es widmet sich den Auswirkungen von Revolutionen und Systemwechseln auf das kollektive und individuelle Gedächtnis. So untersucht James Mark unter dem Titel „Adjusting Biographies“ die wechselnden Darstellungen und Interpretationen der Familiengeschichten ehemaliger Mitglieder der Kommunistischen Parteien in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Dabei zeigt er, auf welch unterschiedliche Art und Weise Lebenswenden narrativ Sinn verliehen wird. Hier sei nur auf das Beispiel des antifaschistischen Kampfes als Legitimation hingewiesen: „[…] the post-Communist period has seen the revival of early Communist autobiographies; anti-fascist stories no longer threaten to legitimise a hated regime, but are now perceived as a bulwark against the post-1989 conservative totalitarian interpretations of Communism, which demonise party members and marginalise the memory of Fascism.“ (S. 120)

Auch Kobi Kabalek wandelt auf den „Spuren vergangener Geschichte(n)“, wenn er mit Carlo Ginzburgs Ansatz in Interviews mit jungen Deutschen nach den Erinnerungen an die NS-Zeit fragt. Er sucht nach den Quellen, den „Spuren“, die Einfluss auf das individuelle Gedächtnis haben und als Referenzpunkte für bestimmtes Wissen genannt werden, zum Beispiel der Film „Schindlers Liste“. Die unmittelbare Umgebung seiner Gesprächspartner sieht er als „Landschaft von Narrativen“ (S. 132), die es uns ermöglichen, mehr über Erinnerungsbeziehungen zu erfahren – die letztendlich Geschichtswahrnehmung ausmachen.

Kommentiert werden diese Beiträge von Ulrike Jureit, die vor allem auf theoretische und methodische Aspekte eingeht. Besonders erhellend sind ihre Ausführungen zum Zusammenhang von biographischer Erinnerung und Identitätsprozessen; wieder einmal wird deutlich, dass man ohne Beschäftigung mit dem Identitätsbegriff nur schwerlich über biographische Erinnerung als Sinnbildung sprechen kann.

Das zweite Großkapitel verhandelt „Das Erbe der Emanzipation ‚von oben’: Weibliche Erfahrungen und Geschlechterrollen im Sozialismus und Postsozialismus“. „How can Women’s Stories about Beauty and Maternity Help us to Study Soviet Social History of the 1930s-1960s?“, fragt Yulia Gradskova. Sie betrachtet Erzählungen über Schönheit und Mutterschaft, die unmittelbar an Slavenka Draculićs Beobachtungen im Essay „Make-up and other crucial questions“ erinnern.3 So sehen wir, dass „discursive models with respect to beauty and maternity were frequently not just internalized […] by women, but were ‚adapted’ and re-appropriated through a mixing of different discourses […]“ (S. 200).

Die Ergebnisse dieser Sektion führen im Kommentar von Natali Stegmann folgerichtig zur Frage, ob wir eigentlich von einem Frauengedächtnis, von besonderen weiblichen Kommunikationsräumen sprechen können. Dabei macht Stegmann vor allem darauf aufmerksam, dass das Konzept der Emanzipation sehr ambivalent ist und oft in die Irre führen kann – die Untersuchungen, die sie zur Beantwortung ihrer Frage anregt, sollten sich vor allem mit „gaps and intersections between socialist agency and gendered everyday“ beschäftigen (S. 157).

Der dritte Themenblock trägt die Überschrift „Konkurrierende Geschichtsbilder: öffentliches und privates Erinnern, regionale und nationale Identitäten“. Er beinhaltet unter anderem drei Beiträge, die sich dem Verhältnis von offiziellen Diskursen zu spezifischen Gruppen-Identitäten in der sozialistischen Vergangenheit widmen: Silvija Kavčič arbeitet das kollektive Erinnerungsmuster weiblicher KZ-Überlebender in Slowenien heraus, das „als eine Reaktion auf das Misstrauen und die Verdächtigungen [entstand], denen sie in der jugoslawischen Nachkriegsgesellschaft ausgesetzt waren“ (S. 232). Marianne Kamp analysiert die sowjetische Einflussnahme bzw. deren Grenzen auf Erinnerungen von Bauern an die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den 1920er- und 1930er-Jahren im heutigen Usbekistan, und auch Eva Maeder kann das Fortleben traditioneller Vorstellungen in sozialistischer Zeit sichtbar machen. Sie führte Gespräche mit einer „Altgläubigen“ aus Ostsibirien, die trotz Repression an ihrer Religion festhielt, wenn auch unter sowjetischen Bedingungen – immer wieder galt es für sie abzuwägen, welche „Sünde“ in bestimmten Situationen die größere sein könnte.

Das vorletzte Kapitel wendet sich „Opfer[n] und Täter[n]“ zu. Untersucht werden, grob gesagt, Repressionserfahrungen und deren Aufarbeitung. So thematisiert Patricie Hanzlová den komplexen gesellschaftlichen Hintergrund der Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tschechoslowakei geblieben sind. Der Schlüsselbegriff ihres Beitrags ist das „stigma management“: Sie fasst das Deutschsein ihrer Interviewpartner als stigmatisierte Form der sozialen Identität auf, das ein solches Management erfordere.

Der letzte Kommentar des Bandes stammt von Dorothee Wierling, die im Abschnitt „Alltag im Sozialismus – Spielräume in der Diktatur“ beispielsweise die „dominanten scripts“ beleuchtet, vor allem aber noch einmal die allgemeinere Frage aufwirft, worin das Potenzial der Oral History, deren Grenzen man zugleich immer wieder wahrnimmt, für die Erforschung des sozialistischen und postsozialistischen Alltags bestehe. Um diese Grenzen zu verschieben, plädiert Wierling dafür, mehr Interviews zu führen, ohne dabei gedankenlos Massendaten zu produzieren, die oftmals auf ewig einer gründlichen Auswertung harren. Sie favorisiert mehr Interviews mit „Menschen beiderlei Geschlechts aus unterschiedlichsten sozialen Schichten und Alterskohorten mit verschiedenen politischen Affiliationen und Schicksalen […], um die ganze Vielfältigkeit der Erfahrungen auszuloten, die staatssozialistische Systeme bereit halten konnten“ (S. 327).

Der Tagungsband hat es in jedem Fall bereits geschafft, eine beachtliche Bandbreite (post)sozialistischer Erfahrungen und Erinnerungen zu präsentieren. Von Plato spricht in seinem einführenden Aufsatz von den nötigen Voraussetzungen, um in Europa unterschiedliche nationale Erinnerungskulturen zu untersuchen, und nennt hierfür zu Recht „die Herausarbeitung eines wissenschaftlichen Ethos in den Traditionslinien der europäischen Wissenschaftsgeschichte“ (S. 81). Ergebnisbände von internationalen Konferenzen wie der vorliegende können dazu beitragen.

Anmerkungen:
1 Die Entscheidung, die Kommentare vor die Beiträge zu stellen, ist etwas ungeschickt, da sie sich jeweils auf Texte beziehen, die man bei chronologischer Lektüre noch vor sich hat. In dieser Rezension wird demnach nicht ganz chronologisch vorgegangen, sondern die Kommentare werden jeweils zuletzt erwähnt.
2 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935.
3 Slavenka Draculić, Make-up and other crucial questions, in: dies., How we survived communism & even laughed, New York 1993, S. 21-32.