M. Aust u.a. (Hrsg.): Verflochtene Erinnerungen

Cover
Titel
Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Aust, Martin; Ruchniewicz, Krzysztof; Troebst, Stefan
Erschienen
Köln/Weimar/Wien 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VI, 285 S.
Preis
€ 39.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Breitsprecher, Internationales Forum der Geschichtswerkstatt Europa, Universität Leipzig

In der Geschichtswissenschaft ist die Beschäftigung mit Erinnerung, Geschichtspolitik und kulturellen Gedächtnissen keine Neuigkeit mehr. Jedoch bewegen sich die meisten Veröffentlichungen in einem nationalen Kontext oder gehen auf bilaterale Länderbeziehungen ein. Der Sammelband „Verflochtene Erinnerungen“ von Martin Aust, Krzysztof Ruchniewicz und Stefan Troebst stellt hier eine konsequente Erweiterung des Untersuchungsfeldes Gedächtnisgeschichte um eine multilaterale Perspektive dar. Das Buch ist das Ergebnis einer Konferenz zum Thema Gedächtnisgeschichte, die im Mai 2006 in Wrocław stattfand, bei der die meisten Ideen für die Texte entstanden.

Der Band widmet sich der Gedächtnisgeschichte Polens und will zum einen ein Zwischenfazit der Forschungen ziehen und zum anderen die weiteren Möglichkeiten in diesem Untersuchungsfeld sondieren. Die Beschäftigung mit dem Thema wird durch Vergleiche zu seinen geographischen Nachbarn betrachtet. Die Autoren fragen eben nicht nach den Verflechtungen der Erinnerungen von bilateralen Länderbeziehungen, sondern zielen meist auf Polen und jeweils zwei weitere Kulturen ab. Die jüdische Erinnerung wird hierbei gleichrangig mit russländischen, ukrainischen, litauischen und weißrussischen Erinnerungskulturen behandelt. Der Sammelband setzt seinen Fokus bei der Betrachtung auf den Stand der Gedächtnisgeschichte auf die methodische Umsetzung der Erinnerungen der Staaten, Nationen, Ethnien und Regionen.

Polen wurde als Ausgangspunkt aller Beiträge gewählt, weil die Geschichte Polens geprägt ist von Teilungen und multilateralen Bündnissen. Dies hat Spuren im kulturellen nationalen Gedächtnis hinterlassen und dementsprechend zeigt der Vergleich mit anderen Gedächtnissen einige Gegensätze der Erinnerungen. Dies verdeutlicht zum Beispiel der sehr anschauliche Aufsatz von Peter Oliver Loew (Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt) über die deutschen und polnischen Vertriebenen in Danzig.

Die allen Texten zugrunde liegende Leitfrage ist, so Martin Aust in seinen Einleitenden Ausführungen, „ob sich eine multilaterale Verflechtungsgeschichte von Geschichtskulturen jenseits von bilateralen Konstellationen schreiben läßt“ (S. 9). Ist die Erinnerung an Ereignisse verschiedener Gedächtnisse miteinander verbunden oder laufen diese räumlich und zeitlich parallel? Nehmen sich benachbarte Gedächtnisse gegenseitig wahr oder besteht eine Wechselwirkung und Verflechtung bzw. findet dadurch sogar ein Wandel in den Asymmetrien der Gedächtnisse statt?

Zu Beginn unterzieht Rudolf Jaworski (Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Kiel) die geschichtswissenschaftliche Erforschung von Gedächtnis und Erinnerung einer kritischen Reflektion. Die Erinnerungsforschung, die in der Kulturwissenschaft entstanden ist, fände zunehmend in der historischen Forschung Anhänger und Anwendung. Jaworski verlangt methodische Charakteristika, damit die Erinnerungsforschung nicht nur eine unreflektierte Modeerscheinung bleibt und einigen Kritikern ihre berechtigten Zweifel genommen werden. Er fordert eine klare begriffliche Terminologie und eine Klärung des Verhältnisses zwischen Geschichte und Gedächtnis. Zudem weist er auf den begrenzten Nutzen der Gedächtnisforschung hin, da Historiker die genauen historischen Vorgänge nicht rekonstruieren können, oftmals Erinnerung zum Event erhoben wird und die Gefahr des politischen Missbrauchs besteht. Auch in der Konstruktion eines europäischen Gedächtnisses sieht er noch keine Auflösung verengter und abgeschotteter nationaler Erinnerungskulturen, die er als sehr problematisch versteht. Dennoch sieht Jaworski die Chance, dass Gedächtnis zu einem Maßstab für aktuelle Gegenwartsgestaltung und Gedächtnisforschung durchaus eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft werden kann, wenn diese bereit ist eine Vielfalt von Methoden und Beobachtungsfeldern auszuhalten.

Die zwölf folgenden Artikel des Sammelbandes sind in vier Themenfelder eingeordnet: 1. Stadtgeschichte; 2. militärische und politische Führerfiguren, Schlachten und Bündnisse; 3. jüdische Erinnerungsdiskurse und der Zweite Weltkrieg sowie 4. Flucht und Vertreibung. Wobei eine klare Einordnung der Beiträge sich als schwierig erweist, aber dies kann schon als ein Indiz für die Verflechtung von Erinnerungsthemen gelesen werden. Die Themenauswahl wird durch die Autoren leider nicht erklärt und erscheint so etwas willkürlich.

An dieser Stelle kann nicht auf alle Beiträge eingegangen werden, weshalb aus jedem Themenfeld nur einer näher besprochen wird. Die Auswahl findet nicht nach qualitativen Merkmalen statt, sondern nach persönlichem Interesse der Autorin.

An dem Beitrag über das Breslauer Racławice-Panorama von Marek Zybura (Professor für Germanistik am Willy Brandt Zentrum in Wrocław) wird sehr deutlich, wie lange es dauert und mit wie vielen Hindernissen es verbunden sein kann, ein nationales Geschichtsdenkmal zu manifestieren. Gleichzeitig hätten sich an diesem Ort über die Zeit erstaunlich viele (veränderte) Perspektiven versammelt, die heute am Panorama selber gar nicht mehr erfahrbar sind. Zybura gelingt es, in der Darstellung der geschichtlichen Ereignisse der Schlacht auch die politischen Hintergründe in Europa zu beschreiben. Bereits dadurch macht er die multilaterale Sicht auf die Schlacht klar. Mit der Entstehung eines Erinnerungsortes treten die geschichtlichen Fakten in den Hintergrund und Zybura beschreibt die unterschiedlichen politischen Interessen der geschichtspolitischen Akteure. Am interessantesten ist jedoch der Blick auf die heutige Bedeutung des Panoramas als nationales Denkmal für den polnischen Freiheitskampf, in dem heute wieder eine europäische Dimension gesucht wird, die Schlacht zum Beginn aller nationalen Freiheitskämpfe stilisiert wird.

Edmund Dmitrów (Professor für Geschichte an der Universität Białystok) widmet sich in seinem Beitrag den verschiedenen nationalen (Nicht)Erinnerungen an den Warschauer Aufstand. Mit diesem geschichtlichen Ereignis hat Dmitrów ein Paradebeispiel für eine multilaterale Verflechtungsgeschichte gefunden. Der Aufstand ist für die polnische Geschichte zu einem der wichtigsten nationalen Bezugspunkte geworden. Besonders interessant ist die Beschreibung und Funktion der polnischen Mythenbildung für die Bildung einer positiven nationalen Identität. Er kann nachzeichnen, dass es nicht nur einen Mythos gab, sondern dass es sich auch hier um einen Prozess handelte, in dem der Mythos von jeder Generation anders gestrickt wird.

Neben dem Wachhalten des Warschauer Aufstands in der polnischen Erzählung, beschreibt Dmitów sehr gut das Schweigen in Deutschland und der Sowjetunion bzw. die Überlagerung durch eigene geschichtspolitische Prämissen. Erst durch eine veränderte politische Beziehung dieser drei Länder untereinander konnte sich ein offizielles Gedächtnis an den Warschauer Aufstand etablieren. Im Vordergrund steht aber nicht die Erinnerung an das Ereignis an sich oder gar an seine Opfer, sondern der instrumentalisierende Gehalt der Erinnerung. Wie wichtig die Gedächtnisgeschichte für die aktuelle internationale Politik zwischen Polen und Deutschland sowie Polen und der Russländischen Föderation ist, wird an der teilweise inszenierten öffentlichen Erinnerung deutlich.

Krzysztof Ruchniewicz (Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wrocław) widmet sich einem Aspekt der jüdischen Erinnerung, der in Polen lange keine Wahrnehmung fand: die Beteiligung der polnischen Bevölkerung am Holocaust. Erst nach 1989 kam es vereinzelt zur Thematisierung von polnischer Schuld und Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung. Dies führte zu enormen Spannungen im polnisch-jüdischen Verhältnis, weil die polnische Gesellschaft sich vorrangig als Opfer wahrgenommen hat. Ruchniewicz geht im Speziellen auf die Forschungen des Historikers Jan Tomasz Gross ein, der im Frühjahr 2000 eine Studie über die Ermordung der jüdischen Bewohner in Jedwabne im Juli 1941 veröffentlicht hat. Diese Forschung löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus und zeigt eine anfängliche Unfähigkeit der polnischen Gesellschaft mit diesem Thema umzugehen. Mit der Zeit änderte sich aber der Umgang mit der polnischen Mittäterschaft und im erinnerungspolitischen Diskurs wurden auch Stimmen laut, die um Vergebung baten. An der Debatte wird gut beschrieben, wie zwei kulturelle Gedächtnisse völlig andere Prämissen setzen können, aber dennoch gezwungen sind, diese auszufechten. In diesem Beitrag wird am deutlichsten, wie die Verflechtung von Erinnerung in einem nationalen Rahmen aussehen kann. Leider fehlt in dem Beitrag die multinationale Sicht. Die Reaktion der deutschen Gesellschaft auf das Verbrechen in Jedwabne und die polnische Debatte über diese wäre sicherlich eine gute Ergänzung gewesen.

Die Beiträge des Bandes beschreiben sehr anschaulich und detailreich an den einzelnen historischen Beispielen wie geschichtspolitische Diskurse auch in einem multilateralen Rahmen funktionieren, bzw. sich gegenseitig befruchten und weiterentwickeln. Gerade das Beispiel Polen ist mit seiner besonders konfliktreichen Geschichte gut gewählt. Durch den geringen zeitlichen Abstand des Regimewechsels in Polen ist die Identitätsschaffung noch ganz frisch und die Deutung vieler historischer Ereignisse noch nicht abgeschlossen. So kann die Funktionsweise von Erinnerung und Gedächtnis sehr gut beobachtet werden und die Aktualität von Geschichte wird mehr als plastisch.

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