Titel
Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten


Autor(en)
Winker, Gabriele; Degele, Nina
Anzahl Seiten
166 S.
Preis
€ 13,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Stieglitz, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Ein neues buzzword macht die Runde, es taucht immer öfter auf in Tagungsankündigungen und Aufsatztiteln, und wird inzwischen sogar in den Haupt- und Oberseminaren des bekanntlich zumeist etwas »langsameren« Fachs Geschichte diskutiert – Intersektionalität. Es ist noch gar nicht lange her, da war der Begriff allenfalls Expert/innen aus der Geschlechterforschung bekannt, inzwischen können die Fragen nach theoretischer, methodischer und empirischer Bedeutung von intersektionalen Analysen zu den augenblicklichen Kerndebatten in den Sozial- und Kulturwissenschaften gezählt werden. Sogar von einem Paradigmenwechsel war mitunter die Rede, was ein breit rezipierter Beitrag von Gudrun-Axeli Knapp erörterte. 1 Schon aus diesem Grund ist es zu begrüßen, dass nun mit dem Band von Gabriele Winker und Nina Degele eine grundlegende, umfassende, klar strukturierte und gut lesbare Einführung in den Begriff vorliegt, verbunden mit einem präzise dargelegten Vorschlag zu seiner methodischen Umsetzung in sozialwissenschaftlich-empirischen Studien. Doch dieser konkrete Entwurf als Fluchtpunkt ihrer Argumentation macht das Buch der beiden Autorinnen aus kulturwissenschaftlicher Sicht insgesamt und aus kultur- und geschlechterhistorischer Perspektive im Besonderen auch problematisch.

Davon später mehr, zunächst sei hier kurz ausgeführt, worum es geht, wenn das Stichwort der Intersektionalität aufgerufen wird. Der Begriff stammt aus der geschlechtersoziologischen Ungleichheitsforschung und insistiert darauf, Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse nicht allein auf eine Kategorie, hier das Geschlecht, zu reduzieren. Diese Forderung ist zunächst einmal nicht neu, sondern seit sehr langer Zeit Bestandteil feministischer Theoriebildung. Anders aber als zum Beispiel in der Triple Oppression Theory setzt die Intersektionalitätsanalyse nicht auf die bloße Addition mehrerer Unterdrückungsformen, vielmehr „betonen die ProtagonistInnen des Konzepts, dass die Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich gegenseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können.“ (S. 10) Die Verwendung des englischen intersection (= Kreuzung, Überkreuzung, Überlagerung) wird meist auf die US-Juristin Kimberlé Crenshaw zurückgeführt, die sich Ende der 1980er-Jahre zur Beschreibung der doppelten Diskriminierung afroamerikanischer Frauen des Bildes der Verkehrskreuzung bedient hatte, auf der Rassismus und Sexismus für die Betroffenen besonders hart aufeinander träfen.2 Seitdem ist einerseits die Forderung danach, die wechselseitige Bedingt- und aufeinander Bezogenheit von Geschlecht, »Rasse«, Klasse sowie weiteren Strukturkategorien nicht aus dem Blick zu verlieren, zum Credo der interdisziplinären Geschlechterforschung geworden. Andererseits haben die Diskussionen darüber, welche und wie viele Kategorien denn in einer solcher Untersuchung auf welche Weise miteinander zu verbinden seien, beständig angehalten und keineswegs zu einem Konsens geführt. Sollen sexuelle Orientierung, Religion, regionale Herkunft und alle sonstigen denkbaren Achsen mit berücksichtigt werde, und wenn ja, wie lässt sich ihre komplexe Verschlungenheit untereinander fassen? Es sieht so aus, als ob zwar über die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive Einigkeit besteht, ihre Umsetzung in tatsächlichen Studien aber bisher kaum verwirklicht ist. Genau an diesem Dilemma setzen Winker und Degele an, wenn sie das Ziel ihres Buchs benennen: „Wir wollen zeigen, wie die Verwobenheit von Ungleichheitskategorien auf verschiedenen Ebenen theoretisch zu fassen und im empirischen Forschungskontext zu analysieren ist.“ (S. 15)

Zu diesem Zweck ist das Buch in drei Abschnitte gegliedert: In einem ersten Teil stecken Winker und Degele ihren Theorierahmen ab. Darin diskutieren sie die quantitative wie qualitative Auswahl der in Frage kommenden Kategorien und betonen, wie sehr eine Antwort darauf an den je spezifischen Untersuchungsgegenstand gekoppelt sei. Sie plädieren dabei einerseits für eine grundsätzliche Offenheit der Kategorienanzahl, machen aber auch eigene Positionen deutlich: So figuriert bei ihnen der Körper als eigenständige Strukturkategorie, um „die körperliche Leistungsfähigkeit als wichtige Grundvoraussetzung für das individuelle Reproduktionshandeln und den Verkauf der Arbeitskraft berücksichtigen zu können.“ (S. 141f.) Ferner plädieren sie dafür, die Kategorien Geschlecht und Sexualität aneinander zu koppeln. Darüber hinaus gehen die Autorinnen in diesem Teil auch das Problem an, wie die Überschneidungen zwischen diesen Kategorien zu konzeptionalisieren sind. Sie präferieren dafür einen Mehrebenenansatz, der sowohl gesellschaftliche Sozialstrukturen, Prozesse der Identitätsbildung und die Repräsentationsebene kultureller Symbole umfasst.

Im zweiten großen Abschnitt des Buchs erläutern Winker und Degele schrittweise ihr methodisches Vorgehen. Dabei folgen sie einem an Pierre Bourdieu angelehnten praxeologischen Ansatz, der soziale Praktiken an den Anfang einer jeden intersektionalen Analyse stellt. Als Materialgrundlage favorisieren die beiden Interviews, ohne andere Quellenformen grundsätzlich auszuschließen. Davon ausgehend entsteht ein konkreter, acht Schritte umfassender »Werkzeugkasten«, der vom Beschreiben der Befunde über die Identifizierung und das Clustern von Bezügen auf eine Analyse der Wechselwirkungen der verschiedenen Kategorien auf den unterschiedlichen Ebenen führt. Zum Abschluss veranschaulicht das Buch den Mehrebenenansatz der Autorinnen ausführlich am Beispiel der Erwerbslosigkeit. Die Leser/innen werden entlang der zuvor entwickelten acht Schritte durch ein Sample von 13 narrativen Interviews geführt, in denen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen über ihre alltäglichen Strategien berichten, mit denen sie ihrer Erwerbslosigkeit begegnen.

Die Argumentation der beiden Autorinnen ist wohl begründet und wird die soziologische Genderforschung ohne Frage stimulieren. Doch ob ihre generalisierende Methode zu einer interdisziplinären Öffnung des Intersektionalitätsansatzes beitragen kann, scheint zweifelhaft. Zu Recht beklagen die Verfasserinnen die oft allzu starren Disziplingrenzen und machen an verschiedenen Stellen des Buchs Angebote zu ihrer Überschreitung, gerade in Richtung der Kulturwissenschaften. Doch das bleibt unbefriedigend, zumal aus Sicht einer kulturhistorisch argumentierenden Geschlechtergeschichte, die selbst auf eine lang zurückreichende Diskussion um die vielfache und komplexe Relationalität und Interdependenz von Gender zurückblicken kann. Bereits seit den 1970er-Jahren haben Historikerinnen wie Gerda Lerner, Gisela Bock und andere grundsätzlich über das Beziehungsgeflecht zwischen Sexismen, Rassismen und Klassismen nachgedacht. In ihrem Grundsatzaufsatz über Gender als nützliche Kategorie der Geschichtswissenschaft legte Joan W. Scott 1986 nicht zuletzt eine Methode vor, wie Geschlecht, »Rasse«, Klasse, Sexualität und andere Kategorien zusammen historisch analysiert werden können.3 Seitdem haben die internationalen Geschlechter-, Körper- und Sexualitätengeschichten zahlreiche Arbeiten vorgelegt, die einen intersektional zu nennenden Anspruch zumindest anstreben. Solche Forschung kann zeigen, wie Intersektionalität historisch kontingent auftrat, wie und warum sich Achsen der Ungleichheit verschoben und verändert haben und was das für die jeweils betroffenen Menschen bedeutete. Dafür ist sie auf unterschiedlichstes (und nur fragmentarisch überliefertes) Quellenmaterial angewiesen, das sich nur in den wenigsten Fällen nach einem Modell »narratives Interview« wird lesen lassen können, zumal wenn es um vormoderne Epochen oder nicht-»westliche« Regionen geht. Auch stellen sich hier Fragen von Textlichkeit, Diskursivität und Grenzen der Repräsentation anders und dringender. Aus den anti-kategorialen Queer Theories stammen Positionen, welche die Debatte um Intersektionalität nicht nur sinnvoll ergänzen, sondern gerade auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive produktiv machen. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Kategorien selbst als historisch und von Macht erfüllt dekonstruieren. 4

Die methodisch-programmatische Arbeit von Gabriele Winker und Nina Degele wird diese Diskussion vorantreiben und hoffentlich das befördern, was die beiden an einer Stelle in ihrem Resümee „intersektionales Denken“ nennen (S. 145). Es gilt, die Arten und Weisen der Verschränktheit von Ungleichheitskategorien sowohl in wissenschaftlichen wie gesellschaftspolitischen Projekten aktiv offen zu legen und zu analysieren. Interdisziplinäre Vielstimmigkeit sollte dabei aber nicht aufgehoben, sondern im Dialog nutzbar gemacht werden.

Anmerkungen:
1 Gudrun-Axeli Knapp, ’Intersectionality’ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ’Race, Class, Gender’, in: Feministische Studien 23, 1 (2005) S. 68-81.
2 Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, in: The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139-167.
3 Joan W. Scott, Gender. A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91, 5 (1986), S. 1053-1075. Für eine ausführliche Schilderung dieser geschlechterhistorischen Debatte siehe Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten. Frankfurt am Main 2008, S. 27ff.
4 Vgl. Kathrin Englert u.a., Einleitung, in: AG Queer Studies (Hrsg.), Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen, Hamburg 2009, S. 14ff. Siehe auch Gabriele Dietze / Elahe Haschemi Yekani / Beatrice Michaelis, ’Checks and Balances’. Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory, in: Katharina Walgenbach u.a. (Hrsg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007, S. 107-139.

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