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Titel
Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa


Autor(en)
Vasold, Manfred
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Sylvelyn Hähner-Rombach, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart

Meldungen über die Ausbreitung von SARS, Hühner- und Schweinegrippe halten auch das Interesse an (verheerenden) Seuchen in der Geschichte wach oder entfachen es neu. Universitätsseminare, aber auch Publikationen zu Infektionskrankheiten und ihre Geschichte stoßen fast schon zuverlässig auf Interesse, das durch eine zunehmende Berichterstattung über die angeblich drohenden epidemischen Ausmaße der jeweils thematisierten Krankheit verstärkt wird.

Manfred Vasold hat eine Auswahl der bekanntesten Seuchen in der Geschichte getroffen und diese durch zwei weitere thematische Kapitel ergänzt. Sein Werk richtet sich eher an die interessierte Öffentlichkeit als an ein Fachpublikum und versteht sich als „eine Ergänzung zu herkömmlichen Geschichtsbüchern“ (S. 11). Damit versucht er, die Bedeutung „anonymer Kräfte der Natur“ (S. 11), zu denen die Seuchen gezählt werden, für die Geschichtswissenschaft ins Bewusstsein zu rufen. Für die Medizingeschichte ist dies erfreulich, auch wenn Vasold seinen Beitrag für die Geschichtswissenschaft nur mehr oder weniger stark contributiv versteht. Der Untersuchungszeitraum reicht in die Zeit des späten Mittelalters hinein und geht bis in die Zeitgeschichte, räumlich betreffen die Darstellungen neben den europäischen Ländern auch Indien, Asien und Afrika.

Im Zuge einer allgemeinverständlichen Darstellung hat Vasold jedem Kapitel bzw. jeder Krankheit eine Beschreibung der Symptome und des Erregers vorangestellt, bevor er sie anhand eines speziellen Fallbeispiels in der Geschichte näher ausführt. Auch hat er die Fußnoten an das Ende jedes Kapitels gestellt, um den Lesefluss nicht zu stören. Die Auswahl und der Schwerpunkt der jeweiligen Fallbeispiele sind bemerkenswert: Mal stehen mehr die Bedingungen und Wege der Ausbreitung der Krankheit (Postkutsche – Eisenbahn) im Zentrum, mal Mutmaßungen über die Ursachen der Infektion und die Entdeckung des Erregers, mal Reaktionen auf die Bedrohung, mal die Quellenprobleme bei der Aufarbeitung der Geschichte eines Seuchenzuges, mal prophylaktische (Impfung) und präventive Maßnahmen. Dabei hat er entgegen der Einschränkung des Untertitels nicht nur den europäischen Raum im Auge. Insgesamt behandelt er sieben Infektionskrankheiten in eigenen Kapiteln (Pest, Fleckfieber, Cholera, Lepra, Pocken, Geschlechtskrankheiten und Grippe). Dazu kommt ein Kapitel über die aktuellen „großen Killer“, worunter Tuberkulose, Malaria und Aids fallen. Die Tuberkulose und die Malaria, die heute vor allem in der armen sogenannten „Dritten Welt“ massenhaft grassieren, werden hier nur in ihrer Entwicklung in den Grenzen Deutschlands respektive Europas sehr kurz skizziert, bei Aids geht der Autor etwas genauer auf die weltweite Verbreitung ein, insgesamt gehört dieses Kapitel nicht zu den starken des Bandes.

Besonders gelungen sind dagegen die Kapitel über die Pocken und die Cholera, weil hier detaillierter anhand von Städte- und Ländervergleichen – bei den Pocken sind es die Beispiele Duisburg und Nürnberg – gezeigt wird, wie unterschiedlich die Empfänglichkeit und Sterblichkeit war. Dass in England und Wales trotz der dortigen Ablehnung des Impfzwangs die Pocken ebenfalls stark zurückgingen, zeigt wiederum, dass diese Art der Prävention nicht allein ausschlaggebend für die Ausbreitung einer Krankheit ist. Im Kapitel über die Cholera erfährt man, wie ökonomische Gründe den Umgang mit einer (drohenden) Seuche beeinflussen konnten, als beispielsweise München 1836 ein Auftreten der Cholera in Abrede stellte, um das Oktoberfest nicht zu gefährden. Im Kapitel über Lepra zeigt sich, dass auch innerhalb Europas die Unterschiede im Auftreten dieser Krankheit beträchtlich sind. Während der Aussatz in Mitteleuropa vor allem im Mittelalter die Menschen stark beunruhigte, hielt sich diese Krankheit an den Rändern Europas wesentlich länger. So war sie beispielsweise in Norwegen auch im 19. Jahrhundert noch immer verbreitet.

Das Kapitel über Säuglingssterblichkeit und Kinderkrankheiten, das über eine reine Seuchengeschichte hinausgeht, gehört zu den Kapiteln, die das Buch abrunden. Denn hier wird die noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr hohe Säuglingssterblichkeit nicht nur mit Infektionskrankheiten (Diphtherie) in Zusammenhang gebracht, sondern auch mit soziokulturellen Bedingungen, wie Heiratsverboten, die die Rate der unehelichen Kinder ansteigen ließen, mit sozialen (Lebensbedingungen der werdenden Mütter) und medizinischen (Kindbettfieber; Etablierung einer eigenen Kinderheilkunde) Zuständen, mit den hygienischen Zuständen der Städte (Kanalisation) und der Einrichtung von Fürsorgestellen. Auch hier zeigt das Fallbeispiel von Nürnberg sehr anschaulich, warum die Säuglingssterblichkeit in manchen Regionen nur sehr schleppend zurückging.

Auch die Aufnahme eines weiteren Kapitels über die zumindest in der westlichen Welt „gewonnenen Jahre“ macht Sinn. Diese kamen vor allem durch die Zurückdrängung der Seuchen, weitreichende hygienische Maßnahmen (Stadtsanierung), die Fortschritte der Bakteriologie und die Entwicklung der Antibiotika zustande.

Auffallend ist die Vielfalt der Quellen, die Vasold heranzieht: Erinnerungen, Tagebücher, Statistiken, Zeitungsartikel, Artikel aus Fachzeitschriften, Krankheitsbeschreibungen und Berichte, Chroniken, laienmedizinische Rezepte, Grabinschriften und Bilder geben unterschiedliche zeitgenössische Blickwinkel auf das Seuchengeschehen wieder und zeigen, mit welch unterschiedlichen Quellengattungen Historiker arbeiten können.

Aus medizingeschichtlicher Sicht ist es zu bedauern, dass er der sozialen Konstruktion von Krankheit, die sich gerade auch bei den Seuchen anbietet, keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Warum es für wichtig erachtet wird, im Kapitel über die Pest sich auf das unsichere Terrain der retrospektiven Diagnostik zu begeben, kann nicht nachvollzogen werden. Auch stört man sich zuweilen an der Ausdrucksweise, wenn es wie bei der Spanischen Grippe beispielsweise heißt „Ein Offizier, kein Weichling, beklagte […]“, oder im Kapitel über Geschlechtskrankheiten von „displaced persons“ und „andere[m] menschliche[n] Strandgut der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges“ (S. 237) die Rede ist. Im Kapitel über die Pocken ist kommentarlos festgehalten, dass die Immunisierung „zunächst an Menschen, die zum Tode verurteilt waren, und an Kindern aus Waisenhäusern“ (S. 156) erprobt wurde. An manchen Stellen finden sich Spekulationen, auf die man hätte verzichten können, so zum Beispiel beim Grippekapitel die „Deutung“, dass die Spanische Grippe ein Faktor des Zusammenbruchs des Deutschen Reichs und des Königreichs Bayern gewesen sein mag (S. 271). Hier hat Vasold eine der zugegeben sehr raren deutschsprachigen Publikationen zur Geschichte dieser Krankheit übersehen, die 2006 erscheinen ist.1 Außerdem hätte man sich an einigen Stellen doch mehr Belege für seine Behauptungen gewünscht. Auch der Umgang mit Seuchen und Seuchenkranken im Nationalsozialismus hätte mehr Beachtung verdient. Diese kritischen Anmerkungen sollen jedoch nicht den Wert dieses Buches schmälern, das für interessierte Laien ein guter Einstieg in die Geschichte der Seuchen ist.

Anmerkung:
1 Wilfried Witte, Erklärungsnotstand. Die Grippe-Epidemie 1918-1920 in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung Badens, Herbolzheim 2006.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/