Cover
Titel
Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart


Autor(en)
Conze, Eckart
Erschienen
München 2009: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
1071 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Wagner, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Das Programm seiner nun als Buch erschienenen Gesamtdarstellung zur Geschichte der Bundesrepublik hat Eckart Conze schon vor vier Jahren vorgestellt. Die „Suche nach Sicherheit“, so schrieb er 2005, habe die Geschichte der westdeutschen Politik ebenso bestimmt wie das Verhältnis der Bevölkerung zu ihrem Staat; daher könne sie ein geeignetes „Narrativ für eine ‚moderne Politikgeschichte‘ der Bundesrepublik Deutschland“ bieten. Ein solches Narrativ solle konsequent vom „Impuls der Gegenwart“ ausgehen – dem Bedürfnis nach historischer Verortung jener Konstellationen, Problemlagen und Deutungsmuster, die unsere Gesellschaft derzeit prägen und bewegen.1

Das Ergebnis ist eine grundsolide Gesamtdarstellung, in der die Geschichte der Bundesrepublik bis ins Jahr 2009 grob nach der inzwischen üblich gewordenen Phaseneinteilung gegliedert erzählt wird. Vor allem aber wird diese Geschichte, der Komplexität einer modernen Gesellschaft und ihrer Entwicklung gemäß, in eine Vielzahl von Einzelthemen aufgelöst. Alle Bereiche, welche die zeithistorische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten untersucht hat – von der Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus über die Entstehung der Konsumgesellschaft, den Wertewandel der 1960er-Jahre, die ökonomischen Krisen- und sozialen Transformationsprozesse ab den 1970er-Jahren bis zur weltpolitischen Neuorientierung der „Berliner Republik“ –, werden auf hohem Niveau referiert. Die Geschichte der DDR bezieht Conze zwar nicht im Stil der von Christoph Kleßmann geforderten „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ ein, aber in den Kapiteln zu Wiedervereinigung und „Berliner Republik“ gelingt ihm dennoch eine überzeugende Analyse jener Erfahrungen und Erwartungen, mit denen 16 Millionen DDR-Bürger Teil der bundesdeutschen Geschichte wurden.

Als Gesamtwerk fließt der Text vor sich hin wie ein langer ruhiger Fluss mit etlichen Seitenarmen; die Konstruktion von Spannungsbögen ist des Autors Sache nicht. Dafür aber argumentiert er unaufgeregt, abgewogen und präzise. In der Strukturierung des Buches orientiert sich Conze weder eindeutig an der Chronologie (manche thematischen Blöcke führt er innerhalb weniger Seiten von den 1950er-Jahren bis zur Gegenwart) noch an analytischen Achsen (manche Themen greift er häppchenweise an verschiedenen Stellen auf). Der Autor dieser Collage erweist sich mitunter als Meister im Verfassen historiographischer Miniaturen. Wer in den nächsten Jahren Lehrveranstaltungen zur bundesdeutschen Geschichte konzipiert, sollte hier nachschlagen. Denn das, was Conze bietet, hat bislang noch keine andere Gesamtdarstellung zur Geschichte der Bundesrepublik so konsequent geleistet: Gekonnt auf das Wesentliche reduziert skizziert er jeweils die Konturen eines Themas, benennt Prozesse und die sie bedingenden Faktoren, verortet das Thema in größeren Kontexten und stellt als Impulse für weiterführende Diskussionen geeignete Deutungen in den Raum. So erörtert Conze beispielsweise auf knapp neun Seiten die Anfänge der europäischen Integration in den 1950er-Jahren aus bundesdeutscher Sicht und führt zum einen die gegenwärtig so gern diagnostizierten „Demokratiedefizite“ der EU auf die damals etablierte institutionelle Ordnung zurück. Zum anderen erläutert er vor dem Hintergrund der Anfänge des Integrationsprozesses die seine Fortentwicklung derzeit behindernde Unterschiedlichkeit der „Referenzhorizonte“ und Erfahrungen jener westeuropäischen Staaten, für die der Prozess in den 1950er-Jahren begann, und jener Staaten Osteuropas, die erst nach 1990 in ihn eintreten konnten (S. 97-106). Eine anregende Problemgeschichte des bundesdeutschen Föderalismus „kostet“ den Autor sogar nur etwas mehr als vier Seiten (S. 129-133).

Naturgemäß schwankt die Qualität der Miniaturen ein wenig. So wirken die Passagen über die Migrations- und Ausländerpolitik argumentativ lustlos und lassen auch nur eine oberflächliche Auseinandersetzung mit der einschlägigen Historiographie erkennen. Aber von sehr wenigen Beispielen wie diesem abgesehen, verzeichnet Conze solide Ereignis für Ereignis und Phänomen für Phänomen. In der Summe entsteht beim Leser das Gefühl, einen Überblick zu gewinnen, ohne das Bewusstsein für die Komplexität der einzelnen Teile zu verlieren.

Manche Bewertung, manche Formulierung, manche Kapitelüberschrift ist von anderen Historikern entlehnt. So erinnert nicht nur die Überschrift des Kapitels über die Jahre 1982 bis 1989 („Abschied vom Provisorium“, S. 579) an Andreas Wirschings Darstellung dieser Phase (wobei Conze mit dessen Leitidee einer Prägung des politischen Systems durch die Zunahme von „Vetospielern“ dann erstaunlich wenig anfängt).2 Aber das sollen Gesamtdarstellungen ja auch sein: problemorientierte Synthesen des Forschungsstandes ohne Scheu vor der Anerkennung interpretatorischer Leistungen anderer, verbunden mit eigenen Schwerpunktsetzungen.

Enttäuscht wird indes jene Erwartung, die der Verfasser selbst mit seinem Buch verbunden haben mag: In seinem Aufsatz von 2005 hatte er die Absicht formuliert, mit einem neuen „analytischen Leitbegriff“ oder gar einem „Paradigma“ namens „Sicherheit“ eine innovative Deutung der bundesdeutschen Geschichte zu ermöglichen. Von diesem hohen Anspruch ist beim Verfassen des voluminösen Textes nicht viel übrig geblieben. Conze bemüht sich redlich, an möglichst vielen Stellen das Wort „Sicherheit“ einzubauen und möglichst häufig zu konstatieren, von diesem oder jenem Punkt an sei es der bundesdeutschen Politik noch mehr als zuvor um „Sicherheit“ gegangen. Aber jenseits solcher verbalen Bezüge nutzt Conze die Kategorie der Sicherheit analytisch zu fast nichts. Sie wird nur sehr knapp und allgemein definiert, bietet nur vage Erklärungsangebote und bildet nicht die Grundlage für konsequent durchgehaltene Analyseachsen.

Als Beobachter hat Conze völlig recht: Politiker und ein Großteil der Bevölkerung bangten während der 1950er-Jahre um die äußere Sicherheit der Bundesrepublik vor der Sowjetunion. Die Umweltbewegten der 1970er- und 1980er-Jahre sahen die Sicherheit der natürlichen Lebensgrundlagen bedroht. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fürchten seit den 1990er-Jahren die von der Globalisierung ausgehende Entsicherung ihrer Arbeitsverhältnisse und die Erosion der sozialen Sicherheitssysteme. Und der internationale Terrorismus mag seit 2001 zu einer „Rückkehr der Unsicherheit“ geführt haben (S. 889). Doch aus solchen Beobachtungen entsteht noch kein konsistentes Interpretationsangebot für die Geschichte der Bundesrepublik, und Conze vermag ein solches auch nicht zu entwickeln.

Merkwürdigerweise verschenkt Conze bei manchen Themen deren beträchtliches Potenzial für seine Perspektive. So erreicht etwa die Darstellung der Auseinandersetzung von Staat und Gesellschaft mit dem Linksterrorismus der 1970er-Jahre samt der Debatten um „Innere Sicherheit“, „wehrhafte Demokratie“ und Bedrohung bürgerlicher Freiheiten durch den „Sicherheitsstaat“ kaum das Niveau der einschlägigen Forschung und liefert schon gar keine neue Interpretation. Da man aus Conzes Perspektive solche um den Begriff „Sicherheit“ zentrierten Debatten als geeignete Sonden betrachten müsste, um die Zukunftserwartungen der Bundesbürger, ihre Erwartungen an den Staat und ihr Verhältnis zu dessen Ordnung zu analysieren, wundert dieses Versäumnis. Und gerade die Genese des Politikfeldes „Innere Sicherheit“, das es in den Anfangsphasen der Bundesrepublik ja noch gar nicht gab, hätte weidlich Gelegenheit geboten, die Tauglichkeit eines „Paradigmas“ namens Sicherheit zu demonstrieren (oder auch bescheidener: zu testen). Doch hierzu weiß der Verfasser bemerkenswert wenig zu sagen.

Eckart Conze wollte zwei Ansprüchen zugleich gerecht werden. Er wollte eine gut lesbare, möglichst umfassende und verlässliche Gesamtgeschichte der Bundesrepublik schreiben. Aber er wollte demselben Text auch eine Analysekategorie zugrunde legen, sprich: die Struktur und thematische Auswahl am Begriff „Sicherheit“ ausrichten. Im Widerstreit dieser beiden Ziele hat sich Conze im Zweifelsfall stets für das erstere entschieden. Und das hat durchaus Vorteile: Wenn Studentinnen und Studenten künftig nach „dem“ Buch zur Geschichte der Bundesrepublik fragen, so kann man sie mit guten Gründen auf Conzes Werk verweisen. Es wird für lange Zeit ein exzellentes Lehrbuch zur Geschichte der Bundesrepublik sein – zu Recht, mit Sicherheit und ganz ohne neues Paradigma.

Anmerkungen:
1 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 357–380, hier S. 380 und 361.
2 Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006 (rezensiert von Reiner Marcowitz: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-047>).

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