M. Rathmann (Hrsg.): Studien zur antiken Geschichtsschreibung

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Titel
Studien zur antiken Geschichtsschreibung.


Herausgeber
Rathmann, Michael
Reihe
Antiquitas 1, 55
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 309 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Müller, Historisches Seminar, Leibniz-Universität Hannover

Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Michael Rathmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Alte Geschichte in Bonn, ist aus einem Bonner Forschungskolloquium hervorgegangen, das zu Ehren von Gerhard Wirth veranstaltet wurde, unter dessen Arbeiten viele, insbesondere zum Hellenismus, Maßstäbe gesetzt haben und Standardcharakter besitzen.1 Die Publikation vereint zwölf Beiträge zu diversen Aspekten, die mehrheitlich in der klassischen und der hellenistischen Zeit angesiedelt sind.

Klaus Rosen (S. 1–12) widmet sich dem essentiellen und vieldiskutierten Problem der Deutung von Herodots Schlusskapitel (9,122). Häufig als Herodots literarisches Vermächtnis und Schlüssel zu seiner Weltanschauung betrachtet, verbindet sich mit diesem Kapitel auch der Streitpunkt, inwieweit es sich bei den Historien um eine Ringkomposition oder eine Kompilation einzelner Vorträge handelt. Rosen, der von einem durchkomponierten Werk ausgeht, argumentiert für eine Interpretation, wie sie ähnlich etwa schon von How und Wells vertreten wurde:2 Eingebunden in seine Vorstellung von der Wechselhaftigkeit menschlichen Glücks habe Herodot unmissverständlich vor seinem unmittelbaren zeitpolitischen Hintergrund die Entwicklung der athenischen Politik kritisieren und die Athener warnen wollen (S. 10). Vertreter der These, die abschließende Rückschau, die verdeutliche, wie es zur persischen Niederlage kam, warne eher allgemein vor Übermaß 3, werden von Rosens Zuspitzung auf die Athener nicht unbedingt überzeugt sein; doch dies ist Ermessenssache. Inwieweit der Dialog eine „Erfindung“ Herodots darstellt (S. 8), bleibt allerdings zu diskutieren.4

Mit einem ebenso kritischen wie komplexen Blick auf Thukydides’ Haltung zu Sparta eröffnet Wolfgang Will (S. 13–24) der Thukydides-Forschung zukunftsweisende Perspektiven. In fundierter Weise dekonstruiert er das heute gängige Verständnis einer spartafreundlichen Tendenz der Darstellung, indem er darlegt, dass Thukydides nur auf den ersten Blick objektiv berichte und sich bei genauerer Betrachtung als dezidiert spartakritisch und teils sogar spartafeindlich erweise (S. 22). Dem Konsens in der attischen Demokratie ist die Studie von Jan Timmer (S. 25–53) gewidmet, die sich durch eine ausführliche theoretische Fundierung auszeichnet. Auf breiter Quellenbasis wird unter Betonung des „Gemeinwohls“ als Schlüsselkriterium die Frage der Legitimität im Wandel der Verfassungsstrukturen vom 5. bis zum Ende des 4. Jahrhunderts v.Chr. beleuchtet.

Ein „Highlight“ des Bandes stellt die Studie von Winfried Schmitz (S. 55–84) zur sporadischen Darstellung von Kriegsopfern in der griechischen Historiographie am Beispiel von Xenophon dar. Im Rahmen der „neuen“, sozialgeschichtlich orientierten Militärgeschichte reflektiert er innovativ und interdisziplinär die Gründe, weshalb die Opferperspektive bei außenpolitischen Konflikten in griechischer Historiographie konsequent ausgeblendet wird.5 Die Vermeidung von Schilderungen zu Verwundeten und Sterbenden und die fehlende kritische Betrachtung kriegerischen Tötens stehe im Einklang mit der Heroisierung der Kämpfer und der Abwertung des Gegners und diene der Legitimation des Kriegs. So beschreibe Xenophon den Krieg wie ein Schachspiel als eine primär taktische Angelegenheit.

Eine Trias von Aufsätzen ist einem Themenkreis gewidmet, um dessen Erforschung sich Gerhard Wirth besonders verdient gemacht hat: Alexander III. und den Alexanderhistoriographen. Stefan Schrumpf (S. 85–133) wendet sich dem komplexen Problem der Historizität von Alexanders und Dareios’ Korrespondenz zwischen Issos und Gaugamela zu. Die kritische Reflektion seiner Analyse wird indes partiell von dem veralteten und fragwürdigen Ansatz der Persönlichkeitsanalyse überlagert (S. 99f.). Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich insbesondere, wenn Schrumpf auf die tendenziöse Formung des Dareiosbilds in den griechisch-römischen Quellen hinweist und gleichzeitig politische Entwicklungen damit begründet, dass Dareios „keine charismatische, nach vorne preschende Führungspersönlichkeit wie Alexander“ (S. 99) gewesen sei.6 Die Ausblendung der Notwendigkeit, diese Bilder zu decodieren, mag indes damit zusammenhängen, dass die Studie, die mit einem Zitat von Schachermeyr beginnt und endet, im diskursiven Rahmen der älteren Forschung verortet wird.7 Konrad Vössing (S. 135–160) beschäftigt sich mit einem der umstrittensten Probleme in Alexanders Laufbahn: dem gescheitertem Einführungsversuch der Proskynese in Baktra. Im Rückgriff auf eine ältere These von Paul Schnabel 8, die er zugleich aktualisiert und revidiert, deutet er den Versuchsballon als kalkulierte „Reißbrett-Konstruktion“ im Kontext von Alexanders neuer Vielvölkerreichspolitik, die gerade aufgrund ihres Reißbrettcharakters gescheitert sei.

Moritz Böhme (S. 161–186) zeigt schlüssig auf, dass in den Fragmenten der zeitgenössischen Alexanderhistoriographen Kallisthenes, Chares, Ephippos, Kleitarch, Ptolemaios und Aristobulos die traditionellen griechischen Perserklischees dominieren, während sich Alexanders gewandeltes Perserkonzept nach der Übernahme des Achaimenidenreichs kaum niederschlägt. Dazu sei nebenbei angemerkt, dass er Alexanders Anknüpfung an die persische Herrschaftstradition mit der Zeit nach Gaugamela reichlich spät ansetzt. Vielmehr ist von einer Datierung spätestens nach Issos auszugehen.9 Wünschenswert wäre es gewesen, Ptolemaios’ Verwendung gängiger Persertopoi auch vor dem Hintergrund zu betrachten, welchen Ruf die Perser in seinem Reichsgebiet Ägypten genossen. Schon Alexander hatte die politische Linie vorgegeben – der Ptolemaios folgte –, sich als Ägyptens Befreier von der Perserherrschaft darzustellen. Dies war nun für Ptolemaios nicht nur gegenüber den Ägyptern wichtig, sondern diente auch dazu, seine Herrschaft über das im Perserfeldzug errungene Land als sein „Erbteil“ gegenüber makedonischen Kreisen zu legitimieren. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass der Mardonioszug des Jahres 492 v.Chr., den Böhme einleitend als Ausdruck persischer Bedrohung des griechischen Mutterlandes in einem Atemzug mit dem Xerxeszug benennt, vielmehr eine begrenzte Operation in Thrakien und Makedonien war, um diese während des Ionischen Aufstands abgefallenen Gebiete erneut unter persische Herrschaft zu bringen.10

Der Dekonstruktion von Klischees widmet sich auch Jörg Fündling (S. 235–260). Seine Intention ist die Rehabilitierung des Lucius Verus, dessen antike wie moderne Negativporträtierung als dekadente „politische Nullität“ (S. 254) er kritisch hinterfragt. Bei den vier verbleibenden Beiträgen handelt es sich um Spezialstudien zu einzelnen Autoren verschiedener Epochen: Johannes Engels (S. 187–202) stellt den hellenistischen Universalhistoriographen und Geographen Demetrios von Kallias aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. vor, Jörg-Dieter Gauger (S. 203–227) untersucht die Agelaos-Rede bei Polybios (5,103–104), Roman Lapyrionok (S. 229–234) unternimmt den doch etwas fragwürdig anmutenden Versuch, Appians „marxistischen Stil“ (S. 230) in seiner Behandlung der Gracchen als „demokratische Politiker“ (S. 229) zu betrachten, und Silke Diederichs (S. 261–286) beleuchtet in einem sehr anregenden Beitrag die epischen, rhetorischen und historiographischen Traditionen in den Kampfbeschreibungen und der Kampfmetaphorik im Carmen Paschale des Bibelepikers Sedulius aus dem 5. Jahrhundert n.Chr.

Komplettiert wird der Band durch ein Quellen-, Personen- und ein geographisches Register. Insgesamt bietet er ebenso Themeneinsteigern wie Experten anschauliche, informative und breit gefächerte Beispiele zu Problematik und Methodik, eröffnet vielfach neue Perspektiven und zeichnet sich durch die klare Strukturierung und übersichtliche Gliederung der Beiträge aus.11 Die fehlende thematische Geschlossenheit ist daher nicht als ein Manko zu betrachten, sondern als eine Option, dem Leser eine Vielzahl von Zugängen zu eröffnen.

Anmerkungen:
1 Aus der Fülle an Publikationen seien exemplarisch genannt: Gerhard Wirth, Studien zur Alexandergeschichte, Darmstadt 1985; Philipp II., Stuttgart 1985; Der Brand von Persepolis. Folgerungen zur Geschichte Alexanders des Großen, Amsterdam 1993; Der Weg in die Vergessenheit. Zum Schicksal des antiken Alexanderbildes, Wien 1993; Hypereides, Lykurg und die autonomia der Athener. Ein Versuch zum Verständnis einiger Reden der Alexanderzeit, Wien 1999; Katastrophe und Zukunftshoffnung. Mutmaßungen zur zweiten Hälfte von Diodors Bibliothek und ihren verlorenen Büchern, Wien 2007.
2 Walter How / Joseph Wells, A commentary on Herodotus, Bd. 2, 8. Aufl., Oxford 1967 (1. Aufl. 1912), S. 337.
3 Vgl. etwa Rosalind Thomas, Herodotus in Context, Cambridge 2002, S. 106.
4 Problematisch erscheint zudem Rosens Vermutung, Herodots Kyrosbild sei so uneinheitlich gestaltet, weil er nicht die Persis bereist und die Felsinschriften des Königs gesehen habe (S. 4). Es ist umstritten, inwiefern es Vergleichbares im Perserreich vor Dareios I. überhaupt gegeben hat, vgl. Johannes Heinrichs, „Asiens König“. Die Inschriften des Kyrosgrabs und das achaimenidische Reichsverständnis, in: Wolfgang Will / Johannes Heinrichs (Hrsg.), Zu Alexander d. Gr. FS G. Wirth, Bd. 1, Amsterdam 1987, S. 487–540.
5 Nicht erwähnt werden bei Schmitz allerdings die sehr kritischen Passagen zum Krieg als einer Spirale von Gewalt bei Herodot (1,87,4; 214,4–5) und die Darstellung von kriegerischer Gewalt bei der makedonischen Einnahme von Persepolis bei Diodor (17,70).
6 Als Bestätigung für das Charakterbild des Dareios beruft sich Schrumpf auf Helmut Berve, Das Alexanderreich auf prosopographischer Grundlage, Bd. 2, München 1926, S. 128.
7 Fritz Schachermeyr, Alexander der Große, Wien 1973, S. 223.
8 Paul Schnabel, Die Begründung des hellenistischen Königskults durch Alexander, in: Klio 19 (1924), S. 113–127; Zur Frage der Selbstvergötterung Alexanders, in: Klio 20 (1926), S. 398–414.
9 Vielleicht sogar schon zuvor, vgl. Josef Wiesehöfer, Die „dunklen Jahrhunderte“ der Persis, München 1994, S. 27, Anm. 25.
10 Vgl. Michael Zahrnt, Der Mardonioszug des Jahres 492 v. Chr. und seine historische Einordnung, in: Chiron 22 (1992), S. 237–279.
11 Kaum ins Gewicht fällt die zweifach auftretende Doppelung von Passagen (S. 61f. u. 165) und die Leerseite inmitten eines Aufsatzes (S. 127).

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