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Titel
Die Burgunder. Ethnogenese und Assimilation eines Volkes. Dokumentation des 6. wissenschaftlichen Symposiums, veranstaltet von der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. und der Stadt Worms vom 21. bis 24. September 2006


Herausgeber
Gallé, Volker
Reihe
Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. 5
Erschienen
Worms 2008: Worms-Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Steinacher, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Der von Volker Gallé im Umfeld der Nibelungenliedgesellschaft Worms herausgegebene Band bietet unterschiedlichste Zugänge aus Geschichts-, Literatur- und Sprachwissenschaft wie aus der Archäologie zu einem nicht ganz einfachen Thema. Zwischen den res gestae des 5. Jahrhunderts und der archäologischen Situation am Rhein und in der Sapaudia bis hin zu Fragen nach der linguistischen Greifbarkeit des Burgundischen wie den Hintergründen des Nibelungenlieds spannt sich der Themenbogen. Erfreulich dabei ist das diskursive Nebeneinander sehr unterschiedlicher Ansätze. Der Großteil der Autorinnen und Autoren ist etabliert in den jeweiligen Fachbereichen, der Band geeignet, um den Forschungsstand einer komplexen Debatte zu überblicken und das – es sei nochmals betont – in bester Weise über die Fachgrenzen hinweg.

Vorweg zwei kleine Kritikpunkte: Manchen Beiträgen ist eine Sammlung von – auch übersetzten – Quellen beigefügt, andere Autoren ließen dies aus, insgesamt variieren die Anhänge stark in Umfang und Qualität. So entsteht eine gewisse Uneinheitlichkeit. Zweitens fehlt dem Band ganz klar ein Index, was bei der Fülle an Material und Problematik nötig gewesen wäre.

Volker Gallé bietet eine anregende Einführung, in welcher die Dynamik des Themas – lokal wie überregional und in breitem zeitlichen Rahmen – aufgezeigt wird. Liest man den Text des Kulturkoordinators der Stadt Worms, kommt der Gedanke, dass mancher Stadt Kulturpolitik eines solchen Niveaus gut tun würde.

Wie bei den meisten spätantiken und frühmittelalterlichen gentes – Goten und Vandalen, Franken und Sachsen – stellen die Rezeptionen und Brechungen, Instrumentalisierungen und Literarisierungen der burgundischen Identität alle historischen Disziplinen vor große Herausforderungen. Im Falle der Burgunder ist es das hochmittelalterliche Nibelungenlied, das in höchst unterschiedlicher Weise verstanden wurde und wird. Die Spannung in der Forschung bleibt die zwischen der Annahme einer hochmittelalterlichen literarischen Konstruktion basierend auf schriftlicher Überlieferung einerseits und der Idee einer langen mündlichen Tradierung – letztlich also der späten Verschriftlichung historischer Erinnerung des 5. Jahrhunderts – andererseits. Jürgen Breuer bietet innerhalb des genannten Spektrums eine Interpretation, die stärker der ersten erwähnten Möglichkeit zuneigt. Über Prosper Tiro, die gallische Chronik von 451, Gregor von Tours und Fredegar war dem hohen Mittelalter die Geschichte der historischen Burgunder in Eckdaten vertraut. Ein vergangenes und versunkenes Königreich wurde nun für das Geschichtsverständnis der salischen und staufischen Dynastie instrumentalisiert, Burgund als Legitimations- und Konfliktraum stilisiert. Die von Breuer angebotene Historisierung im Umfeld Herzog Bertholds von Zähringen und der Gründung der Stadt Bern im Jahr 1191 hat viel für sich. Ellen Bender neigt dem zweiten genannten Punkt im Spektrum zu und bleibt sehr traditionell. Bender möchte „stoffliche Ursprünge in der germanisch-deutschen Heldensage“ sehen und bleibt davon überzeugt, dass „die Stoffe der Völkerwanderungszeit Jahrhunderte überdauert haben, vermutlich in mündlicher Erzähltradition“ (S. 326). Der Innsbrucker Germanist Max Siller wiederum versucht, den Ereignisraum des Liedes ins historische burgundische Zentrum der Gegend um Genf und Lyon, also vom Rhein an die Rhône und von Wien nach Vienne, zu verlegen. Siller tendiert auch zur zweiten Möglichkeit, nur ist das Ergebnis innovativer als jenes Benders.

Ähnliche Probleme hat die Geschichtswissenschaft und dies beginnt schon mit dem Titel des Bandes: „Ethnogenese“, „Assimilation“ und „Volk“ – drei Begriffe, über die Debatten schier unübersehbaren Ausmaßes geführt werden. Die Gefahr besteht, durch die Verwendung neuer Etiketten wie beispielsweise „Ethnogenese“ traditionelle (und damit sind Diskurse seit der frühen Neuzeit ebenso gemeint wie die Tradition der „Germanischen Altertumskunde“) Erzählweisen und Begrifflichkeiten sozusagen undercover weiterzuführen.1 Insofern hat der Braunschweiger Althistoriker Helmut Castritius mit seinem einführenden Plädoyer für die Beibehaltung altbewährter Termini wie „Volk“, „Völkerwanderung“ und „Landnahme“ durchaus Recht. Castritius möchte klare Verhältnisse und meint: „Das vom Hunnensturm ca. 375 n. Chr. ausgelöste Anbranden vor allem gotischer Völker gegen die römische Reichsgrenze“ dürfe nicht in seinen Dimensionen unterschätzt werden (S. 34). Es bleibt nur die Frage, wie weit genannte Kategorien nicht tatsächlich auflösbar sind und wie viel vom Konzept der Herderschen Kollektivindividualitäten, der Gauppschen Landnahme und der Gibbonschen Sicht der Völkerwanderung übrig bleiben wird. Die Zukunft wird es zeigen und möglich scheinen zurzeit sehr unterschiedliche Wege.

Der Altmeister der burgundischen Geschichte Ian Wood untersucht Aspekte der Assimilation der burgundischen Eliten in die spätrömische Gesellschaft und zeigt auch die Begrenztheit unserer Aussagemöglichkeiten über eine kleine Spitzengruppe hinaus auf. Reinhold Kaiser macht sich anregende Gedanken über den möglichen Umfang einer Quellensammlung zur Geschichte der Burgunder. Beide Beiträge bieten zugleich eine solide Einführung in die Quellenproblematik. Schließlich untersucht Roland Zingg Texte, die eine burgundische Herkunftserzählung bieten. Drei verschiedene Typen einer burgundischen origo-Erzählung liegen vor: die Abstammung von den Römern bei Ammianus Marcellinus, die Benennung nach den burgi an der römischen Reichsgrenze, welche die Burgunder seit Tiberius besetzt haben sollen (Orosius), und eine Wanderungsgeschichte aus Skandinavien in der Passio Sigismundi.

Mathilde Grünewald, Christoph Engels und Henri Gaillard de Sémainville stellen die archäologischen Beiträge. Grünewald und Engels bieten kritische und differenzierende Zugänge. Beide betonen die Schwierigkeiten einer archäologischen Identifikation politischer Identitäten in Spätantike und Frühmittelalter, wie die aus dem Nibelungenlied stammende falsche Frage nach einem Burgunderreich am Rhein und in Worms.

Wolfgang Haubrichs und Max Pfister zeichnen für die sprachwissenschaftlichen Beiträge verantwortlich. Haubrichs zeigt anhand meist epigraphischen Materials, dass nach einer Phase sprachlichen Nebeneinanders ein Übergang zu einer romanischen Dominanz im zweiten Drittel des 6. Jahrhunderts nachweisbar ist. Pfister stellt die Frage nach burgundischen Resten im Frankoprovenzalischen und kommt zum Schluss der Marginalität solcher Elemente. Beide Beiträge zeichnen sich durch ihre Materialfülle aus, was auch für den archäologischen Text von Henri Gaillard de Sémainville gilt. Hier fehlt ein Index am deutlichsten.

Der Band schließt mit zwei Beiträgen, die die Instrumentalisierungen burgundischer Identitäten im 20. Jahrhundert zum Thema haben. Wolfgang Freunds Ausführungen zu „Burgund in den nationalsozialistischen Planungen“ macht das wenig bekannte Vorhaben, in der historischen Landschaft Burgund einen SS-Ordensstaat zu errichten, bekannt.

Anmerkung:
1 Michael Kulikowski, Rome's Gothic Wars. From the Third Century to Alaric, Cambridge 2007. Dieses Buch liegt nun auch in deutscher Sprache vor: Die Goten vor Rom, Stuttgart 2009. Kontrovers, aber anregend liest sich: Walter A. Goffart, Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire, Philadelphia 2006, v.a. S. 13–55. Differenzierend: Walter Pohl, Ethnicity, theory and tradition: a response, in: Andrew Gillett (Hg.), On Barbarian Identity – Critical Approaches to Ethnogenesis Theory, Turnhout 2002, S. 221–240. Pohl verwendet den Ethnogenese-Begriff übrigens schon seit Jahren nicht mehr. Ein guter Forschungsüberblick: Guy Halsall, Barbarian migrations and the Roman West, 376–568, Cambridge 2007, S. 2–19.