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Titel
Flucht in den Terror. Das sowjetische Exil in Autobiographien deutscher Kommunisten


Autor(en)
Jung, Christina
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Doris Danzer, Neuere und Neueste Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

Schreiben über den Stalinismus: Für viele deutsche Kommunisten war dies eine selbst auferlegte Pflicht nach ihrer Rückkehr aus dem sowjetischen Exil. Einerseits wollten sie ihre Begeisterung für die kommunistische Idee und den sozialistischen Modellstaat mitteilen, andererseits über das stalinistische Terrorsystem der dreißiger und vierziger Jahre aufklären. Schließlich gehörten diese Erfahrungen neben denen des Faschismus zu den prägendsten des 20. Jahrhunderts.

Die historische Forschung trug an diese Berichte bisher vor allem Fragen zum Charakter des Stalinismus heran: Was steckte hinter dem Kult, der die Sowjetunion und ihren „großen Führer“ Josef Stalin seit den 1920er-Jahren umgab? Wie ist das stalinistische Repressions- und Terrorsystem zu bewerten? Die Literaturwissenschaft hingegen interessierte sich vorwiegend für die Funktion des autobiographischen Schreibens über Terror und Traum des Stalinismus.

Auch die Literaturwissenschaftlerin Christina Jung geht vor allem der letztgenannten Frage nach. Ihr Buch „Flucht in den Terror. Das sowjetische Exil in Autobiographien deutscher Kommunisten“ beschreibt somit weniger die damaligen Lebensbedingungen der Emigranten, als vielmehr die Art und Weise des autobiographischen Schreibens darüber. Jung fragt einerseits nach den Intentionen, die deutsche (Ex-)Kommunisten mit der Niederschrift und der Veröffentlichung ihrer autobiographischen Zeugnisse im Zeitraum von 1919 bis 2003 verfolgten, andererseits nach den Funktionen dieser Zeugnisse im gesellschaftlichen Kontext ihrer Rezeption.

Die Autorin analysiert die autobiographischen Texte als zentrale Quellen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Entsprechend gliedert sich das Buch in zwei große Abschnitte: Im ersten Teil wird chronologisch der historische und räumliche Kontext von Produktion und Rezeption der Autobiographien nachgezeichnet. Die Untersuchung beginnt im Deutschen Reich, das heißt vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, und wird für den Kontext der BRD sowie der DDR fortgesetzt. Mit einem kurzen Überblick über die nach 1989 im wiedervereinigten Deutschland erschienenen (ex-)kommunistischen Memoiren endet der erste Teil.

Im zweiten Teil werden mittels einer vergleichenden Makro- und Mikroanalyse der autobiographischen Texte Aspekte des Exils in der Sowjetunion herausgearbeitet. Diese sind zu chronologisch geordneten Themengebieten gebündelt: Die Politisierung der Autoren und ihr Beitritt zur KP, die Schilderungen über Exilbedingungen und das Alltagsleben in der Sowjetunion, die Jahre des Terrors zwischen 1936 und 1939 sowie die individuellen Hafterfahrungen in der Lubjanka und im GULag. Dem Erleben des Hitler-Stalin-Paktes als „Prüfstein“ jedes Kommunisten (S. 329) folgen die Erfahrungen der deutschen Emigranten während des deutsch-sowjetischen Krieges in der Sowjetunion sowie die Schilderungen über die Jahre ihrer Rückkehr in das geteilte Deutschland.

Ein wenig irritierend wirkt das darauf folgende Unterkapitel, in dem Schreibmotivation, Identität der Autorinnen und Autoren und ihre Adressaten aufgearbeitet werden. Da dort die wesentlichen Ergebnisse der Analyse präsentiert werden, hätte es auch als eigenes großes Kapitel angelegt werden können. Einige Informationen daraus, vor allem zu den Verfassern der besprochenen Werke, wären auch am Anfang des Buches gut platziert gewesen. Dort fehlen eine kurze Vorstellung des umfangreichen Quellenkorpus’ sowie eine Begründung zur Auswahl der autobiographischen Texte. Zwar wird im Buch zu Beginn des zweiten Abschnitts darauf kurz eingegangen (S. 143ff.). Aber an früherer Stelle hätten diese Informationen den Einstieg in die umfassende und komplexe Thematik, beispielsweise in Form einer graphischen Übersicht über Lebensdaten der Autoren, Titel der Autobiographien und ihre Erscheinungsjahre, erleichtert. Auch die Dichte des Textes wäre damit aufgelockert worden, für den zudem eine etwas zu kleine Schriftgröße gewählt worden ist.

Denn Christina Jungs Buch – eine Dissertation, die im Jahr 2006 an der Universität Marburg angenommen wurde – hätte eine optisch gefälligere Präsentation verdient. Ihre Arbeit fußt erkennbar auf akribischer Recherche, sorgfältiger Analyse und reflektierter Argumentation. Die methodischen Vorgaben einer Diskursanalyse nach Michel Foucault werden erfolgreich umgesetzt. Zudem ist ihre Studie materialreich: Nicht nur die thematisch relevanten Werke der westlichen Forschungsliteratur liegen ihr zugrunde, sondern auch die bekanntesten autobiographischen Texte in deutscher Sprache zu Reise- und Exilerfahrungen in der Sowjetunion während der Hochphase des Stalinismus. Neben Lion Feuchtwangers Reisebericht über Moskau im Jahr 1937 gehören dazu beispielsweise die Erlebnisse im stalinistischen Repressionsapparat von Margarete Buber-Neumann und Susanne Leonhard, die mit der Veröffentlichung ihrer Autobiographien in den 1950er-Jahren in der BRD ihren Bruch mit der Kommunistischen Partei besiegelten. Auch ungedruckte Manuskripte von Erinnerungen an das sowjetische Exil, die lange Jahre im Parteiarchiv der SED in der DDR verschlossen waren und erst nach 1989 publiziert wurden, werden hier präsentiert.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht ist Christina Jungs Buch eine anregende Lektüre. Die Autorin fasst anschaulich wesentliche Ergebnisse der bisherigen Forschung zu Mentalitäten und Motivationen von Intellektuellen der Geburtsjahrgänge um 1900, der KPD beizutreten, sowie zur Kaderpolitik und zur gezielten Steuerung der Parteigeschichtsschreibung in der DDR zusammen.

Auch auf die Frage, ob Autobiographien ehemaliger Kommunisten Ausdruck eines (be)freien(den) Sprechens über individuelle Erfahrungen im Stalinismus sind oder den antrainierten Mechanismen von parteilich kontrollierter, erzwungener Selbstanalyse und -kritik folgen, gibt Christina Jung eine Antwort. Sie stellt fest, dass deutsche (Ex-)Kommunisten im autobiographischen Schreiben dem stalinistischen Ritual der fortwährenden Selbstanalyse und Selbstbeschreibung verhaftet blieben. Selbst dann, als sie für eine andere Öffentlichkeit als die der kommunistischen Partei schrieben, wirkten diese Mechanismen als „Relikte der erlernten identitäts- und sinnstiftenden Praktiken“ (S. 376) in ihren Autobiographien fort, so Jung. Diese seien außerdem von einem ausgeprägten Hang zur Selbstinszenierung als guter Kommunist, von der Argumentationstechnik des Malens von Gegenbildern sowie von der direkten Ansprache ihrer Leser gekennzeichnet. Lediglich vom Zwang zur parteilichen Eindeutigkeit in der Beschreibung ihrer politischen Identität hätten sich die Autoren lösen können, um Ambivalenzen zwischen objektiven Bedingungen und subjektiven Empfindungen über die Jahre des sowjetischen Exils während des Stalinismus in ihren Autobiographien Raum zu geben.

Für die Diskussion, die vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten rund um Bedeutung und Funktion von Selbstthematisierungen „stalinistischer Subjekte“1 sowohl in der historischen als auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung geführt wurde 2, liefert Christina Jungs Arbeit damit einen wichtigen Beitrag.

Anmerkungen:
1 Brigitte Studer / Heiko Haumann (Hrsg.), Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern 1929 - 1953, Zürich 2006.
2 Vgl. hierzu Jörg Baberowski, Was war der Stalinismus? Anmerkungen zur Historisierung des Kommunismus, in: Deutschland-Archiv 6 (2008), S. 1047-1056, bes. S. 1053ff; Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991.

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