G. Krieger (Hrsg.): Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft

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Titel
Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter


Herausgeber
Krieger, Gerhard
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Garnier, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Bedeutung und Entwicklung sozialer Gruppenbindungen ist ein Thema, das in der mediävistischen Forschung in zahlreichen Disziplinen traditionell eine große Resonanz gefunden hat. Historiker, Rechtshistoriker, Kunsthistoriker, Sprach- und Literaturwissenschaftler sowie Philosophen und Theologen haben auf methodisch unterschiedlichen Wegen und auf der Basis des jeweiligen Quellenmaterials wertvolle Erkenntnisse zu Tage gefördert. Umso wichtiger war der Versuch des Mediävistenverbandes, den fächerübergreifenden Diskurs zu dieser Thematik auf seinem 12. Symposium im März 2007 unter dem Titel „Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter“ zu bündeln. Im vorliegenden Band sind 28 der insgesamt über 60 gehaltenen Vorträge publiziert.

Obwohl bei der Wahl der Schwerpunkte vorrangig verwandtschaftliche und genossenschaftliche Gruppenbindungen anvisiert sind, so sind auch herrschaftlich strukturierte Sozialverbände in die Betrachtung einbezogen, allerdings weniger ausführlich. Die konzeptionelle Klammer der Beiträge bildet zum einen die Frage nach der Genese, Struktur und Entwicklung mittelalterlicher Gruppenbindungen, zum anderen werden die wechselseitigen Beziehungen der sozialen Netzwerke in den Blick genommen. Ebenso geht es um die zeitgenössische Wahrnehmung, um Deutungsmuster und Kritik. Im Zentrum der Analyse stehen schließlich auch die verbalen wie nonverbalen Kommunikationsformen, über die sich diese Gruppen artikulierten. Dieser sehr breit angelegte thematische Rahmen birgt auf den ersten Blick zwar die Gefahr eines recht heterogenen Gesamtbildes, legt so jedoch ein hinreichend breites Fundament für einen fruchtbaren fächerübergreifenden Austausch, den man als durchaus gelungen bezeichnen kann.

Wer sich eine vollständige Präsentation des Themas erhofft, wird zwar schnell enttäuscht werden. Doch in Anbetracht der vielfältigen Ansätze aus den unterschiedlichsten mediävistischen Disziplinen kann der Band keine konsistente Gesamtwürdigung bieten. Dazu hätte es einer umfassenden inhaltlichen Einführung bedurft, die wichtige Leitfragen aufgegriffen und die jeweiligen Fächerperspektiven präsentiert hätte – angesichts der thematischen Breite ein nicht zu bewältigendes Unterfangen. Einige Aufsätze, zunächst die drei aus den Plenarvorträgen hervorgegangenen Beiträge, machen dieses Defizit jedoch in vielen Teilen wett: So bietet Hans-Werner Goetz einen kompakten Überblick über Semantik, Formen und Funktionen der Verwandtschaft im früheren Mittelalter. Gerhard Dilcher betont in seinem Beitrag zu Verwandtschaft und Bruderschaft als „Modelle der gewillkürten Rechtsformen“, wie viele politische, soziale und ökonomische Netzwerke mit der Terminologie der Verwandtschaft codiert wurden, um der wechselseitigen Erwartung nach Hilfe und Unterstützung Ausdruck zu verleihen. In diesem Kontext findet schließlich auch die Freundschaft Erwähnung, da mit amicitia und pax die wichtigsten Grundlagen vormoderner genossenschaftlicher Gruppen beschrieben wurden. Aus philologischer Perspektive beleuchtet Claudine Moulin die volkssprachigen Glossen mit kulturwissenschaftlichen Analysemethoden und zieht so wichtige Rückschlüsse auf Kommunikationsformen und soziale Organisationsstrukturen in den Klöstern. Die Bedeutung der behandelten Netzwerke in der mittelalterlichen Philosophie präsentiert Gerhard Krieger, dessen grundlegende Darstellung im anzuzeigenden Band als Nachtrag erscheint.

Dass der Band trotz der thematischen Dichte weitaus mehr als eine bloße Ansammlung von Aufsätzen bietet, ist der Tatsache zu verdanken, dass die folgenden Beiträge drei sinnvoll ausgewählten Themenbereichen zugeordnet sind. Unter dem Aspekt „Praxis und soziale Lebens- und Kommunikationsformen“ ist im ersten Abschnitt eine umfangreiche Palette unterschiedlichster Sozialbeziehungen erfasst. Es geht um die Bildung, Repräsentation und Vernetzung politischer Eliten im Frankenreich des Frühmittelalters (Régine Le Jan) und universitätsgelehrter Kleriker im römisch-deutschen Reich des Spätmittelalters (Robert Gramsch). Ebenso werden die unterschiedlichen Kommunikationsmuster untersucht, derer sich die Beziehungspartner bedienten. So fokussiert Rüdiger Schnell auf der Basis historiographischer und literarischer Quellen die Grundbedingungen öffentlicher und privater Kommunikation, die der persönlichen Beziehung der Interaktionspartner als Freunde oder Fremde Rechnung trug. Kurt Smolak untersucht die Semantik der Freundschaft in den Gruß- und Abschiedsformeln frühmittelalterlicher Briefe. Die lebensweltliche Funktion von Freundschaft und Verwandtschaft wird schließlich in den unterschiedlichen institutionellen und sozialen Zusammenhängen analysiert: im monastischen Bereich bei den Zisterziensern (Wendelin Knoch), am Beispiel der venezianischen Bruderschaften des 14. und frühen 15. Jahrhunderts, vor allem in Hinblick auf die Mitgliedschaft der bildenden Künstler (Gabriele Köster) sowie am Beispiel der ‚Tafur‘ in den altfranzösischen Kreuzzugsepen (Hermann Kleber). Eine wichtige Rolle kam den verwandtschaftlichen und genossenschaftlichen Netzwerken ebenfalls in der spätmittelalterlichen Sterbekultur zu, deren Ausprägung sich über die ars moriendi erschließt (Claudia Resch).

Der zweite übergeordnete Themenbereich nimmt in erster Linie die Ausformung der herrschaftlichen Kommunikationsstrukturen in den Blick. So kommen im weltlichen Bereich wichtige Träger und Formen der Kommunikation am früh- und hochmittelalterlichen Königshof zur Sprache: Geneviève Bührer-Thierry untersucht die Face-to-Face-Kommunikation am fränkischen Hof, während die Einflussmöglichkeiten der Königin in ottonisch-salischer Zeit von Katrin Köhler diskutiert werden. Die Genese der kommunalen Verfassungsstrukturen um 1200 untersucht Leah Otis-Cour, indem sie die Entwicklung der Städte der Provence und des Languedoc in den Blick nimmt. Im Bereich der geistlichen Herrschaftsträger betont Tina Bode die Bedeutung von Klöstern und Bischofssitzen als Mittelpunkte der Kommunikation in der ottonischen Reichskirche. Norbert Brieskorn untersucht die päpstlichen Maßnahmen, Kaiser der christlichen wie weltlichen Kommunität zu verweisen (Exkommunikation, Deposition, Eidlösung der Untertanen). Mit der semantischen Analyse des mittelhochdeutschen Begriffs triuwe präsentiert Simone Schultz-Balluff eine zentrale Verhaltensmaxime herrschaftlicher Bindungsformen.

Weniger die Funktionen, sondern vielmehr die Reflexionen über Freundschaft und Verwandtschaft stehen im Zentrum des dritten großen Abschnitts („Deutung und Kritik sozialer Lebens- und Kommunikationsformen“). Zwei der hier geboten Beiträge widmen sich dem Spannungsfeld zwischen Ideal und lebensweltlicher Realität der Freundschaft. Die Diskussion über Selbstzweck und Nutzen der Freundschaft bei Aristoteles und Thomas von Aquin präsentiert Asadeh Ansari, während Klaus Oschema der Unterscheidung zwischen Freund und Schmeichler im späten Mittelalter nachgeht. Den zentrale Stellenwert der sozialen Gruppenbindungen für die mittelalterliche Memorialkultur betonen Daniel Föller, der mit den Runensteinen wichtige mediale Ausdruckformen des wikingerzeitlichen Totengedenkens analysiert, sowie Philippe Depreux, der für das 9. und 10. Jahrhundert die Wechselwirkung der herrscherlichen Schenkungspraxis an Kirchen und das damit erwartete Gebetsgedenken thematisiert. Hier wird besonders deutlich, dass nicht nur die individuelle Memoria des Stifters zur Disposition stand, sondern ebenso ausgewählte Mitglieder seiner Umgebung einbezogen wurden, so dass deren Gemeinschaft über den Tod hinaus fixiert wurde. Soziale Kohäsionsmechanismen der Häresiebewegung und ihre Wahrnehmung in Italien diskutiert Francesca Tasca vor allem für das 12. Jahrhundert. Zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge analysieren den Freundschafts- und Verwandtschaftsdiskurs sowie die mediale Präsentation dieser Bindungen in literarischen Texten: in französischen Epen des 14. Jahrhunderts (Dorothea Kullmann), im ‚Prosalancelot‘ (Beatrice Michaelis), in der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen (Christina Domanski) sowie in den spätmittelalterlichen Bearbeitungen von ‚Valentin und Namenlos‘ und ‚Amicus und Amelius‘ (Silke Winst). Dass nicht nur zwischenmenschliche Bindungen, sondern auch Tier-Mensch-Beziehungen in der mittelhochdeutschen Epik mit dem Etikett der Freundschaft versehen wurden, präsentiert Sabine Obermaier. Humanistische Reflexionen über die diskutierten sozialen Netzwerke greifen zwei Beiträge auf. Georg Strack präsentiert am Beispiel der deutschen Universitätsnation die frühnationale Universitätsrhetorik in Oberitalien. Dass der gelehrte Freundschaftsdiskurs um 1500 an Dynamik gewann, belegt Johannes Klaus Kipf, indem er den Stellenwert der amicitia für die deutsche humanistische Briefkultur analysiert.

Ein Personenverzeichnis rundet den Band ab. Seine Erstellung ist in Anbetracht der Materialfülle zwar ein ambitioniertes Unterfangen. Da jedoch in manchen Fällen Funktionsbezeichnungen und regionale Zuordnungen fehlen oder bei anderen Verweisen die identische Person unterschiedliche Einträge besitzt (so wird z.B. die Gemahlin des salischen Kaisers Heinrichs III. zum einen als Agnes, Kaiserin, und zum anderen als Agnes von Poitou angeführt), verschafft das Register an einigen Stellen nur einen sehr oberflächlichen Eindruck.

Insgesamt bieten die Erträge des Symposiums ein überaus vielschichtiges und anregendes Abbild der aktuellen mediävistischen Forschungslandschaft zum behandelten Thema und schlagen damit die ebenso häufig eingeforderte wie wichtige Brücke im interdisziplinären Austausch. Denjenigen, die einen ersten informativen Einstieg zum komplexen Wirkverbund verwandtschaftlich-genossenschaftlicher Gruppenbindungen suchen, sei der Band ebenso anempfohlen wie denjenigen, die sich mit spezifischen Fragestellungen dem Thema nähern.