Cover
Titel
People on the Move. Forced Population Movements in Europe in the Second World War and its Aftermath


Autor(en)
Ahonen, Pertti; Corni, Gustavo; Kochanowski, Jerzy; Schulze, Rainer; Stark, Tamás; Stelzl-Marx, Barbara
Reihe
Occupation in Europe 3
Erschienen
Oxford 2008: Berg Publishers
Anzahl Seiten
XV, 272 S.
Preis
£ 19.99 (Paperback)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Sturm-Martin, Historisches Seminar I, Universität zu Köln

In diesem schmalen Band ist gelungen, was in so vielen Sammelbänden schon versucht worden ist: ein multidimensionaler, transnationaler Blickwinkel auf das europäische Vertreibungsgeschehen im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Erfolgsrezept besteht hier in der redaktionellen Arbeit der sechs Fachautoren. Fast alle Kapitel sind bereits in Ko-Autorschaft entstanden und danach – in einem „intense process of collective writing“ (Vorwort, S. XIV) – einer weiteren Überarbeitung unterzogen worden. Gustavo Corni und Tamás Stark treten im einleitend erläuterten Autorenschema besonders häufig auf, auch wenn sie ihre Namen bescheiden in die alphabetische Reihung einordnen. Entstanden ist ein hervorragend lesbarer Überblick zu Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen in Mitteleuropa auf dem Stand der aktuellen Forschung. Lediglich der kurze Kartenanhang ist in diesem Band eine große Enttäuschung. Die sechs kaum 6 cm x 8 cm großen, grauschattierten Karten können den Text nicht ergänzen und fallen ab gegenüber der ansonsten sorgfältigen Gestaltung des Buches. Vielleicht ist deswegen an keiner Stelle im Text auf den Kartenanhang Bezug genommen.

Federführend beim von der European Science Foundation finanzierten Dachprojekt „The Impact of National Socialist and Fascist Occupation in Europe“ waren Wolfgang Benz und der Amsterdamer Historiker Hans Blom; die sechs einschlägig ausgewiesenen Autoren von „People on the Move“ bildeten eine von sechs Projektgruppen, die sich mit dem Thema Massenmigrationen befassten.

Aus dem Anspruch, die Spezialkenntnisse der einzelnen Autoren in einen möglichst breiten Hintergrund einzubetten, resultiert ein eher konventioneller inhaltlicher Aufbau des Buches. Vom Aufstieg des Nationalismus im 19. Jahrhundert über Versailles und Lausanne als Einleitung, vom „Generalplan Ost“ der Nationalsozialisten über die Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik der Achsenmächte, von der Flucht und Vertreibung der Deutschen und „Volksdeutschen“ 1944–1948 zu den Folgen der Entscheidungen der Alliierten in den 1950er-Jahren reicht der behandelte Zeitraum. Der Schwerpunkt liegt auf den Vorgängen von Umsiedlung, Vertreibung und Flucht, wobei auch der individuellen Erfahrung sowie den nationalen Erinnerungspolitiken seit dem Zweiten Weltkrieg eigene Abschnitte gewidmet sind. So wenig überraschend hier die Schwerpunkte gesetzt sind, erlaubt dieser Aufbau doch jederzeit Querbezüge, Vergleiche und Zusammenschau.

Mitteleuropa erscheint wie ein Spielplan, auf dem Figuren hin- und hergeschoben werden, die jeweils für ganze Volksgruppen stehen. Die Nationalsozialisten bildeten die Speerspitze des nationalen Homogenisierungswahns, sorgten mit der „Heim-ins-Reich“-Politik für Beispiele verharmlosender Propaganda bei rücksichtsloser Umsetzung und schufen mit der Zwangsumsiedlung der „Volksdeutschen“ aus Südosteuropa vielfach erst die Leerstellen, die wenig später Zwangsumsiedlungen weiterer Minderheiten ermöglichten. Besonders hart traf es dabei Gebiete, in denen sich die sowjetischen und deutschen Besatzungen ablösten (wie die polnischen Ostgebiete) sowie Territorien, deren Machthaber wiederholt wechselten (wie Bessarabien, die nördliche Bukowina und Dobrudja). Mit den Machthabern wechselte die Minderheitentoleranz, und so wurden beispielsweise Bulgaren in Rumänien, Rumänen in Bulgarien, Ungarn in Bosnien in den jeweiligen Randgebieten zur Manövriermasse bilateraler Verträge. In wenigen anderen Kontexten wird die fatale „Sandwich“-Position der osteuropäischen Länder zwischen zwei totalitären, menschenverachtenden Systemen, ihre komplizierte Verstrickung in wechselnde Allianzen so deutlich wie beim Thema der Zwangsmigrationen. Die Motive der Umsiedlungen wiederholen sich und bleiben Variationen dreier Themen: die „Rückführung“ von außerhalb der Landesgrenzen lebenden Bevölkerungsteilen, die Abschiebung missliebiger Minderheiten und die Besiedlung von erobertem Land.

Die „Lebensraum“-Politik der Nationalsozialisten wird ausführlich behandelt als eine der Voraussetzungen für die Zwangsumsiedlungen in Mitteleuropa. In der Darstellung wird aber auch nachvollzogen, wie die Idee nationaler Homogenität unabhängig vom Nationalsozialismus Verbreitung fand. Zwangsumsiedlungen aus politischem Kalkül hatten zahlreiche ältere historische Vorläufer. Und doch handelt es sich bei den Zwangsmigrationen in Mitteleuropa während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg um einen dramatischen Kulminationspunkt dieser Praxis.

Wo es um „Rückführung“, Abschiebung oder Besiedlung ging, bemühten sich die Verwalter der Zwangsmigration um geordnete Verfahren, was allerdings in vielen Fällen nicht mit komfortablen oder auch nur akzeptablen Reisebedingungen oder gegebenenfalls der raschen Abwicklung von Kompensationsversprechen gleichgesetzt werden konnte. Auch wenn beispielsweise eine Gruppe von Baltendeutschen im Rahmen der „Heim-ins-Reich“-Umsiedlungen an die Gehöfte vertriebener Polen im Warthegau verwiesen wurde, blieben zahlreiche andere Gruppen in „Zwischenlagern“; Familien und Dorfgemeinschaften wurden getrennt. Ungleich brutaler war das Vorgehen der Deutschen gegenüber der nichtdeutschen Bevölkerung. Unter den im Generalgouvernement neu angesiedelten, aus den besetzten Gebieten vertriebenen Polen schlossen sich viele dem polnischen Widerstand an. Insbesondere die Zwangsaussiedlungen und Zwangsarbeiter-Deportationen von Polen aus der Zamość-Region sind dabei als Fanal deutscher Besatzungsverbrechen in Erinnerung geblieben. Wie manch andere geographische Region oder Minderheitengruppe taucht die Zamość-Region innerhalb des Bandes in unterschiedlichen Kontexten auf, ohne dass Wiederholungen entstehen – im Kapitel zu den Zwangsumsiedlungen der Nationalsozialisten, im Abschnitt zur individuellen Erfahrung der Zwangsmigration sowie bei den Themen Zwangsarbeiter und Erinnerungspolitik. Dies ist einer von vielen Belegen für die sorgfältige Textredaktion.

Die Kapitelgliederung folgt einem analytischen Schema und hält sich in der Darstellung gleichzeitig an die Chronologie der Ereignisse. Das Kapitel zu den Bevölkerungsbewegungen während und nach dem Krieg zeigt die Fluchtbewegung, die sich seit dem Frühjahr 1944 vor der heranrückenden Roten Armee in Richtung Westen bewegte. 300.000 Rumänen flohen aus Bessarabien und der Bukowina; als die Rote Armee wenig später die Karpaten erreichte, flohen 400.000 Ungarn und 8.000 „Volksdeutsche“. Im Spätsommer 1944 war in der Ukraine der Punkt einer „immense confusion“ erreicht, und im Herbst 1944 beginnt die Flucht der Deutschen aus den preußischen Ostprovinzen. Von diesem Zeitpunkt an bis in die späten 1940er-Jahre hinein wuchsen die Zahlen der geflohenen und vertriebenen Deutschen und „Volksdeutschen“ mit 12 bis 14 Millionen zu einem Volumen an, das auch in dieser Hochphase der Zwangsumsiedlung ohne Beispiel blieb. Sie teilten ihr Schicksal mit Polen aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion, mit Ukrainern, Litauern und Weißrussen aus Polen, mit Ungarn aus der Slowakei, mit Italienern aus dem Raum Triest. Von Ostpreußen bis Jugoslawien brach sich an vielen Orten die Erinnerung an die während der Besatzung erlittenen Verbrechen in brutalen Racheakten Bahn. Wie sich die Erfahrungen gleichen und wie gleichzeitig jedes Einzelschicksal unvergleichlich dasteht, ist in einem eigenen Kapitel dargestellt.

Durch seinen „Textbook“-Charakter kann das Werk gut mit geringem Vorwissen gelesen werden; das Kapitel zur Bevölkerungspolitik der Achsenmächte beginnt beispielsweise mit der Lage Italiens um 1900 und beschreibt die ideologischen Voraussetzungen des italienischen Faschismus. Derartige Einleitungen schweifen nicht ab, sondern führen geschickt vom Hintergrund zum Eigentlichen. Mit dieser Art des Kapitelaufbaus lässt sich auch das breite Themenspektrum elegant bewältigen, denn die Bezugnahme auf die ideologischen Hintergründe hebt die Ähnlichkeit der Fälle in Europa hervor, ohne zu relativieren, und erleichtert konsequent die gesamteuropäische Einordnung. Der europäische Blickwinkel ist hier überall nachvollziehbar vorherrschend, ohne dass über nationale Besonderheiten hinweggegangen wird.

Die große Stärke des Buches ist die Darstellung, weniger die Auslotung historiographischer Möglichkeiten zum Thema. Reflexionen über Thesen der Forschung, Diskussionen verschiedener Ansätze, Versuche zur Einordnung der europäischen Zwangsmigrationen über den zeitgeschichtlichen Hintergrund hinaus sind kaum zu finden und hier wohl auch nicht angestrebt. Als eine gründliche und doch konzise Einführung in das Vertreibungsgeschehen während und nach dem Zweiten Weltkrieg in konsequent europäischer Perspektive ist das Buch sehr empfehlenswert. Die Literaturauswahl ist überschaubar und aktuell und in ihrer internationalen Reichweite eine Besonderheit. Die große Chance, die sich mit der engen Kooperation von Historikern aus verschiedenen europäischen Ländern zu diesem national übergreifenden Thema insbesondere für die Rezeption der Forschungsliteratur ergeben hat, ist in fast allen Kapiteln des Bandes genutzt worden.