A. Steidl u.a. (Hrsg.): European Mobility

Titel
European Mobility. Internal, International, and Transatlantic Moves in the 19th and Early 20th Centuries


Herausgeber
Steidl, Annemarie u.a.
Reihe
Transkulturelle Perspektiven 8
Erschienen
Göttingen 2009: V&R unipress
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 31,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Beer, Forschungsbereich Zeitgeschichte, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen

Auch der Blick der historischen Migrationsforschung auf die Neuzeit ist über weite Strecken vom Nationalstaatsparadigma bestimmt. Dieses Merkmal zeichnet nicht nur, aber im Besonderen die Forschung zum europäischen Migrationsgeschehen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts aus. Staaten und ihre Grenzen bilden bis in die Gegenwart den bestimmenden Rahmen für den überwiegenden Teil der Untersuchungen. Mit der in der Forschung eingeführten Formulierung eines „methodologischen Nationalismus“ ist diese Entwicklung treffend charakterisiert worden.

Ein zweites Merkmal kommt hinzu: Der Fokus der historischen Migrationsforschung zum „Jahrhundert des Nationalismus“ liegt im Wesentlichen auf den transatlantischen Migrationen. Im Mittelpunkt stehen die geschätzten 50 Millionen Auswanderer aus einer Reihe europäischer Staaten, die im 19. Jahrhundert und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs Europa in Ost-West-Richtung, vorwiegend in die USA verlassen haben. Demgegenüber interessieren die auch quantitativ umfangreicheren europäischen Binnen- und die kontinentalen West-Ost-Migrationen dieser Zeit viel weniger. Das gilt auch für die unübersehbaren Zusammenhänge dieser Wanderungsbewegungen mit den transatlantischen Migrationen.

Der so genannte Salzwasservorhang ist ein drittes Merkmal, das die einschlägige Forschung kennzeichnet. Damit wird die Trennung in zwei weitgehend separate Stränge bildhaft umschrieben: Der eine konzentriert sich auf die Voraussetzungen und die Motivationen für das Auswanderungsgeschehen in den einzelnen europäischen Staaten. Der andere, vorwiegend von US-amerikanischen Forschern getragene fragt nach den Folgen der europäischen Migrationen für die USA, also nach den Akulturations-, Integrations- und Assimilationsprozessen der Einwanderer und den Auswirkungen dieser Prozesse auf die Entwicklung der USA.

Der vorliegende, von Annemarie Steidl überzeugend eingeleitete Band ist Ausdruck der seit geraumer Zeit erhobenen, aber erst vereinzelt in Studien umgesetzten Forderung, die skizzierten, in der einschlägigen Forschung vorhandenen mehrfachen Trennungslinien zu überwinden. Er ist das Ergebnis einer Tagung vom Dezember 2003, die im Rahmen eines größeren Forschungsvorhabens an der Universität Salzburg zum Thema „Migration nach Nordamerika, Binnenmigration und demographische Strukturen im späten kaiserlichen Österreich“ stattgefunden hat. An der Tagung waren Wissenschaftler aus Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Schweden, Ungarn und den USA beteiligt. Wie das unter der Leitung von Josef Ehmer durchgeführte Projekt selbst ist der aus der Tagung hervorgegangene Sammelband einem integrativen Ansatz verpflichtet. Er hat alle Formen von Migration als Teil geographischer Mobilität im Blick und fragt unter Einbeziehung von makro- und mikrogeschichtlichen Studien nach den Beziehungen zwischen den einzelnen Migrationen. Insofern ist der Titel des Bandes Programm.

Der Band vereinigt Fallbeispiele mit unterschiedlichem methodischem Zugang, die Migrationen untersuchen, die ihren Ausgangspunkt und manchmal ihren Endpunkt in einer ganzen Reihe von europäischen Regionen und Staaten oder in den USA haben. Nicht nur dem Plädoyer von Dirk Hoerder folgend, Migrationen sowohl als grenzüberschreitende Systeme als auch als Ausdruck individueller Lebensentwürfe zu analysieren, ist es Ziel des Bandes, den Blick der Forschung auf die Beziehungen zwischen Binnen-, kontinentaler und transkontinentaler Migration zu richten und die damit verbundenen neuen Einsichten zur Migration als multidimensionalem Phänomen zur Diskussion zu stellen.

Die 13 Beiträge sind thematisch drei ungleichen Teilen zugeordnet. Der erste ist mit „Internationale Migrationen innerhalb Europas“ überschrieben und umfasst zwei Beiträge. Angiolina Arru stellt in ihrem Aufsatz zwei Migranten vor, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Königreich Neapel nach Rom gezogen sind. Das Netzwerk, dem sie dabei innerhalb einer Region oder staatenübergreifend folgten, war von dem Eingebundensein in Kreditgeschäfte bestimmt, an denen sie entweder als Debitor oder Kreditor beteiligt waren. Lars Olsson wählt das Fallbeispiel eines saisonalen Migrationssystems des frühen 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund einer beträchtlichen Auswanderung aus Schweden in die USA: die Kaolin-Verarbeitung im südlichen Schweden. Ein Teil der dort tätigen Arbeitskräfte kam aus dem der Habsburgermonarchie zugehörigen Galizien. Auf der Grundlage vor allem von Interviews gelingt ihm eine detaillierte Analyse der Anwerbung, der Lebensbedingungen sowie der sozialen Differenzierung innerhalb der polnischen Arbeitsmigranten in Schweden.

Dem zweiten Teil des Bandes – „Internationale Migration von Europa nach Amerika“ – sind fünf Aufsätze zugeordnet. Als Ergebnis seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema ist es das Anliegen Dirk Hoerders, die Begrenztheit eines Ansatzes zu verdeutlichen, der staatliche Strukturen und staatliches Handeln als den maßgeblichen Rahmen für den Ablauf der weltweiten Arbeitsmigrationsprozesse betrachtet. Er hebt, gestützt auf Egodokumente skandinavischer Migranten des 19. und 20. Jahrhunderts, die nach Kanada gezogen sind, den Stellenwert persönlicher Lebensentwürfe hervor, die wiederum Migrationsstrukturen veränderten. Auf der Grundlage quantitativer und qualitativer Daten von rund 5000 Amerikaauswanderern aus dem südwestdeutschen Württemberg hinterfragt Jochen Krebber das System der Kettenmigration. In überzeugender Weise gelingt es ihm zu zeigen, dass sich die Religionszugehörigkeit, die soziale Stellung sowie die wirtschaftliche Potenz und die beruflichen Fähigkeiten wesentlich auf die Entscheidung der Migranten hinsichtlich der gewählten Reiseroute und für ein bestimmtes Ansiedlungsgebiet ausgewirkt haben. Einen migrationsgeschichtlichen mit einem migrationswissenschaftlichen Ansatz verbindet Adam Walaszek. Indem er die Ergebnisse der 1938 von der Soziologin Krystyna Duda-Dziewierz vorgelegten Migrationsstudie zur Bevölkerung des westgalizischen Dorfes Babiczans aufgreift, plädiert er für die Methode der „dichten Beschreibung“. Mit ihr und der Fokussierung auf einzelne Lebensgeschichten gelinge es, ein deutlich differenziertes Bild von Migrationsentscheidungen und Migrationsprozessen zu erhalten.

Eine andere Perspektive als die meisten der Aufsätze wählt Stan Nadel in seinem Beitrag. Ihn interessieren die Migrationen von europäischen USA-Einwanderern zurück in ihr Herkunftsgebiet und insbesondere innerhalb der USA. Dabei hebt er den Stellenwert der Migrationserfahrung der Amerika-Auswanderer als Voraussetzung für die Mobilitätsprozesse in den USA hervor. Tibor Frank stellt die Bedeutung der Arbeiten des Anthropologen Franz Boas im Rahmen der Dillingham-Kommission heraus, mit der die US-amerikanische Regierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die wachsende Fremdenfeindlichkeit gegenüber den neuen, vorwiegend osteuropäischen Einwanderern reagierte.

Mit „Beziehungen zwischen Binnen-, internationaler und transatlantischer Migration“ ist der dritte Teil des Bandes überschrieben. Er umfasst sechs Beiträge. Einen Überblick über das Migrationsgeschehen in Italien und die Auswanderung nach Übersee – und hier besonders auch nach Südamerika – bietet Andreina De Clementi. Mit Hilfe der Methode der Familienrekonstruktion lenkt Marie-Pierre Arrizabalga den Blick auf die Chancen, die sich der Bevölkerung im französischen Baskenland im 19. Jahrhundert bei ihrer Migrationsentscheidung boten. Sie reichten vom Nachbardorf über die nächste Stadt bis hin zu regional bedeutenden Städten oder der temporären bzw. dauerhaften Migration nach Nord- und Südamerika. Ein transnationaler und vergleichender Ansatz liegt dem quellengesättigten Beitrag von Brian McCook zu Grunde. Er vergleicht einerseits die als Folge von Migrationen im Ruhrgebiet und in Pennsylvania entstandenen polnischen Gemeinschaften und fragt andererseits nach dem Einfluss der polnischen Remigranten auf die Gesellschaft ihrer Herkunftsgebiete. Am Beispiel der preußischen Provinz Posen untersucht Dorota Praszałowicz das Verhältnis von Nationalität, Ethnizität und Religion bei Migrationsentscheidungen der polnischen Bevölkerung dieser Provinz. Hermann Zeitlhofers Blick ist auf das Migrationsgeschehen in Böhmen gerichtet. Gestützt auf quantitative Quellen kann er zeigen, dass auch für transatlantische Migranten aus Böhmen diese Wanderung nicht alternativlos war. Den Band schließt der Aufsatz von Annemarie Steidl, in dem sie Ergebnisse des Salzburger Forschungsprojekts vorstellt. Mit Hilfe der Auswertung von Passagierlisten kann sie Unterschiede herausarbeiten, die es zwischen den Migranten aus verschiedenen Teilen der österreichischen Monarchie gab, die in die USA auswanderten.

Fazit: Nicht jeder Beitrag stellt neue Forschungsergebnisse zur Diskussion. Nicht alle Autoren folgen dem Konzept der Herausgeber. Auch kann der Band nur eine kleine Auswahl aus dem breiten Spektrum der europäischen Mobilität im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Blick haben, wobei auffällt, dass Südosteuropa nicht vertreten ist. Aber zusammengenommen lassen die Aufsätze die Vorteile erkennen, die eine Überwindung der Abschottung der Forschung in nationale Sichtweisen, der strikten Trennung zwischen Auswanderungsprozessen und allgemeiner Mobilität sowie der Fixierung auf den Staat als den maßgeblichen Akteur zur Folge haben kann. Kurzum: ein anregender Band, der spät, aber nicht zu spät kommt und der eine Phase des Umbruchs und der Neuorientierung in der Migrationsforschung dokumentiert.