B. M. Felder: Lettland im Zweiten Weltkrieg

Cover
Titel
Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940-1946


Autor(en)
Felder, Björn Michael
Reihe
Krieg in der Geschichte 43
Erschienen
Paderborn 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rayk Einax, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Erst war das Baltikum vor genau 70 Jahren Verhandlungsobjekt im Hitler-Stalin-Pakt, und anschließend diente es als die Schaubühne der brutalen Auseinandersetzung zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen Regime. Dem Autor Björn Felder zufolge nahmen die von „nationalen Katastrophen“ (S. 15) heimgesuchten baltischen Nationen jedoch kaum Unterschiede in der Herrschaftspraxis der Okkupationsmächte wahr. Beide Besatzer hatten totale gesellschaftliche Umwälzungen samt der Mittel ihrer repressiven Umsetzung im Marschgepäck. Den neu an die Macht gekommenen Eliten, auf die beide ihre Herrschaft stützen konnten, wurde hingegen die Selbstbestimmung weitestgehend verweigert. Leidtragende der Aufteilung Ostmitteleuropas sowie des anschließenden Weltkrieges waren vor allem Zivilisten.

In der vorliegenden Dissertationsschrift steht Lettland also als pars pro toto, das heißt, es ist ein überaus anschauliches Beispiel für den von außen in die gesamte Region hineingetragenen Furor ab 1939, der auch 1946 noch kein Ende fand. Der Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Besatzungspraxis ist folgerichtig und soll vor allem ethnische Raster in der Wahrnehmung des beherrschten Landes und den kolonialen Umgang mit der ansässigen Bevölkerung sichtbar machen. Die „Okkupationen“ werden nicht zuletzt aus der Perspektive der lettischen Bevölkerung sowie deren Handlungsoptionen und -motiven dargestellt. Der schnelle und unübersichtliche Wechsel der Herrschaft macht sinnfällig, dass simple Täter-Opfer-Schablonen hierbei ungeeignet sind.

Ausgehend vom Hitler-Stalin-Pakt und der anschließenden Kongruenz der Ereignisse 1939-1941 in Finnland, Estland, und Litauen schildert Felder detailliert die Machtübernahme und die folgende, mit Terror und umfangreichen Deportationen einhergehende Sowjetisierung in Lettland – nicht nur in der Hauptstadt Riga. Hinterfragt wird in diesem Zusammenhang vor allem die sowjetische Rechtfertigungspropaganda, die bestrebt war, Legitimität und Ordnung zu simulieren. Der sowjetische Einmarsch sei gerade unter Nichtletten, das heißt den jüdischen und russischstämmigen Einwohnern des Landes auf Zustimmung gestoßen. Vor allem diese ethnischen Minderheiten hätten die sowjetische Besatzer auf Grund unterschiedlicher Motivationen zunächst für sich mobilisieren können. Dies führte zu einer augenfälligen Unterbesetzung der Partei- und Staatsorgane mit Letten, wenn man den entsprechenden Mitgliedsstatistiken trauen kann. Im ethnischen Verständnis Stalins bzw. der Bolschewiki entwickelten sich Letten dagegen, neben anderen Nationalitäten, schrittweise zu einer „Feindnation“, was auch der in der Sowjetunion verbliebenen lettischen Bevölkerung in den 1930er-Jahren schmerzhaft bewusst gemacht worden sei. Lediglich einige lettische Kommunisten, allesamt Sympathisanten der stalinistischen Ordnungsvorstellungen, dienten der Machtübernahme als Feigenblatt. Lettland habe unter diesem Gesichtspunkt jedenfalls langfristig vor der Entwicklung zu einer ethnisch separierten „sowjetischen Republik der Nichtletten“ (S. 99) gestanden.1

Breiten Raum widmet der Autor den Ereignissen im „Jahr des Grauens“ 1940/41 2, denen im heutigen Lettland durchaus Qualitäten eines „Genozids“ bescheinigt werden.3 Um politische Gegner verfolgen und potentiellen Widerstand ersticken zu können, war die rechtzeitige Feinderkennung und -vernichtung im stalinistischen Regime traditionell von großer Bedeutung. Darunter fielen eben auch pauschal verschiedene Ethnien. Deshalb hatten die Massendeportationen vom Mai 1941 ihre eigene, entsetzliche Logik und hätten somit die „Grundlinien stalinistischer Bevölkerungspolitik“ (S. 140) deutlich aufgezeigt. Wie Felder durch verschiedene Beispiele ausführt, sei den Letten unter der als „russisch“ empfundenen Fremdherrschaft – in Anbetracht des eklatanten Mangels an einheimischen Kadern in der Kommunistischen Partei und in der Verwaltung – nichts anderes übriggeblieben, als sich entweder den neuen Verhältnissen anzupassen, mit all den hässlichen Erscheinungen der Kollaboration und des Konjunkturrittertums, oder aber, wo dies überhaupt möglich war, sich dezent zu verweigern.

Wie der nächste Abschnitt anführt, war bereits im „Generalplan Ost“ dokumentiert, was diesem Teil des europäischen Kontinents von Seiten einer nationalsozialistischen Besetzung drohte.4 Die rassistisch-ideologischen Grundlagen des Planes zeigten auch den Weg in die Siedlungs- und Vernichtungspolitik auf lettischem Boden 1941-1945 auf. Wichtiges Moment bei der Einbindung der lokalen Bevölkerung in den Holocaust war die propagandistische Aufstachelung gegen „Juden“ und „Kommunisten“ und die Aufstellung von (para-)militärischen Formationen wie dem „Arājs-Kommando“, welche dabei helfen sollten, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik vor Ort umzusetzen. An dieser Stelle lässt der Autor eine detaillierte organisatorische Studie einfließen. Sie unterstreicht den rassistischen Charakter, von dem der neue Besatzungsalltag im Gegensatz zur vorrangegangenen sowjetischen Episode grundlegend geprägt war. Die Bereitschaft der einheimischen Kollaborateure wie zum Beispiel der „Donnerkreuzler“ zur Zusammenarbeit und ihre ambivalente Rolle seien heute nur vor dem Hintergrund ihrer nationalen und antikommunistischen Überzeugungen zu begreifen. Antisowjetische und antikommunistische Einstellungen waren innerhalb der gesamten (lettländischen) Gesellschaft Konsens. Nicht zuletzt deswegen kehrten viele Beamte, die bereits bis 1940 unter dem autoritären Staatsführer Ulmanis gedient hatten, unter deutscher Befehlshoheit auf ihre Posten zurück. Bemühungen, auf diese Weise, oder durch die Aufstellung einer „Lettischen Legion“ der SS wenigstens einige Zugeständnisse und mehr Autonomierechte von der deutschen Besatzungsverwaltung zu erhalten, hätten sich aber bis Kriegsende nicht ausgezahlt.

Angesichts der Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzungszeit stieß aber auch ein weiteres Ziel auf breite Zustimmung: die ethnische Homogenität Lettlands. Neben der offenbaren Machtlosigkeit sei nicht zuletzt aus diesem Grund kaum Widerstand gegen die antisemitische Ausrottungspolitik der deutschen Besatzer erfolgt, teilweise wurde sich sogar aktiv an der Judenverfolgung beteiligt.5 Dennoch waren verschiedene Formen widerständigen Verhaltens anzutreffen. In diesem theoretisch unzureichend reflektierten Kapitel geht Felder auf diverse Phänomene ein – von Protesten gegen die miserable Versorgungslage, Ausplünderungen, Nepotismus, Zwangsrekrutierungen zum Arbeitsdienst und der alltäglichen rassischen Abwertung der lettischen Bevölkerung über national-patriotische Manifestationen an den Feiertagen und der individuellen Hilfe für Juden und sowjetische Kriegsgefangene bis hin zu offener Verweigerung und Fahnenflucht. Darüber hinaus bildeten sich illegale Organisationen und politische Sammlungsbewegungen.

Den Abschluss bilden Ausführungen über die Wiedereroberung Lettlands ab 1942. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt begann sich laut Felder die sowjetische Untergrundbewegung zu regen. Diese sorgte für eine zusätzliche Verschärfung der alltäglichen Gewalt und richtete ihren Terror von Beginn an auch gegen die Zivilbevölkerung. Die erneut einsetzende Sowjetisierung nach 1944 wird nur kursorisch ausgeführt, sind doch die Entwicklungen anhand vieler ähnelnder Aspekte schon 1940/41 – wenn damals auch unter verschärften politischen und chronologischen Bedingungen – abzulesen. Die Nachkriegsjahre sind so ebenfalls von der elementaren Erfahrung von Gewaltregime und Deportationszügen geprägt. Allerdings regte sich dagegen bis Anfang der 1950er-Jahre bewaffneter Widerstand.6 Somit habe mit dem Sieg der Sowjetunion der 2. Weltkrieg für Lettland am 8. Mai 1945 noch lange nicht geendet, sondern war lediglich Ausgangspunkt für erneuten Terror und für eine stetig zunehmende Russifizierung der Gesellschaft.

Die Ergebnisse der Studie bestätigen in vielerlei Hinsicht die Positionen der „Historikerkommission Lettlands“ bzw. deren Publikationen.7 Dies gilt auch für den etwas inflationären Gebrauch des Totalitarismusbegriffs, ohne dass dies eingehender thematisiert wird. Wenn aber durchweg und ganz beiläufig die Rede von totalitären „Mächten“, „Okkupationen“, „Großmächten“, „Herrschern“ und „Besatzungsregimen“ ist (zum Beispiel S. 15-25), kommt der Leser hierzulande ohne eine ausreichende Definierung oder Kontextualisierung schon ein wenig ins Grübeln. Auffällig ist zudem die durchgängige Verwendung der deutschen Ortsnamen (zum Beispiel Rositten statt Rēzekne), auch wenn es in Lettland zu diesem Zeitpunkt kaum noch Deutschbalten gab, und dies im sowjetischen Kontext erst recht etwas seltsam anmutet. Gelungen sind die vielfachen Querblenden auf das Schicksal der anderen baltischen Staaten oder auf die gesamte Sowjetunion, deren Bevölkerung in eben diesen Jahren gleichfalls unter Terror und Deportationen zu leiden hatte. Komplettiert wird der Band von einigen Schwarz-Weiß-Fotografien.

Um bei dem insgesamt wohlwollenden Fazit zu bleiben: Im Vergleich zu den anderen baltischen Ländern liegt mit dieser Monografie eine aufwändig quellenrecherchierte Studie vor. Gerade durch die symbiotische Untersuchung lettischer Erfahrungshorizonte unter deutscher und sowjetischer Besatzungswillkür ist sie bis dato die zeitlich kompakteste und umfangreichste Darstellung.

Anmerkungen:
1 Vgl. Daina Bleiere u.a. (Hrsg.), History of Latvia. The 20th Century, Riga 2006, S. 243-271.
2 Diese Bezeichnung ist auch Titel einer NS-Propagandaschrift aus dem Jahr 1943, in der die sowjetischen Verbrechen in den Jahren 1940/41 ausgeschlachtet werden sollten. Siehe: Das Jahr des Grauens. Lettland unter der Herrschaft des Bolschewismus 1940/41, hrsg. v. Paul Kovaļevskis u.a. Riga 1943.
3 Vgl. Markus Lux, "Das Jahr des Grauens". Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Lettland, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 807-818.
4 Zur nationalsozialistischen Besetzung Lettlands vgl. Bleiere u.a. (Hrsg.), History, S. 263-322.
5 Vgl. Andrew Ezergailis, The Holocaust in Latvia 1941-1944. The Missing Center, Riga 1996; Andrej Angrick; Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Darmstadt 2006.
6 Vgl. Bleiere u.a. (Hrsg.), History, S. 323-371.
7 Vgl. The Hidden and Forbidden History of Latvia under Soviet and Nazi Occupations 1940-1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia, hrsg. vom Institute of the History of Latvia, University of Latvia, Riga 2005; zum Thema 2. Weltkrieg und die aktuelle Erinnerungskultur in Lettland siehe u. a. Latvijas Okupācijas Muzejs. Latvija zem Padomju savienības un nacionālsociālistiskās Vācijas varas 1940-1991, Museum of the Occupation of Latvia. Latvia under the Rule of the Soviet Union and National Socialist Germany 1940-1991, Rīga 2002; Eva-Clarita Onken, Demokratisierung der Geschichte in Lettland. Staatsbürgerliches Bewusstsein und Geschichtspolitik im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit, Hamburg 2003; dies., Wahrnehmung und Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in Lettland nach 1945, in: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, hrsg. von Monika Flacke, Bd. 2, Mainz 2004, S. 671-692.

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