H.-J. Grabbe u.a. (Hrsg.): The Merits of Memory

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Titel
The Merits of Memory. Concepts, Contexts, Debates


Herausgeber
Grabbe, Hans-Jürgen; Schindler, Sabine
Reihe
American Studies - A Monograph Series 143
Erschienen
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Zierold, International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität Gießen

Das Themenfeld ‚Gedächtnis und Erinnerung’ hat sich in den Kulturwissenschaften in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten zweifellos zu einem hochgradig produktiven Schwerpunkt entwickelt; die Rede vom ‚memory boom’, einer ‚memory industry’ oder auch einem neuen ‚Paradigma’ macht seit geraumer Zeit die Runde. Doch auch nach über 20 Jahren intensiver Forschung und einer schier unüberschaubaren Publikationsmenge bleiben die grundlegenden theoretischen Konzepte der Erinnerungsforschung oft ungeklärt.1 Fast schon rituell findet sich in zahllosen Beiträgen zum Gedächtnisdiskurs jeweils in den Einleitungen oder im Ausblick ein Desiderat, das auch Udo J. Hebel am Schluss des vorliegenden Sammelbandes formuliert: „First and foremost, there seems to be the continued, almost expected, need and desire to further clarify the theoretical concept of ‘memory’ itself.“ (S. 390) Der von Hans-Jürgen Grabbe und Sabine Schindler herausgegebene Band nimmt immerhin für sich in Anspruch, gleichermaßen theoretische wie empirische Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung zu leisten, wobei der Schwerpunkt auf Themen der Amerikanistik liegt. Als zentraler Bezug dienen vor allem die Arbeiten von Maurice Halbwachs und Pierre Nora. Insbesondere Noras Konzept der ‚lieux de mémoire’ wird wiederholt explizit für Anschlüsse, jedoch auch zur kritischen Abgrenzung genutzt.

Die Artikel, die aus einer 2005 in Wittenberg veranstalteten Konferenz hervorgegangen sind, gliedern sich in sechs Themenfelder, die durch den bereits erwähnten Forschungsausblick von Hebel ergänzt werden. In einem ersten Schwerpunkt befassen sich Jens Klenner, Juliane Schwarz-Bierschenk und David Glassberg jeweils eingehender mit dem Konzept der ‚lieux de mémoire’ und arbeiten sich dabei vor allem an klassischen Kritikpunkten hinsichtlich Noras Konzept ab. So gelingt es Klenner, Nora mithilfe von Michel de Certeaus Raumbegriff produktiv zu ergänzen und neben der statischen Monumentalität von ‚Erinnerungsorten’ auch spontane Praktiken der Erinnerung an diesen Orten in den Blick zu nehmen. Schwarz-Bierschenk hebt auf die Transkulturalität von Erinnerung ab, die sie am Beispiel hispanischer Identitäten in New Mexico herausarbeitet. Glassberg schließlich widmet sich der Frage, was spezifisch ‚amerikanisch’ an amerikanischen Erinnerungsorten sei bzw. sein könne, und kommt zu dem ambivalenten Schluss, dass es zwar durchaus so etwas wie ‚typisch amerikanische’ Erinnerungskultur gebe, dass sich die Unterschiede zu anderen Kulturen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert jedoch nivellierten. Glassberg befasst sich nicht zuletzt mit der in der Erinnerungsforschung sonst oft vernachlässigten Populärkultur2, die er als eine Quelle spezifisch amerikanischer Erinnerung wie auch transkultureller Ähnlichkeiten beschreibt (S. 70f.).

Der zweite Themenblock des Bandes fokussiert Beziehungen zwischen ‚Gedächtnis’ und ‚Geschichte’, die sowohl Halbwachs als auch Nora in klarer Opposition modelliert haben. Im vorliegenden Sammelband wird ein komplexeres und ambivalenteres Bild gezeichnet, indem die Opposition Geschichte versus Gedächtnis jeweils um ein weiteres Konzept ergänzt wird: Im Mittelpunkt stehen dabei die Begriffe ‚Zeit’ (im Beitrag von Patrick H. Hutton), ‚Generation’ (Jay M. Winter) und ‚Zivilisation’ (Peter Carrier).

Die Beziehung von Gedächtnis und Politik, ein weiteres traditionsreiches Themenfeld, bildet den dritten Schwerpunkt, für den Max Paul Friedman und Kerwin Lee Klein Beiträge verfasst haben. Während sich Friedman mit der Funktion von historischen Narrativen für das politische System befasst, arbeitet Klein in seinem originellen Artikel heraus, welche Analogien zwischen den Begriffen und Redeweisen des kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskurses und der Rhetorik der amerikanischen ‚New Right’ bestehen. Hier wird mit Nachdruck deutlich gemacht, dass nicht nur gesellschaftliche Erinnerung politisch ist, sondern auch deren wissenschaftliche Analyse.

Während diese ersten drei Teile des Sammelbandes vor allem theoretisch-konzeptionelle Fragen bearbeiten, hat die Mehrheit der Beiträge in den folgenden Abschnitten eher den Charakter von Fallstudien und liefert so Beispiele für Analysefelder amerikanistischer Erinnerungsforschung – wenngleich auch diese immer wieder auf theoretisch-methodische Fragen eingehen. Dabei liegen die Schwerpunkte auf ‚Traveling Memories’ und den Themen Immigration und Ethnizität (Abschnitt IV), dem Verhältnis von individueller Erinnerung und Geschichte bzw. gesellschaftlichem Gedächtnis (Abschnitt V) sowie abschließend Darstellungen von Erinnerung etwa in Museen, aber auch in Filmen und digitalen Medien (Abschnitt VI). Abschließend gibt Udo Hebel den bereits angesprochenen, eher knapp gehaltenen Ausblick auf Forschungsdesiderate für die Erinnerungsforschung insgesamt, aber vor allem für Projekte der Amerikanistik. Hebel fasst auch noch einmal den Anspruch der Konferenz zusammen, auf der der Band beruht: „[T]he declared purpose of the symposium was to assess the possibilities and limits of the transdiciplinary perspectives and theoretical agendas of memory studies.“ (S. 389)

Gemessen an diesem – zweifellos hochgesteckten – Ziel kann wohl jede konkrete Tagung, jede Publikation nur teilweise erfolgreich sein. Der Zeitpunkt für eine (Zwischen-)Bilanz der Erinnerungsforschung jedenfalls scheint gut gewählt, gibt es doch vermehrt Stimmen, die die ‚memory studies’ an einem kritischen Punkt angekommen sehen, an dem sich der zukünftige Erfolg oder auch ein Ende des Booms entscheiden werde. Der amerikanische Historiker Gavriel D. Rosenfeld etwa prognostizierte nach den Höhenflügen der Erinnerungsforschung der Vergangenheit jüngst einen Rückgang von Arbeiten aus diesem Feld – wenn nicht als „crash“, so doch immerhin als „soft landing“.3 Vor diesem Hintergrund bietet der vorliegende Band eine produktive Sammlung von Perspektiven der Erinnerungsforschung, die ein breites Bild des Diskurses vermitteln und wichtige Problemfelder herausarbeiten. Insbesondere angesichts des im Band selbst formulierten Defizits an Theoriebildung überrascht es jedoch, dass wichtige neuere Beiträge auf diesem Feld nach Nora und Halbwachs nicht oder bestenfalls am Rande diskutiert werden – etwa die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann, Astrid Erll oder auch eher soziologisch orientierte Entwürfe wie derjenige von Elena Esposito, um nur einige zu nennen.4 Zudem bleibt es in den Aufsätzen meist bei einer Sichtung und Bewertung von Bestehendem. Genuin neue (vor allem theoretische oder methodische) Perspektiven werden kaum entwickelt, so dass sich der Band in die bestehende Diskussion einfügt, ohne dabei mehrheitlich (jenseits der Amerikanistik als fachlicher Begrenzung) innovative und überraschende Schwerpunkte zu setzen.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch Kerwin Lee Klein, On the Emergence of Memory in Historical Discourse, in: Representations 69 (2000), S. 127-150, oder Wulf Kansteiner, Finding Meaning in Memory: A Methodological Critique of Collective Memory Studies, in: History and Theory 41 (2002), S. 179-197.
2 Eine Sammlung von Studien zu Populärkultur und Erinnerung findet sich in: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft (SPIEL) 24 (2008) H. 2: Populäre Kultur und soziales Gedächtnis. Theoretische und exemplarische Überlegungen zur dauervergesslichen Erinnerungsmaschine Pop, hrsg. von Martin Zierold und Christoph Jacke.
3 Gavriel D. Rosenfeld, A Looming Crash or a Soft Landing? Forecasting the Future of the Memory ‚Industry’, in: Journal of Modern History 81 (2009), S. 122-158.
4 Für eine Übersicht neuerer Theorien vgl. beispielsweise Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005.

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