B. Friebertshäuser u.a. (Hrsg.): Reflexive Erziehungswissenschaft

Titel
Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu


Herausgeber
Friebertshäuser, Barbara; Rieger-Ladich, Markus; Wigger, Lothar
Erschienen
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Neu, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Warum, so werden sich einige Leser sicherlich fragen, sollten Historikerinnen und Historiker die Rezension über einen Sammelband lesen, der vordergründig gar nichts mit Bildungsgeschichte zu tun hat, sondern lediglich für die Erziehungswissenschaft „Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu“ anbietet? Und sind die hier versammelten Beiträge einer Tagung zum Thema „Pierre Bourdieu als Provokateur der Erziehungswissenschaft: Rezeptionsformen – Anschlussmöglichkeiten – Forschungsperspektiven“, die 2005 an der Universität Frankfurt am Main stattfand, nicht auch schon ein wenig zu alt, um jetzt noch rezensiert zu werden? Zumindest letztere Frage kann man guten Gewissens verneinen, denn angesichts der Tatsache, dass der Band nun inhaltlich unverändert, nur vermehrt um eine Auswahlbibliographie und eine Linksammlung, in zweiter Auflage erscheint, kann von mangelnder Aktualität keine Rede sein. Neben der offenbar großen Nachfrage ist es aber auch die Qualität des Buches, die es dem Rezensenten sinnvoll erscheinen lässt, dieses Werk auch über den engeren Kreis der Erziehungswissenschaft hinaus bekannt zu machen. Denn die Gesamtheit der Beiträge liefert wesentliche Anregungen auch für die genuin historische Erforschung von Bildung und Erziehung.

Zunächst zum eigentlichen Anliegen der Herausgeber. Sie möchten erste Bausteine zu einer „künftigen, erst noch zu entwickelnden Wissenspraxis“ (S. 14) liefern, die „reflexive Erziehungswissenschaft“ heißen soll. Reflexivität wird – wie Untertitel und Tagungsthema schon anzeigen – im Anschluss an Pierre Bourdieu verstanden als eine „Bewegung der Rückwendung, in der die Akteure des wissenschaftlichen Feldes jene typischen Verkennungen noch in den Blick zu bekommen versuchen, die ihre Forschungstätigkeit nachhaltig prägen“. Es handelt sich mithin um den Versuch, „das akademische Unbewusste aufzuklären“ (S. 12), mit dem doppelten Ziel, durch diese (Selbst-)Aufklärung „die wissenschaftliche Forschung sowohl gegenüber den Versuchen der Instrumentalisierung etwa durch das politische oder das ökonomische Feld zu stärken als auch gegenüber den Verführungen, die von der Eigenlogik des wissenschaftlichen Feldes selbst ausgehen, weitgehend zu immunisieren“ (S. 11). Aber nicht nur die Kategorie der ‚Reflexivität’ wird von Bourdieu übernommen, sondern auch sein sozialtheoretisches Analyseinstrumentarium wird in den einzelnen Aufsätzen auf unterschiedlichste Weise als Mittel zu diesem Zweck eingesetzt: Dabei werden vor allem die beiden Zentralbegriffe ‚Habitus’ und ‚Feld’ in Anschlag gebracht.

An dieser Stelle soll nicht erörtert werden, ob das Konzept einer im skizzierten Sinne notwendig ‚reflexiv’ verfassten und arbeitenden Erziehungswissenschaft überzeugen kann und ob die Einzelbeiträge dieses ambitionierte Programm auch einzulösen vermögen. Stattdessen soll – in einer notwendigerweise sehr selektiven Lesart – an zwei Punkten aufgezeigt werden, warum es für (Bildungs-)HistorikerInnen lohnend und weiterführend sein kann, sich mit den Perspektiven einer reflexiven Erziehungswissenschaft auseinanderzusetzen, die der Band versammelt.

Der erste Punkt ist auf einer theoretischen Ebene angesiedelt und betrifft die Frage, wie sich der Forschungsgegenstand der Historischen Bildungsforschung in konzeptioneller Hinsicht verändert, wenn man eine Untersuchungsperspektive im Rahmen des ‚praxeologischen‘ Ansatzes von Bourdieu einnimmt. Ein solcher Versuch führt, wie Eckart Liebau nachdrücklich aufzeigt („Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen“, S. 41-58), auf Seiten der Pädagogik zu „schmerzlichen Desillusionierungen“ (S. 56), denn Bourdieus Forschungen zeigen, dass das Bildungssystem – trotz gegenteiliger Selbstbeschreibung – nicht auf Chancengleichheit und pädagogischer Autonomie beruht. Im Gegenteil sei nicht nur eine „(relative) Willkürlichkeit der im Bildungssystem geltenden Werte, Ziele und Inhalte“ (S. 54) festzustellen, sondern dem Bildungssystem komme gerade wegen seiner Konzentration auf die Individuen eine Schlüsselstellung in der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu. Dabei ist es vor allem das Habituskonzept, das „empirisch tragfähige Antworten“ für das Phänomen der „Gleichzeitigkeit von vollständiger Individualität und vollständiger Gesellschaftlichkeit in der menschlichen Entwicklung und Bildung“ (S. 43) zu liefern vermag. Auch Lothar Wigger („Habitus und Bildung. Einige Überlegungen zum Zusammenhang von Habitusformationen und Bildungsprozessen“, S. 101-118) hält die im Habituskonzept angelegte Verschränkung von Sozialität und Individualität für ein wesentliches Erkenntnismittel und kritisiert, dass in der erziehungswissenschaftlichen Forschung „die Gesellschaftlichkeit des individuellen Denkens, Wahrnehmens und Fühlens oft nur als abstrakt-allgemeiner Verweis in den Blick“ (S. 101) komme. Ist Sozialität über den Habitus einmal in die Analyse der Individualität eingeführt, so muss auch die spezifische Form sozialer Verfasstheit thematisiert werden. Dies leistet der Begriff des ‚Feldes‘, und gemäß dem reflexiven Anliegen des Bandes wendet Markus Rieger-Ladich („Pierre Bourdieus Theorie des wissenschaftlichen Feldes: Ein Reflexionsangebot an die Erziehungswissenschaft“, S. 155-174) das Konzept auf die Erziehungswissenschaft selbst an. Unter anderem führe die Beschreibung als „wissenschaftliches Feld“ dazu, dass dessen „agonale Verfasstheit“ deutlich werde, die geprägt sei von „Verteilungskämpfen um je spezifische Objekte des Begehrens“ (S. 157), in diesem Fall um wissenschaftliche Reputation.

Was einer Pädagogik, die auf einem normativen Bildungsbegriff gründet, Schmerzen bereitet, wirkt für die Historische Bildungsforschung vor allem befreiend, denn in dem Moment, wo die Kontingenz der heutigen Pädagogik und ihre Komplizenschaft mit der Reproduktion sozialer Ungleichheit offenbar wird, kann sich die Historische Bildungsforschung vielleicht endgültig von allen normativistischen, essentialistischen und teleologischen Vorannahmen freimachen, die einen genuin historischen Blick auf Erziehung und Bildung teilweise immer noch behindern. Vor allem aber zeigt sich, dass ‚Bildung‘ nicht der Gegenstand einer selbstgenügsamen Spezialdisziplin ist, sondern dass bildungshistorische Fragestellungen, indem sie sich auf Orte, Prozesse und Strukturen der Habitusformierung konzentrieren, auf eine Scharnierstelle der jeweiligen Vergesellschaftungsform bezogen sind und somit Ergebnisse zeitigen können, die weit über das agonal verfasste Feld von Bildung und Erziehung hinaus von Bedeutung sind.

Eine zweite lohnende Perspektive bieten diejenigen Beiträge, die davon berichten, wie die Begriffe Bourdieus in der praktischen Forschungstätigkeit sinnvoll eingesetzt und operationalisiert werden können. Hier besteht in der Tat ein fundamentales praktisches Problem, denn im Gegensatz zum intentionalen Handeln, das für die meisten Historikerinnen und Historiker im Zentrum steht, ist „die habitusspezifische Dimension des Handelns den Akteuren per definitionem weder bewusst, noch kann sie von ihnen begrifflich expliziert werden“ (S. 84), wie Burkard Michel und Jürgen Wittpoth ausführen („Habitus at work. Sinnbildungsprozesse beim Betrachten von Bildern“, S. 81-100). Damit aber fallen „Untersuchungsmethoden, die auf die Introspektion und verbale Selbstauskunft der Erforschten setzen“ (S. 84), als Erkenntniswerkzeuge weitgehend aus – ein Problem, das in bildungshistorischer Perspektive die Aussagekraft so zentraler Quellen wie Ego-Dokumente, normative Texte und pädagogische Diskurse auf den ersten Blick in Frage stellt. Wenn aber die historischen Akteure – und damit auch die Quellen – nicht intentional über Beschaffenheit und Wirkung des Habitus Auskunft geben können, so müssen andere Interpretationswerkzeuge eingesetzt werden, die es erlauben, die in den Quellen nur latent vorhandenen Spuren des Habitus zu entziffern. Und hier lohnt sich ein Blick in die erziehungswissenschaftliche Forschungspraxis; nicht mit dem Ziel, konkrete Methoden zu übernehmen, sondern um sich davon inspirieren zu lassen, wie Forscher aus gänzlich anderen disziplinären Zusammenhängen versuchen, den Habitus erforschbar zu machen. Einen prominenten Platz nehmen hier Ansätze ein, „die den Blick vom inhaltlich-thematischen ‚Was‘ einer Handlung auf das stilistische ‚Wie‘“ lenken. Damit meinen Michel und Wittpoth die jeweils spezifische „Modalität“ (S. 84) von Praktiken, die als Ausdrucksform des Habitus gelesen wird. Um solche Modalitäten zu erheben, wurde der Diskussionsstil unterschiedlicher Gruppen dokumentiert, denen schwer verständliche Fotografien vorgelegt wurden. Derselben Perspektive zuzuordnen sind auch Anna Brake und Peter Büchner („Dem familialen Habitus auf der Spur. Bildungsstrategien in Mehrgenerationenfamilien“, S. 59-80), wenn sie es unternehmen, „die verborgene Handschrift des Habitus aus den Fotos herauszulesen“ (S. 74). Besagte Fotos waren in diesem Fall nicht vorgegeben, sondern von den Probanden unter bestimmten Aufgabenstellungen selbst produzierte Familienbilder, die von den Forschern aber nicht hinsichtlich ihrer Botschaften, sondern ihrer Machart ausgewertet werden. Geht es bei der Untersuchung von Stilen und Macharten vornehmlich um kognitive Prozesse, so weist Thomas Alkemeyer („Lernen und seine Körper. Habitusformungen und -umformungen in Bildungspraktiken“, S. 119-140) überzeugend auf eine weitere Dimension hin, die für die Untersuchung von Habitus wesentlich ist: die Körperlichkeit. Bildung sowie Lernen, die sich ja immer auch als Prozesse der Habitusformierung begreifen lassen, wären demnach jeweils „als ein Körperliches und Geistiges einbeziehender Komplex von Praktiken“ (S. 123) zu verstehen.

Diese Beiträge machen einerseits klar, dass eine Bildungsgeschichte, die sich die Anliegen einer reflexiven Erziehungswissenschaft zu eigen macht, vor Problemen stünde, da ihre traditionellen Quellen im Hinblick auf Prozesse der Habitusformierung neu befragt bzw. auf ihre Aussagefähigkeit hin überprüft werden müssten. Andererseits wird aber ebenso deutlich, dass diese Probleme nicht unlösbar sind, wenn man sich von der ausschließlichen Analyse pädagogischer Intentionen und Inhalte abwendet und bisher unterbelichtete Aspekte wie ‚Stil‘ oder ‚Körperlichkeit‘ als Ausdrucksformen des Habitus stärker in den Blick nimmt.

Wie die Herausgeber selber betonen, soll der Band erste Bausteine für eine zukünftige Erziehungswissenschaft reflexiven Typs bereitstellen, und daher kann es auch nicht überraschen, dass sich – um im Bild zu bleiben – die Steine (noch) nicht zu einem Gebäude fügen und sich darüber hinaus einige Baustücke finden, die eher grob gearbeitet sind. Aber angesichts der insgesamt überzeugenden Perspektiven ist zu wünschen, dass der hier vorliegende Sammelband in der Historischen Bildungsforschung eine intensive Rezeption erfahren wird.

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